Flüchtlingspolitik nach Lampedusa (2/2)

Die verlogenen Diskurse von Politik und Presse

Erneut zeigen sich Deutschland und Europa schockiert über den Tod weiterer Flüchtlinge vor Lampedusa. Doch wie glaubwürdig ist unsere Anteilnahme? Sind Flüchtlinge nicht notwendige Folge unseres eigenen Tuns? Ein Zweiteiler von Prof. Schiffer-Nasserie

Teil 1 dieses Beitrags von Prof. Dr. Arian Schiffer-Nasserie „Die Toten an den EU-Außengrenzen sind unvermeidlich“ lesen Sie hier.

Die steigenden Flüchtlingszahlen sind also ein Resultat der außenpolitischen Durchsetzung des Wachstumsprogramms für den Standort Deutschland. Weil die Flüchtlinge und ihr massenhafter Tod ebenso unerwünscht wie unvermeidlich sind, wird ihr Leid in der politischen Öffentlichkeit

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Bereits diese verlogenen Diskurse von Politik und Presse werfen ein Licht darauf, dass die erste und die vierte Gewalt offenbar ein Bewusstsein davon haben, dass es für die Staatsräson der Bundesrepublik keine grundlegende Alternative im Umgang mit Flüchtlingen gibt. Anhand von drei Beispielen, nämlich anhand der öffentlichen Stellungnahmen von Politik, Presse und Pro Asyl soll dieser Diskurs nun näher betrachtet werden.

„Scham und Trauer“ – die Selbstinszenierung der Macht
Konfrontiert mit der öffentlichen Empörung nach dem hundertfachen Tod der Flüchtlinge vor Lampedusa am 3. Oktober 2013 betreibt Bundespräsident Gauck am Folgetag anlässlich der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes zum Tag der Deutschen Einheit im Schloss Bellevue eine gekonnte Selbstanklage, bei der er – immerhin gelernter Pfarrer – mit der größten Selbstverständlichkeit alle seine Bürger – ob arm ob reich, ob mächtig oder ohnmächtig – geradezu gleichmacherisch mitverantwortlich macht: „Leben zu schützen und Flüchtlingen Gehör zu gewähren, sind wesentliche Grundlagen unserer Rechts- und Werteordnung. Zuflucht Suchende sind Menschen – und die gestrige Tragödie zeigt das – besonders verletzliche Menschen. Sie bedürfen des Schutzes. Wegzuschauen und sie hineinsegeln zu lassen in einen vorhersehbaren Tod, das missachtet unsere europäischen Werte.“

Damit gibt der Bundespräsident das Muster der öffentlichen Befassung vor. Gemäß der selbst formulierten Anklage lautet der Vorwurf auf unterlassene Hilfeleistung bei der Rettung der Flüchtlinge. Bereits durch diese Anklage ist die Bundesrepublik von jeglicher ursächlichen Verantwortung sowohl für die Not der Flüchtlinge in ihren Heimatländern als auch für die tödlichen Konsequenzen ihrer Flucht frei gesprochen. Überhaupt bezichtigt der oberste Repräsentant der Bundesrepublik Deutschland keineswegs den Staat, dem er vorsteht, sondern großzügig seine Ehrengäste in ihrer Rolle als Rechts- und Wertegemeinschaft. Die angesprochenen Werte sind zwar nicht weiter erläuterungsbedürftig und ohnehin über jeden Zweifel erhabenen, erleiden aber ausgerechnet am Nationalfeiertag durch den massenhaften Tod vor Lampedusa einen Imageschaden, so dass ein wenig Scham, Trauer und Betroffenheit dem zur moralischen Gemeinschaft verklärten Staatswesen gar nicht schlecht zu Gesicht steht. Das sieht auch der parteivorsitzende Sozialdemokrat Gabriel so und lässt in Bild am Sonntag wissen, um wen er sich Sorgen macht: „Was auf Lampedusa passiert, ist eine große Schande für die Europäische Union.“ (zitiert nach SZ vom 5.10.2013) Nachdem die Stirn den Erfordernissen entsprechend ein paar Momente in dunklen Sorgenfalten verharrt, kann der eingangs zitierte Präsident am Ende derselben Rede übrigens auch schon wieder frohlocken: „Ich weiß schon jetzt, dass ich mich im nächsten Jahr um diese Zeit mit einem Lächeln an diesen Tag erinnern werde.“

Ebenso realpolitisch wie hochideologisch greift der damalige Innenminister Friederich (CSU) den Vorwurf der unterlassenen Hilfeleistung auf und erteilt sich selbst, seinem Ministerium und seinen Beamten den einzig systemgemäßen Auftrag für einen verbesserten Flüchtlingsschutz: „Fest steht, dass wir noch stärker die Netzwerke organisierter und ausbeuterischer Schleusungskriminalität bekämpfen müssen.“ (SZ 5.10.2013) Dies freilich, ohne deren Geschäftsgrundlage, immerhin die eigene Flüchtlingspolitik, auch nur in Betracht, geschweige denn in Zweifel zu ziehen, so dass sich die nächsten Toten auch schon am Folgetag einstellen.

Ganz ähnlich melden sich die meisten Politiker in Deutschland und der EU zu Wort. Ihren Streit über die Dublin II- bzw. Dublin III-Verordnung, also über die Lastenverteilung bei der Flüchtlingsabwehr, die Internierung der Flüchtlinge in meist privatisierten Lagern, über Prozessdurchführung und Abschiebung inszenieren sie unter Berufung auf die Katastrophe auf einem Innenministergipfel im Oktober 2013 in Brüssel als Lehren aus den schrecklichen Ereignissen von Lampedusa. Am Ende der Konferenz bleibt alles beim Alten. Deutschland setzt sich gegen Italien, Spanien und Griechenland durch, die auch weiterhin als Erstaufnahmeländer größtenteils die Flüchtlingsabwehr im Interesse Deutschlands zu bewältigen haben. Ganz nebenbei gelingt den versammelten Demokraten unter Mithilfe der meisten Leitmedien dabei die Umdefinition vom tödlichen Problem der Flüchtlinge zum Flüchtlingsproblem der EU! So weit, so brutal, so konsequent…

Entgegen der geheuchelten Warnung etwa der ehemaligen Ausländerbeauftragen der Bundesregierung Maria Böhmer (CDU), das Mittelmeer dürfe kein Massengrab werden, beginnt Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung vom 7.10. den Kommentar „Das Boot ist leer“ mit einer bewussten Entgegensetzung:

Das Mittelmeer ist (!) ein Massengrab. Die toten Flüchtlinge sind Opfer unterlassener Hilfeleistung; womöglich handelt es sich auch um Tötung durch Unterlassen. Sie sind jedenfalls Opfer der europäischen Flüchtlingspolitik, der Politik des Friedensnobelpreisträgers von 2012, der Europäischen Union. In dieser Politik hat die Abwehr von Menschen Vorrang vor der Rettung von Menschen. (…) Hilfe gilt als Fluchtanreiz. Deshalb ist sie verboten, deshalb wird sie bestraft, deshalb nimmt die EU-Politik den Tod der Flüchtlinge fatalistisch hin. (…)Die Tränen, die nun angesichts des Massentodes vor Lampedusa zerdrückt werden, sind Krokodilstränen; und die Reden dieser Politiker sind Krokodilsreden. Der Tod der Flüchtlinge ist Teil der EU-Flüchtlingspolitik. Er gehört zur Abschreckungsstrategie, die der Hauptinhalt dieser Politik ist.“ (Herv. d. Verf.)

Prantl beschönigt nichts und er differenziert. An Stelle einer pauschalisierenden Kollektivverurteilung nach dem Motto „Wir alle“ nennt er das entscheidende Subjekt beim Namen: Die EU-Politik und ihre karrierebewussten Vertreter! Prantl kennt die Prioritäten der Flüchtlingspolitik und sogar ihren Zweck, wenn er festhält: „In dieser Politik hat die Abwehr von Menschen Vorrang vor der Rettung von Menschen. (…) Der Tod der Flüchtlinge ist Teil der EU-Flüchtlingspolitik. Er gehört zur Abschreckungsstrategie, die der Hauptinhalt dieser Politik ist.“ Schließlich ist auch die Schlussfolgerung aus seiner Anklage am Ende des zitierten Kommentars durchaus beachtlich: „In einem Flugblatt der Weißen Rose hieß es einst: ‚Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den Ihr um Euer Herz gelegt.’ Diese Sätze aus furchtbarer Zeit sind keine Sätze nur für das Museum des Widerstandes, sie haben ihre eigene Bedeutung in jeder Zeit – auch in unserer!

Dennoch ist sein Hauptvorwurf verkehrt. Denn der Vorwurf der „unterlassenen Hilfeleistung“ der Festung Europa geht nicht nur bei Gauck brutal an der Sache vorbei. Die EU tut nicht zu wenig beim Flüchtlingsschutz. Die EU produziert die Flüchtlinge. Kein Wunder und überhaupt kein Widerspruch ist es daher zu ihrem Auftrag, wenn sie die Opfer ihrer eigenen Erfolgsstrategie nicht haben will! Im Gegenteil: Die Öffnung der Grenzen für die unendlich vielen Verzweifelten, die der Westen von den Philippinen bis Haiti von Afghanistan bis Mali durch seinen Erfolg global erst in Not bringt, stünde tatsächlich im Widerspruch zum Erfolg dieser Staaten und ihren realen Höchstwerten – Dollar und Euro.

„Grenzen auf für alle!“ – Exkurs zur Kritik der radikalen Flüchtlingsfreunde
Wollen die wenigen ernsthaften Kritiker dieses tödlichen Programms wirklich bei der ebenso bornierten wie unrealistischen Forderung stehen bleiben, dass die Staaten, die dieses globale Elend samt lokaler Flüchtlingspolitik zu verantworten haben, ausgerechnet ihre Grenzen für jene öffnen sollen, mit denen Staat und Kapital schon in ihrer Heimat nichts anzufangen wissen? Wollen sie ihre Kritik nicht auf die Ursachen der Not und deren Verursacher richten, sondern die Täter erst fälschlich zu Rettern verklären, um diese schließlich wegen unterlassener Hilfeleistung moralisch anzuklagen?

Und wäre es – einmal davon abgesehen, dass die europäischen Regierungen solche Forderungen aus den genannten Gründen ablehnen müssen – überhaupt sinnvoll und wünschenswert, alle Opfer der globalen Weltordnung die Chance zu eröffnen, mit den bereits ortsansässigen Armen um eine Wohnung im segensreichen Moloch deutscher, französischer oder britischer Slums zu konkurrieren, darum zu streiten, wer dort die Klos von McDonalds oder die Flure deutscher Ämter und Behörden putzen darf oder sich mit iberischen Arbeitslosen darum zu schlagen, wer auf den Plantagen spanischer Agrarkonzerne die Chance bekommt, Pestizide zu inhalieren? Wohl eher nicht…

PRO ASYL fordert einen völligen Neubeginn in der Flüchtlingspolitik Europas. Die Abschottungspolitik der beiden letzten Dekaden ist gescheitert. Der tausendfache Tod von Flüchtlingen an den Außengrenzen Europas bedeutet den moralischen
Bankrott der Flüchtlings – und Menschenrechtspolitik der EU
“ (Presseerklärung Pro Asyl 4.10. 2013)

Pro Asyl spricht angesichts der Toten vor Lampedusa in seiner Presseerklärung vom Scheitern der europäischen Flüchtlingspolitik. Dabei ist – zumindest nüchtern betrachtet – offensichtlich nicht die Flüchtlingspolitik der EU, sondern das Leben der Flüchtlinge an der durchaus wirkungsvollen Politik gescheitert. Wie kommt es zu dieser – zunächst einmal „nur“ sachlich verkehrten – Kritik?

Menschenrechts- und Hilfsorganisationen stellen sich offenbar vor, Flüchtlingspolitik habe eigentlich (!) dem Schutz für Flüchtlinge und nicht dem Schutz vor Flüchtlingen zu dienen. Über Asyl- und Menschenrechte werden also Ideale, d.h. Wunschvorstellungen entwickelt und es wird erwartet, dass der real existierende Staat diese zu verwirklichen habe. 1 Die gegenteilige Erfahrung in der Wirklichkeit, die tödliche Abschottungspolitik – Pro Asyl verschließt nicht die Augen vor der Wirklichkeit und macht die bundesdeutsche Öffentlichkeit beharrlich und durchaus dankenswert darauf aufmerksam – wird nicht als wörtliche und durchaus erfreuliche Ent-Täuschung über die eigenen Ideale genommen, sondern moralisch enttäuscht zur Kenntnis genommen, ganz nach dem Motto: ‚Der Staat wird Aufgaben, die er selbst zwar gar nicht verfolgt, aber an die ich, d.h. Pro Asyl, gerne glaube, gar nicht gerecht! Er entspricht nicht meinen höheren Idealen über ihn.’

Bei aller Kritik an der politischen Wirklichkeit lässt man sich den guten Glauben an die segensreichen Aufgaben der politischen Gewalt, der man unterworfen ist, nicht nehmen. Heraus kommt eine Kritik, die als Hass-Liebe bezeichnet werden kann. Bei aller Kritik an den real existierenden Politikern bleibt man unerschütterlicher Parteigänger jenes Staates, dessen Interessen die Politiker vertreten.

Um das an einem zweiten Beispiel zu verdeutlichen: Auch Pro Asyl wirft dem deutschen Innenminister „Verantwortungslosigkeit“ vor, wenn dieser mit all seiner Macht in der EU für Dublin II und III und eine verschärfte Flüchtlingspolitik eintritt. Wie dies? – möchte man fragen, wo doch ganz offensichtlich ist, dass der Minister bewusst und öffentlich für seine Ziele eintritt? Offenbar will man sich die Macht demokratischer Politiker nicht als Macht über das Leben anderer (in diesem Fall der Flüchtlinge) vorstellen, sondern als Verantwortung für die Untergebenen. Auch hier wird die gegenteilige Erfahrung nicht zum Anlass zunächst einer Selbstkritik, die eigene Idealisierung der Macht betreffend, genommen, sondern im Gegenteil der Macht vorgeworfen, dass sie einmal mehr nicht so gut war, wie man an sie zu glauben bereit ist.

Bei den charakterisierten Denkmustern handelt es sich um Fälle eines enttäuschten Staatsidealismus. Der ist und bleibt bei aller Enttäuschung ein Idealismus. Ein Wunschdenken, die eigene Staatsgewalt und ihre menschenrechtlichen Prinzipien betreffend. Die Folge ist der folgenlose und gerade darin staatstragende Ruf nach guten Gesetzen, verantwortungsvollen Politikern, unverbrauchten Parteien. Und genau das ist das Material, mit dem immer neue, unverbrauchte Politikergenerationen ihre Konkurrenz um die Macht im kapitalistischen Nationalstaat betreiben und bei ihren potentiellen Wählern geschickt den Idealismus der Verantwortung gegen den Realismus der Macht ausspielen…

Statt eines Fazits

Ein Mann, der etwas davon versteht, predigt seinen Bundesschäfchen öffentlich-rechtlich zu Weihnachten: „Machen wir unser Herz nicht eng mit der Feststellung, dass wir (!) nicht jeden (!), der kommt, in unserem Land aufnehmen können. Ich weiß ja, dass dieser Satz sehr, sehr (!) richtig ist. Aber zu einer Wahrheit (!) wird er doch erst, wenn wir zuvor unser Herz gefragt haben, was es uns sagt, wenn wir die Bilder der Verletzten und Verjagten gesehen haben. Tun wir wirklich schon alles, was wir tun könnten?“ (Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten 2013; Hervorhebung d. Verf.)

Der betroffene Blick auf die „Verletzten und Verjagten“, die natürlich mit der eigenen Politik nichts zu tun haben; die gekonnt beklommene Frage, ob „wir“ auch genug helfen – sie gehören einfach dazu. Nämlich zur Pflege des Glaubens an die höheren Werte und des guten Gewissens einer imperialistischen Nation.

Teil 1 dieses Beitrags von Prof. Dr. Arian Schiffer-Nasserie „Die Toten an den EU-Außengrenzen sind unvermeidlich“ lesen Sie hier.

  1. Dabei könnte schon Art. 16 GG Absatz 1„Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ hellhörig machen, stellt er doch klar, dass der Gesetzgeber nicht die Not der Flüchtenden, sondern nur den von ihm zu definierenden Tatbestand der politischen Verfolgung durch auswärtige, meist von ihm als feindlich eingestufte Souveräne zum Anlass für eine Asylrechtsgewährung nimmt. Vom Standpunkt des Überlebenswillens der Flüchtenden jedenfalls wäre die sachlich ohnehin kaum haltbare Unterscheidung zwischen politischen und wirtschaftlichen Fluchtgründen gänzlich unerheblich. Dass die Inschutznahme von politisch Verfolgten weniger der Sorge um deren Wohlergehen als vielmehr der damit intendierten Verurteilung der Verfolgerstaaten geschuldet ist, ist denn auch jedermann sofort klar, wenn sich andere, möglicherweise sogar feindliche Staaten wie z.B. Russland im Falle Edward Snowdens dieses außenpolitischen Kampfmittels bedienen. (Vgl. dazu A. Krölls „Das Grundgesetz – ein Grund zum Feieren?“ Hamburg 2009)