Staatstreu mit Stoff?

Wie das Lehrerinnenkopftuch die Gesellschaft spaltet

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Kopftuchverbot wird kontrovers diskutiert. Die Debatte wird mitunter getragen von Ängsten. Aber sind diese auch begründet oder reden wir uns nur etwas ein? Von Jasamin Ulfat

Im Jahr 2006 habe ich im Rahmen eines Universitätsprojekts an einer Hauptschule im Ruhrgebiet unterrichtet. Die Lerngruppe bestand zum überwiegenden Teil aus Schülern mit Migrationshintergrund, die meisten von ihnen waren Muslime. Positiv überrascht waren sie wegen meines Kopftuchs, verblüfft vernahmen sie, dass ich trotz meiner Hautfarbe und Religionszugehörigkeit an einer deutschen Universität studieren darf – ein Fakt, der bisher erschreckenderweise nicht zu ihnen vorgedrungen war.

Bereits nach wenigen Wochen kam eine meiner jüngsten Schülerinnen auf mich zu und erklärte, sie wolle – so wie ich – ab kommendem Montag ein Kopftuch tragen. Der Stolz in ihrer Stimme überzeugte mich nicht. Ich beglückwünschte sie zuerst dafür, dass sie den Mut hat, ihr Leben so zu gestalten, wie sie es für richtig hielt. Dann hakte ich nach und fand schnell heraus, dass es bei ihr zuhause zwar keinen Zwang zum Kopftuch, wohl aber ein starkes Drängen in diese Richtung gab. Wir redeten. Ich erklärte ihr, dass das Tragen eines Kopftuchs viel Kraft kostet und dass man auch ohne Kopftuch eine gute Muslimin, vielmehr: ein guter Mensch sein könne. Ich erklärte ihr, dass nur sie allein die Entscheidung darüber treffen dürfe, wie sie sich kleidet. Sie versprach mir, noch einmal intensiv darüber nachzudenken. In der nächsten Woche erschien sie weiterhin unverhüllt, und lächelte mir verschwörerisch zu.

___STEADY_PAYWALL___

Ich gebe also den Kritikern gerne Recht: eine Lehrerin mit Kopftuch kann ihre Schülerinnen und Schüler beeinflussen. So wie jeder andere Lehrer auch, so wie jeder Mensch ständig seine Umwelt beeinflusst und von dieser beeinflusst wird. Das Bundesverfassungsgericht hat mit dem Urteil zum Kopftuch im Lehrberuf eine wichtige Aussage getroffen: relevant ist nicht, dass eine Beeinflussung stattfindet, sondern wie diese aussieht. Wenn ich als Lehrerin Schüler manipuliere, ihnen meine Meinung aufzwinge, dann ist das falsch, ganz egal um welche Meinung es geht. Als Lehrerin habe ich die Aufgabe, meine Schüler im Sinne des Grundgesetzes zu erziehen, und das kann ich auch mit Kopftuch. In manchen Fällen ist das vielleicht sogar noch effektiver, gerade dann, wenn es um Auseinandersetzungen mit schwierigen Familien geht, in denen ein fundamentalistischer Islam treibende Kraft ist.

Diese Meinung ist jedoch nicht sehr populär, so wie auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts die Gesellschaft zu spalten scheint. Sehr deutlich kamen die gängigen Ängste besorgter Bürger im Interview des ZDF-Journalisten Claus Kleber mit der Grünen-Vorsitzenden Katrin Göring-Eckhardt zum Vorschein. Während Göring-Eckhardt die Vorzüge einer freien Gesellschaft gegen die Diskriminierungen, welche sie selbst in der DDR erfahren hatte, abwog, sprach Kleber unentwegt vom „Anblick einer Lehrerin mit Kopftuch“ den Kinder und Eltern jetzt „aushalten“ müssten, und dass ihr Recht „diesem Anblick nicht ausgesetzt zu sein“ nun vom Bundesverfassungsgericht abgewertet wurde. Damit zeigt Kleber wohl ungewollt den Kern des Konflikts: es geht hier nicht darum, muslimischen Schülerinnen aus der Unterdrückung zu helfen. Es geht um das Recht der Mehrheit, Minderheiten weiterhin in der Peripherie zu halten, sie in der Mitte der Gesellschaft nicht sichtbar werden zu lassen. Es geht darum, dass unsere Kinder deutsche Realitäten nicht als normal kennenlernen sollen. Die einen protestieren gegen den Anblick von homosexuellen Elternpaaren in Schulbüchern, die anderen stören sich an selbstbewussten jungen Frauen mit abweichendem religiösem Bekenntnis. Beides – angeblich – zum Schutz der Kinder.

Entgegen der Unkenrufe funktioniert aber der deutsche Rechtsstaat: Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, welche bereits im Jahr 2003 wesentlich ambivalenter ausfiel als Claus Kleber es darstellt,wenn er behauptet, dass es im Jahr 2015 seine eigene Rechtsprechung „auf den Kopf“ stellt, gewährleistet die sichtbare Vielfalt der Lebensformen.

Nicht sehr überraschend meldet sich auch Berlins kontroversester Bürgermeister, Heinz Buschkowsky zu Wort. Er bezeichnet das Urteil als „Katastrophe“, sieht gar den Kampf gegen religiösen Fundamentalismus bedroht. Dass eine Lehrerin mit Kopftuch ihren Einfluss auch zur Mäßigung nutzen kann, und im Fall salafistischer Propaganda und Rekrutierung durch ISIS auch nutzen muss, bedenkt er nicht.

Lehrer wird man in Deutschland nur nach langjährigem, anspruchsvollem Studium. Das anschließende Referendariat prüft die Lehramtsanwärter noch einmal auf Herz und Nieren. Wer seine fundamentalistische Agenda unbeschadet und unbemerkt durch eine solche Ausbildung tragen kann, der lässt sich auch durch ein Kopftuchverbot nicht vom Schuldienst abhalten. Wer manipulieren will, der findet Wege.

Die Allermeisten aber wollen das eben nicht. Extremisten aus dem links- und rechtsradikalen Lager werden spätestens bei Bekanntwerden ihrer politischen Meinung vom Schuldienst suspendiert. Bisher hat die Schulaufsichtsbehörde dabei gute Arbeit geleistet. Warum zweifeln wir erst dann am System, wenn die gleichen Mechanismen auf islamistische Extremisten angewandt werden sollen? Warum brauchen unsere Schulen einen besonderen Schutz, wenn es um Radikale geht, von denen es in Deutschland allein zahlenmäßig wesentlich weniger gibt, als aus dem rechts- und linksradikalen Lager? Selbst nach der Wiedervereinigung fanden sich Lehrerinnen und Lehrer, die im anerkannten Unrechtsstaat DDR in ihre Positionen kamen, weil sie dort als staatstreu galten, nicht unter dem gleichen Generalverdacht, dem sich Lehrerinnen mit Kopftuch bisher ausgesetzt sahen. Lehrerinnen und Lehrer aus der ehemaligen DDR durften ihren Beruf weiter ausüben. Frauen mit Kopftuch jedoch scheinen für einige Kritiker im Alleingang das gesamte westliche System aus dem Gleichgewicht zu bringen.

Die Gleichung „Kopftuch bedeutet konservativer Fundamentalismus“ geht nicht auf. Lehrerinnen mit Kopftuch sind vor allem eins: studierte Frauen, die sich durch Talent und Fleiß bewiesen haben. Sie zeigen ihren Schülerinnen und Schülern, dass es in Deutschland möglich ist, auch als Teil einer sichtbaren Minderheit seinen Weg zu gehen. Islamistische Randgruppen und Sekten hingegen kapern junge Menschen gerade mit der Behauptung, dass die Mehrheitsgesellschaft sie niemals akzeptieren würde, dass eine Abkehr von Karrierewünschen und Integration der einzige Lebensweg sei. Eine Lehrerin mit Kopftuch beweist allein durch ihre Existenz bereits das Gegenteil und straft die Propaganda islamistischer Sekten durch ihren beruflichen Erfolg Lügen.

Am Ende seines Interviews stellt Claus Kleber die Frage, ob man nicht erwarten müsse, dass „man sich mit […] Eigenheiten des Gastlandes oder des Landes in das man ausgewandert ist, zurecht findet und das einfach akzeptiert.“ Verbeamtete, ausgebildete Lehrer unterrichten aber nicht in ihrem „Gastland“, sondern in ihrer Heimat. Wer freiwillig einen Eid auf die Verfassung schwört, der ist stolz auf diese Verfassung, der identifiziert sich gerne mit Deutschland und dem Grundgesetz. Frauen können ihre Haare verhüllen und gleichzeitig Demokratinnen sein – das schließt sich nicht aus. Die allermeisten von ihnen haben selbst deutsche Schulen besucht, mussten den „Anblick“ unverhüllter Frauen – um es mit Claus Kleber zu sagen – „aushalten“, ohne dass sie selbst später das Kopftuch ablegten. Das Leben in einer pluralen Gesellschaft bedeutet genau das: andere Lebensweisen sehen, tolerieren, verstehen – und trotzdem die Fähigkeit besitzen, den eigenen Weg zu gehen.

Meine Lieblingslehrerin in der Grundschule trug als bekennende Christin ein Kreuz um den Hals. Sie hat mir Lesen, Schreiben und Rechnen beigebracht und die Liebe zur Literatur geweckt. Ein Kreuz habe ich jedoch bis heute nicht getragen. Vielleicht sollten wir anfangen, nicht nur den Frauen mit Kopftuch mehr zuzutrauen, sondern auch unseren Kindern, die den Pluralismus viel ungezwungener leben und sich darin eigentlich ganz wohl fühlen. Denn in der ganzen Diskussion um das Kopftuch an deutschen Schulen hat man eine wichtige Gruppe völlig vergessen: nämlich die Schülerinnen und Schüler selbst, die oftmals die ganze Aufregung um ein kleines Stück Stoff überhaupt nicht verstehen.