Wirtschaftsflüchtlinge

Ein bedingungsloses Ja zu den christlich-abendländischen Werten

Ok-Hee Jeong und ihre zwei Geschwister waren drei, fünf und acht Jahre als ihre Eltern sie in Korea ließen und nach Deutschland zogen. Das war in den 70ern. Heute würde man sie als Wirtschaftsflüchtlinge bezeichnen und nicht haben wollen.

Als meine Eltern uns, ihre drei Kinder, verließen, waren wir gerade mal drei, fünf und acht Jahre alt. Sie verließen uns, weil sie uns liebten.

Südkorea war nach jahrzehntelanger japanischer Kolonialherrschaft und durch den Koreakrieg in Schutt und Asche gelegt, und in den siebziger Jahren gehörte Südkorea zu den ärmsten Ländern der Welt. Meine Eltern hatten gerade mal die High-School abschließen können. Studieren war nicht möglich, weil kein Geld dafür vorhanden war. Schulbildung war Luxus. Es ging nur ums Überleben. Es waren entbehrungsvolle Tage, es waren Tage ohne Hoffnung auf die Zukunft. Gott sei Dank gab es aber ein Anwerbeabkommen zwischen Südkorea und der damaligen BRD; die Möglichkeit als Gastarbeiter nach Deutschland zu gehen, war eine ungeahnte Möglichkeit für meine Eltern und ihre Großfamilie. Zuerst flog mein Vater nach Deutschland. Halbes Jahr später folgte ihm meine Mutter. Mein Vater sagte zum Abschied: „Ich werde mit viel Geld nach Hause zurückkommen.“ Meine Mutter sagte zum Abschied: „Ich werde ganz bald zurückkommen.“

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Ganz bald. Wie viele Tage bedeuteten „ganz bald“ für meine dreijährigen und achtjährigen Brüder? Wie viele Tage kannte ich wohl mit meinen fünf Jahren? Vielleicht habe ich damals die Nächte an meinen kleinen zehn Fingern abgezählt. Ein Finger für eine Nacht, ein zweiter Finger für eine weitere Nacht, dann noch ein weiterer Finger, noch ein weiterer Finger …

Die zehn Finger abzuzählen muss für mich bestimmt wie eine Ewigkeit angefühlt haben. Aber meine Eltern kamen auch nach dieser Ewigkeit nicht wieder. Nicht nach zehnmal schlafen, nicht nach hundertmal schlafen, nicht nachdem der Winter vorbei war und der Frühling kam; auch dann nicht, als nach den langen Monaten wieder der kalte Winter zurückkam; sie kamen auch dann nicht, als es wieder tonlos Frühling wurde, der schwüle, zähe Sommer sich langsam in den Herbst windete und als dieser Herbst, der in meinen Augen keine Farben mehr trug, wieder nur stumm in den kalten Winter mündete.

Als ich Mutter eines Kindes wurde, fragte ich mich, wie es meiner Mutter damals ergangen sein muss, sich von ihren kleinen Kindern zu trennen. Ich erahne es. Es muss ihr das Herz zerrissen haben. Denn genau das spüre ich an meinem eigenen Mutterherzen.

Als ich im Jahre 2011 der Einladung des Thüringer Ministeriums für Soziales, Familie und Gesundheit folgte, während der Interkulturellen Wochen mein Theaterstück aufzuführen und Lesungen mit meinen Kurzgeschichten zum Thema Migration zu halten, weilte ich für einige Tage in Erfurt und Ilmenau, war in Jena und Gera, und besuchte dazu noch die abgelegenen kleinen Ortschaften in Thüringen, an deren Namen ich mich leider nicht mehr erinnern kann.

Tief in Thüringen einzutauchen, in den kleinen Dörfern und Städten zu gelangen, war für mich, die aus dem Westen kam, spannend. Die Menschen, denen ich begegnete, waren freundlich. Aber die Orte fühlten sich für mich nicht heimisch an. Es war ein anderes Deutschland, als das ich vom Westdeutschland kannte. Es fühlte sich seltsam anders an. Vielleicht lag es daran, dass überall eine gewisse Mutlosigkeit und Hoffnungslosigkeit und Perspektivlosigkeit zu spüren war. Überall, wo ich ankam, war es mehr als augenscheinlich, dass es sehr viele hoch betagte Menschen gab, aber wenig junge Menschen. Die Binnenwanderung von Ost nach West, die nach der Wende unaufhörlich stattgefunden hatte, zeigte dort deutlich ihre Folgen. Zurückgeblieben schienen nur die Menschen, die nicht wegziehen konnten oder nicht die Möglichkeit hatten, wegzuziehen, oder einfach Glück gehabt hatten, dort bleiben zu dürfen, weil sie einen Arbeitsplatz hatten. Die Menschen, denen ich in diesen Tagen begegnete, klagten darüber, dass die ganze Wirtschaft dort nach der Wende ausgenommen und zerstört worden sei. Ich spürte ihre Wut und ihre Verbitterung und ihre Ohnmacht.

Ich erinnere mich an eine abendliche Lesung in einer Kleinstadt. Hoch betagte Menschen trudelten in die städtische Bibliothek ein, legten ihre Jacken ab und nach einem kleinen Plausch mit ihren Bekannten, machten sie sich auf den Holzstühlen zurecht und lauschten meinen Kurzgeschichten. Sie hörten aufmerksam und höflich zu, lachten an den lustigen Stellen und blickten betroffen bei den traurigen Stellen, während ich meine Kurzgeschichten vorlas, die von Migration handelten und natürlich auch von der Geschichte über die Trennung von meinen Eltern erzählten, als ich ein kleines Kind war.

Nach der Lesung folgte das Gespräch mit dem Publikum. An jenem Abend fühlten die alten Menschen und ich uns wohl sehr nah. Obwohl wir uns nicht kannten. Obwohl wir scheinbar aus unterschiedlichen Welten kamen. Ich erzählte von meiner Migrationserfahrung; sie erzählten von ihren Geschichten; sie erzählten von der Auswanderung ihrer Kinder und ihrer Verwandtschaft und Nachbarn. Auswanderung nach Westdeutschland oder gar ganz ins Ausland. Denn zu Hause gab es keine Arbeit. Keine Zukunftsperspektive. Sie nickten wissend und sagten wehmütig: „Wer will denn schon gern freiwillig seine Heimat verlassen?“

René, ein Studienfreund aus den neune Bundesländern, erzählt über den Stellenwert der Familie in der DDR: „Zur DDR-Zeit war für uns immer die Familie das allerwichtigste gewesen. Allen anderen konnte man ja nicht trauen. Ich erkläre mir damit den starken Familienzusammenhalt bei uns zu Hause.“

Jak (Name geändert), ein Freund aus Gambia, bedeutet seine Familie ebenfalls alles. Daher lebt er schon seit mehreren Jahren in Deutschland. Die Pegida-Anhänger würden ihn einen Wirtschaftsflüchtling bezeichnen. Nicht religiöse und politische Verfolgung trieb ihn von seiner Heimat weg, sondern Armut und Perspektivlosigkeit. Hier in Deutschland lebt er immer wechselnd zwischen Hartz IV und den Jobs als Küchenhilfe.

Die Augen des sonst so stolzen Mannes sind stets melancholisch. Er vermisst seine Heimat. Vielleicht vermisst er auch das Leben, das er trotz Armut als geachteter Mann leben konnte in seinem Dorf. Hier in Deutschland ist er auf der untersten Stufe des Prekariats und der deutschen Gesellschaft. Aber dennoch möchte er in Deutschland bleiben. Denn er ist der Älteste seiner Großfamilie. Er ist verantwortlich für sie. Und es macht ihn wahnsinnig, dass er ihnen nicht so helfen kann, wie er es gern täte. Bei allen Telefonaten, die sie führen, bitten sie ihn um Geld. Für Nahrungsmittel. Für Elektrizität. Für Medizin. Für Arztbesuch. Für Schulbesuch. Alles kostet Geld. Geld, was sie dort nicht haben. Geld, was er hier nicht hat. Es macht ihn wahnsinnig, dass er ihnen nicht so helfen kann, wie er es gern täte. Er kann sich ja kaum selber helfen in diesem Land. Aber wieder zurückkehren in seine Heimat? Dort hat er noch weniger Perspektive als hier. Seine deutsche Freundin Elke, die Humanistische Lebenskunde an einer Grundschule unterrichtet, versucht ihm zu helfen, so gut wie es geht, und versucht für Jaks Verwandtschaft Geld- und Kleidungsspenden über Freunde zu sammeln, nachdem sie Jaks Heimat besucht hat. Rund fünfzig Euro sind notwendig, damit ein Kind dort ein Jahr zur Schule gehen kann. Als Elke aus Gambia zurückkommt, ist sie erschüttert: „Wir beklagen uns, dass wir wenig Geld haben? Ok-Hee, du kannst gar nicht vorstellen, wie das Leben dort aussieht. Hier wissen wir doch gar nicht, was wirkliche Armut ist.“

Ja, wer will denn schon freiwillig sein Heimatland verlassen? Heimat ist der Ort, wo man seine Eltern hat, wo man seine Kinder hat, wo man seine Geschwister hat, wo man seine Freunde hat, wo man die Erinnerung der Kindheit einatmen kann. Wenn man nicht getrieben wäre von existenziellen Sorgen, wenn nicht der Krieg, politische oder religiöse Verfolgung oder Hunger oder Armut oder Perspektivlosigkeit einen wegtreiben würde aus der Heimat, wer wollte da freiwillig sein Zuhause verlassen? Aus freien Stücken sein Heimatland zu verlassen, mag Abenteuerlust und Freude und Gänsehaut bringen, aber sein Heimatland verlassen zu müssen, in die ungewisse Fremde gehen zu müssen, wo man nicht einmal die Sprache versteht und seine geliebten Menschen verlassen und zurücklassen zu müssen, – das muss einem das Herz zerreißen.

Auch die Pegida-Anhänger, die in Dresden für den Schutz des christlichen Abendlandes auf die Straßen gehen, müssen seit der Wende unmittelbar am eigenen Leib die Binnenmigration und Auswanderung ihrer Familien, Verwandten, Nachbarn und Freunden massiv erfahren haben. Vielleicht sind sie gerade diejenigen, die die Flüchtlinge, besonders die Wirtschaftsflüchtlinge aus anderen Ländern, mehr als gut verstehen könnten. Verstehen, welche mehr als berechtigten Gründe die Menschen aus der eigenen Heimat wegtreiben können. Dass man manchmal einfach keine andere Wahl hat, wenn man überleben möchte.

Ist es unser Verdienst und gottgegebenes Recht, dass wir in einem reichen Land wie Deutschland leben? Es ist leider nur einer banalen Laune des Schicksals geschuldet, dass wir in diesem reichen Land geboren wurden, und nicht in einem Gebiet, wo Hunger oder Krieg herrscht. Die christlichen Werte des Abendlandes schützen? Christlich-abendländische Werte wie Dankbarkeit in Demut über diesen glücklichen Zufall? Christlich-abendländische Werte wie die Nächstenliebe, wovon Jesus predigte?

„Und es trat zu ihm einer von den Schriftgelehrten, der ihnen zugehört hatte, wie sie miteinander stritten. Und als er sah, dass er ihnen gut geantwortet hatte, fragte er ihn: ‚Welches ist das höchste Gebot von allen?‚ Jesus antwortete ihm: ‚Das höchste Gebot ist das: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften.‚ Das andre ist dies: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Es ist kein anderes Gebot größer als diese.‚“ (Markus 12,28-31)

Demut und Nächstenliebe. Der Schutz dieser christlich-abendländischen Werte, das verlangt wahrhaftig ein bedingungsloses Ja.