„Im Jahr 2030 wird jeder vierte in Deutschland lebende ältere Mensch ein Migrant sein.“ Anlässlich solcher Zukunftsprognosen ist die Alterung von Menschen mit ausländischen Wurzeln zu einem hoch aktuellen Thema geworden. Im Fokus steht die einstige Gastarbeitergeneration, die in diesem Kontext zu einer der am stärksten wachsenden Bevölkerungsgruppen gehört und nicht nur herkunftsspezifische Besonderheiten mit sich bringt.
Der „Gastarbeiter“ galt als eine mobile, beliebig einsetzbare und kostengünstige Arbeitskraft. „Was gewünscht wurde, war eine Reservearmee von Arbeitskräften für die unbeliebten Arbeitsplätze, die bei konjunkturellen Einbrüchen ebenso schnell und geräuschlos wieder verschwand, wie sie gekommen war, die zu den deutschen Beschäftigten nicht in Konkurrenz stand und ihnen gegenüber sozial und wirtschaftlich untergeordnet war.“ Zu den unbeliebten Arbeitsplätzen zählen das Baugewerbe, die Eisen- und Metallindustrie, der Bergbau sowie andere Gewerbe- und Industriebranchen.
Die körperlichen und seelischen Lasten der Arbeiter wurden durch miserable Wohnverhältnisse verstärkt. „Sie müssen in Unterkünften leben – die man keinem Deutschen mehr zumuten würde – in sanierungsreifen Altbauten, in Abbruchgebäuden, ehemaligen Werkshallen, Garagen, zugigen Holzbaracken und feuchten Kellern, auf engstem Raum zusammengepfercht.“
Über ein längeres Verbleiben und die gesellschaftliche Integration der Gastarbeiter wurde nicht nachgedacht, auch weil Integration ein kostspieliges Unterfangen ist. „Der nicht integrierte, auf sehr niedrigem Lebensstandard vegetierte Gastarbeiter verursacht relativ geringe Kosten von vielleicht 30 000 DM. Bei Vollintegration muss jedoch eine Inanspruchnahme der Infrastruktur von 150 000 bis 200 000 DM je Arbeitnehmer angesetzt werden.“
Aber auch auf der Seite der Angeworbenen stand nicht das Interesse eines längeren Aufenthalts im Fokus. Sie wollten primär innerhalb kürzester Zeit möglichst viel Geld verdienen, um sich ein besseres Leben in der Heimat zu ermöglichen. Die befristete Aufenthaltsdauer und das Heimatland als sozialer und wirtschaftlicher Maßstab. Vor allem letzteres führte in der Einstellung der Gastarbeiter dazu, dass sie die Strapazen schweigsam erduldeten.
Trotz der Belastungen nahmen sie Sozialleistungen wie die Kranken-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung kaum in Anspruch. Zum einen wegen der für Ausländer komplizierten und undurchsichtigen deutschen Bürokratie. Zum anderen erschwerten die mangelnden Deutschkenntnisse den Zugang. Oftmals kamen Angst und Misstrauen gegenüber den Behörden hinzu, sodass Fristen versäumt und dementsprechend die Geltendmachung des Versicherungsschutzes entfiel.
Insbesondere die unzureichenden Deutschkenntnisse ziehen sich wie ein Roter Faden durch das Leben dieser Menschen und erschweren ihnen heute noch die Informationsbeschaffung zu Leistungen des Gesundheits- uns Sozialsystems. „Im Kontext der Arbeitsmigration wurde darauf hingewiesen, dass es keine Angebote zum Spracherwerb für ‚Gastarbeiter‘ gab und sowohl Arbeiter als auch Arbeitgeber die Arbeit vor dem Spracherwerb priorisierten. Die Chancen, im Alter die Fähigkeiten in der deutschen Sprache noch zu verbessern, werden insgesamt als nicht so groß eingeschätzt. Das bedeutet, dass viele Migranten sich das verbesserte Erlernen der deutschen Sprache im Alter nicht mehr zutrauen.“ Infolgedessen steht aktuell die altgewordene Gastarbeitergeneration vor dem Problem, ihre Bedürfnisse nicht formulieren sowie sich nicht eigenständig über gesundheitsbezogene Angebote informieren zu können. Sie sind stets auf die Hilfe der Familienangehörigen angewiesen.
Welche Schwierigkeiten im Alltag damit verbunden sind zeigt folgender Fall einer Türkin: „Aufgrund fehlender Deutschkenntnisse ist sie sehr einsam und hat keine deutschen Freunde. Ihre Tochter arbeitet, die Enkel sind in der Schule oder an der Universität. Wenn Probleme auftauchen, kann sie nicht mit Nachbarn darüber sprechen, denn diese sind Deutsche. Auch in der Nachbarschaft gibt es keine türkischen Frauen ihres Alters. Bei Arztbesuchen braucht sie ihre Tochter zum Übersetzen. Sie traut sich nicht, allein spazieren zu gehen; denn da sie krank ist, könnte sie im Notfall niemanden um Hilfe bitten.“ Was aber, wenn aus der hilfebedürftigen Türkin ein Pflegefall wird?
Schätzungen zu folge, gab es bereits 2009 in der Bundesrepublik knapp 2,3 Mio. pflegebedürftige Personen in der Gruppe der über 65-Jährigen von denen 192.000 einen Migrationshintergrund verfügten, Tendenz steigend. Wie können also pflegebedürftige Migranten in ihrer Wahlheimat Deutschland umsorgt werden? Die derzeitige Schwierigkeit ist, dass die Pflege alter Menschen mit Migrationshintergrund noch nicht im Bewusstsein der Altenhilfe, des Gesundheitswesen und der Migrantenfamilien angekommen ist. Fehlende Erfahrungen mit älteren Migranten in der Altenhilfe und die Unkenntnis über deren alltägliche Lebenssituation erschweren den Umgang mit diesem Klientel im Berufsalltag. „Informationsdefizite, Vorurteile, ethnozentrische Haltungen und mangelnde Ausbildung im Umgang mit seelischen und sozialen Krankheitsgründen prägen oft das Bild der Arzt-Patienten-Interaktion oder den Umgang der Pflegekräfte mit ausländischen Patienten.“ Wie soll aber das hiesige Pflegesystem auf die Wünsche von Migranten eingehen, wenn es sie nicht einmal kennt?
Selbst eine theoretische Auseinandersetzung ist kaum möglich. Rechtliche Restriktionen verhindern die statistische Erfassung von Pflegebedürftigen mit Migrationshintergrund und die Inanspruchnahme von Pflegediensten. Zudem behindert Unkenntnis über die Lebenswelt von älteren Migranten eine Annäherung – sozioökonomische Daten sowie Angaben über das Freizeit,- Mobilitäts- oder Organisationsverhalten von älteren Migranten müssen größtenteils noch erhoben werden.
Dennoch gibt es Pflegeinstitutionen, die Erfahrungswerte aufweisen. Sie sprechen über Probleme unter anderem bei der Kommunikation, der Organisation und der Versorgung von pflegebedürftigen Migranten. Ein weiterer Problempunkt ist die Intoleranz. Sie ist hauptsächlich auf der Seite der deutschen Heimbewohner der (Nach-)Kriegsgeneration beobachtbar. Das ablehnende Verhalten gegenüber Migranten kann zur verstärkten Isolation dieser Bewohnerschaft führen, indem es Ängste und Unsicherheiten, die in der Vergangenheit erfahren wurden, wieder aufblühen lässt. Hinzu kommt die mangelnde Nachfrage seitens pflegebedürftiger Migranten speziell nach Angeboten im stationären Bereich. Zeitgleich betonen die Pflegehäuser die Entwicklungspotentiale, die in erster Linie in der Erschließung von neuen Kundenkreisen liegen.
Wie kulturbasierende Pflege aussehen kann, demonstrieren beispielhaft Pflegeeinrichtungen im multiethnischen Hamburger Stadtteil Billstedt. Zu ihrem Angebotspaket gehören die gleichgeschlechtliche Pflege, die Bereitstellung von Gebetsräumen, die Einstellung von muttersprachigem Pflegepersonal und die Zubereitung landestypischer Speisen. Darüber hinaus streben sie eine Angebotserweiterung an, da im Zuge der anhaltenden Migrationsströme immer mehr Kunden aus dem Nahmen und Mittleren Osten sowie Afrika zum Vorschein kommen. Man rüstet auf, um beim anhaltenden Konkurrenzdruck in der Pflegelandschaft standhaft zu bleiben mit dem Ziel einer langfristigen Wettbewerbsfähigkeit.
So wie diese Pflegehäuser die Bereitschaft zur interkulturellen Öffnung signalisieren, so müssen auch Migrantenfamilien lernen, einen ersten Schritt auf Angebote des Pflegesystems zu machen. Gerade, weil sie aufgrund der eigenen Lebensumstände keine 24-stündige innerfamiliäre Betreuung gewährleisten können, wie es in der Heimat im Kreise großer Familien möglich war. Nicht anders kennen es vor allem die Pflegebedürftigen selbst. Sie halten an diesem Familien-Konzept fest, da ihnen die staatlich organisierte Pflege unbekannt ist. Entsprechend müssen sie gemeinsam mit ihren Familienangehörigen über pflegerische Versorgungsmöglichkeiten hierzulande aufgeklärt werden.
Hinweis: Dieser Beitrag beruht auf der Master-Thesis der Autorin „Transkulturelle Pflege – Exemplarische Untersuchung der Angebotsstruktur für Migranten in Hamburg Billstedt“ an der HafenCity Universität Hamburg (HCU).
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