Migration, Bildung und Ungleichheit

Welche europäischen Bildungssysteme bieten mehr Chancengleichheit?

Schüler mit Migrationshintergrund erbringen in Europa durchweg schlechtere Leistungen als einheimische Schüler. Die Unterschiede variieren jedoch von Land zu Land. Welches Schulsystem bietet nun relativ das höchste Maß an Chancengleichheit? Eine empirische Untersuchung.

Europa hat sich lange der Illusion hingegeben, Einwanderung sei nur ein vorübergehendes Phänomen. Gemäß dieser Vorstellung, die vor allem – aber nicht nur – in Kontinentaleuropa vorherrschte, waren Einwanderer „Gastarbeiter“, die für einen begrenzten Zeitraum zum Arbeiten ins Land kommen und danach in ihre Heimat und zu ihren Familien zurückkehren würden. Die Realität sah jedoch ganz anders aus: Die Einwanderer ließen sich nieder, versuchten ihre Familien nachzuholen und machten ihre sozialen und politischen Rechte geltend. Max Frisch hat es auf den Punkt gebracht: „Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen.“ Erst als diese Tatsache offenkundig wurde, begannen die europäischen Gesellschaften, ihre institutionellen Strukturen dieser neuen Realität anzupassen – ein Prozess, der bis heute andauert.

Die mangelnde Integration von Einwandererkindern wurde umstrittenes Thema der öffentlichen Diskussion, und viele Erwartungen richteten sich an das Bildungssystem. Bildung wird weithin als entscheidende Voraussetzung für gesellschaftlichen Aufstieg betrachtet, denn sie kann die zukünftigen Lebenschancen der zweiten Einwanderergeneration maßgeblich verbessern. Investitionen in die Bildung können außerdem indirekt die soziale und kulturelle Integration der Elterngeneration fördern.

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Aber Bildung ist ein zweischneidiges Schwert: Sie legitimiert auch die Reproduktion sozialer Ungleichheiten, da Kinder aus privilegierten Familien mit größerer Wahrscheinlichkeit Zugang zu höheren Bildungsgängen erhalten und diese auch erfolgreich abschließen.

Und genau hier hat Europa bislang weitgehend versagt: Die nationalen Bildungssysteme haben die Chance vertan, Migrantenkindern durch die Gewährleistung gleicher Bildungschancen den Aufstieg zu ermöglichen. Betrachtet man die Länge des Schulbesuchs, die Art der erworbenen Abschlüsse sowie die erworbenen Kompetenzen in Kernbereichen wie Mathematik, Leseverständnis und Naturwissenschaften, so schneiden Schüler mit Migrationshintergrund in allen westeuropäischen Ländern schlechter ab als ihre Altersgenossen ohne Migrationshintergrund. Sie haben auch ein höheres Risiko, die Schule abzubrechen, ein Schuljahr zu wiederholen oder in weniger angesehenen Bildungsgängen zu landen.

Es gibt jedoch Unterschiede, die darauf hindeuten, dass ein partieller und schrittweiser Integrationsprozess durchaus stattfindet: Im Gastland geborene Einwandererkinder (zweite Generation) erzielen oft bessere schulische Leistungen als diejenigen, die eingewandert sind (erste Generation). Unter den Einwanderern der ersten Generation wiederum finden sich bessere Bildungsergebnisse oft unter denjenigen, die zu einem frühen Zeitpunkt ihres Lebens ins Gastland gekommen sind.

Dennoch verträgt sich die anhaltende Benachteiligung von Einwanderern der zweiten Generation – im Zielland geboren, sozialisiert und ausgebildet – nicht mit dem Bild der Schule als einer Institution, die gleiche Bildungschancen für alle bereithält.

Eine Diskrepanz zwischen den Leistungen von Schülern mit und ohne Migrationshintergrund gibt es in allen westeuropäischen Ländern, aber das Ausmaß dieser Diskrepanz variiert: Alle Bildungssysteme sind ungleich, aber manche sind ungleicher als andere. Um zu verstehen, welche institutionellen Aspekte der europäischen Bildungssysteme dem Fortschritt von Schülern mit Migrationshintergrund besonders abträglich sind, muss man zu den Quellen ihrer ursprünglichen Benachteiligung zurückkehren.

Aufgrund der Überrepräsentation von Einwanderern in der am wenigsten privilegierten Bevölkerungsschicht lässt sich ein Großteil ihrer schulischen Benachteiligung auf traditionelle Mechanismen der sozialen Stratifizierung zurückführen. Der Mangel an materiellen und bildungsbezogenen Ressourcen im Elternhaus macht es für Schüler aus sozioökonomisch schlechtergestellten Familien schwieriger, gute Leistungen in der Schule zu erzielen. Wenn die Eltern selbst nur über eine geringe Bildung verfügen, sind sie eventuell nicht in der Lage und/oder willens, den Kindern bei den Hausarbeiten zu helfen. Außerdem wird der Bildung in den verschiedenen sozialen Schichten ein unterschiedlich hoher Wert beigemessen. Gleiches gilt für die Kosten, die sich mit einem verspäteten Eintritt in den Arbeitsmarkt verbinden. Daher kann sich unter Schülern, die wissen, dass sie nicht lange in der Schule bleiben werden, bereits früh ein Desinteresse herausbilden.

Die Bildungsbenachteiligung von Migranten lässt sich allerdings nur zum Teil durch den niedrigen sozioökonomischen Status von Einwandererfamilien erklären. Es gibt darüber hinaus eine migrationsspezifische Benachteiligung, die die Bildungskarrieren von Einwanderern der ersten und zweiten Generation behindert, nicht nur im Vergleich zum durchschnittlichen Schüler ohne Migrationshintergrund, sondern auch im Vergleich zu Nicht-Migranten, die in ihren Familien ebenfalls nur begrenzte Ressourcen vorfinden. Wie groß ist das Ausmaß dieser migrationsspezifischen Benachteiligung? Welche Bildungssysteme schaffen es eher, diese Disparitäten gering zu halten? Diese Frage habe ich in meiner Dissertation untersucht, die ich zwischen 2010 und 2014 an der Universität von Mailand verfasst habe. Für die Bildungsergebnisse von 15-jährigen Schülerinnen und Schülern in den drei Kernbereichen Mathematik, Lesekompetenz und Naturwissenschaften und für den Vergleich von Einwanderern der zweiten Generation mit Schülern ohne Migrationshintergrund habe ich PISA-Daten von 2006 und 2009 genutzt. Durch einen Vergleich von 17 westeuropäischen Ländern und unter Verwendung unterschiedlicher Verfahren habe ich anschließend die Bedeutung von Bildungssystemen für die Erzeugung mehr oder weniger schwerer migrationsspezifischer Bildungsbenachteiligung ermittelt.

Aus theoretischer Sicht lässt sich zunächst vermuten, dass hinter der migrationsspezifischen Bildungsbenachteiligung ein Mangel an Kenntnissen in der Sprache des Ziellandes steht. Dies betrifft zwar vor allem Kinder, die bei der Einwanderung bereits zur Schule gehen, aber dieser Faktor kann auch die Leistung von Migrantenkindern beeinträchtigen, die im Zielland geboren oder sehr früh dort angekommen sind, wenn sie in den ersten Jahren nicht ausreichend Gelegenheit zur Interaktion mit Gleichaltrigen ohne Migrationshintergrund hatten. Nach meinen Befunden könnte der späte Beginn der Schulpflicht das scheinbare Paradox mancher skandinavischer Länder erklären, wonach die Gesamtschulstruktur im Primar- und unteren Sekundarbereich zwar die durch soziale Schichtzugehörigkeit hervorgerufenen Bildungsungleichheiten reduzieren kann, nicht aber im gleichen Maße die migrationsbedingten Disparitäten.

Interessanterweise haben Schüler mit Migrationshintergrund in Schweden, Dänemark und Finnland – wo die Schulpflicht mit sieben Jahren einsetzt – weitaus größere Lernschwierigkeiten als in Norwegen, wo die Kinder bereits mit sechs Jahren schulpflichtig werden. In der frühen Phase des Lernens kann ein so kurzer Zeitraum ausschlaggebend sein. Ebenso wichtig für die kognitive Entwicklung von Migrantenkindern kann der Zugang zu frühkindlicher Bildung sein: In Frankreich, wo fast alle Drei- bis Fünfjährigen eine Vorschule besuchen, ist migrationsspezifische Bildungsbenachteiligung geringer als in den französischsprachigen Kantonen der Schweiz, wo weniger als 40 Prozent der Kinder eine Vorschule besuchen.

Ein zweites Hindernis für den Bildungserfolg von Schülern mit Migrationshintergrund ergibt sich aus der Tatsache, dass deren Eltern oft nur wenig über das Bildungssystem im Gastland wissen und welche impliziten Werte, kulturelle Normen und Erwartungen es beinhaltet. Bildungssysteme, in denen elterliche Entscheidungen wesentlich für das schulische Fortkommen der Kinder sind, verstärken daher tendenziell die Diskrepanz zwischen Schülern mit und ohne Migrationshintergrund. Insbesondere das frühe Aufteilen der Schüler in starre Bildungsgänge mit unterschiedlichen Lehrplänen kann zu Benachteiligungen führen, denn je früher diese Aufteilung stattfindet, desto wichtiger ist es, dass die Familien sich aktiv an dieser Entscheidung beteiligen.

In Deutschland und Österreich, wo die Schüler sich sehr früh zwischen akademisch orientierten und berufsorientieren Bildungsgängen entscheiden müssen, findet sich die überwältigende Mehrheit der Einwandererkinder in den Randbereichen des Schulsystems wieder. In diesen marginalisierten Schulen wird die ursprüngliche, migrationsbedingte Benachteiligung durch die geringe Qualität des Lernumfelds (Mitschüler, Lehrpersonal und Bildungsressourcen) noch verstärkt. Es überrascht daher nicht, dass es in Deutschland und Österreich auch deutliche Unterschiede zwischen den Bildungsleistungen von Schülern unterschiedlicher sozialer Herkunft gibt: Genau wie die Kinder von Einwanderern werden Kinder aus bildungsfernen Familien durch die frühe Selektivität dieser Systeme bestraft.

Dort, wo Wohngebiete segregiert sind, kann es sogar sein, dass Schüler mit Migrationshintergrund von vornherein in benachteiligte Schulen abgedrängt werden, noch bevor irgendeine Art von Aufteilung nach Bildungsgängen stattfindet. In Schweden und Dänemark zum Beispiel ist die Wahrscheinlichkeit, die leistungsschwächsten Schulen zu besuchen, für Migrantenkinder schon in der Grundschule viermal so hoch wie für Kinder ohne Migrationshintergrund. Entgegen der öffentlichen Meinung zeigen zahlreiche Studien aus den USA und Europa, dass sich Schulen mit einem hohen Anteil an Migranten nicht per se nachteilig auf die Leistungen ihrer Schüler auswirken. Vielmehr scheint es vor allem auf die sozioökonomische Zusammensetzung sowie auf die personellen und finanziellen Ressourcen dieser „Ghetto-Schulen“ anzukommen. Aufgrund von Wahlfreiheit und/oder Zuweisungsverfahren arbeiten an den Brennpunktschulen oft geringer qualifizierte Lehrkräfte. Zwar dürften die meisten Eltern solche Schulen als problematisch betrachten, aber nur denjenigen mit ausreichend zeitlichen, wirtschaftlichen und informationellen Ressourcen wird es gelingen, ihre Kinder an anderen Schulen unterzubringen. Das wiederum trägt dazu bei, die benachteiligte Schule noch weiter zu marginalisieren. Konzentrieren sich Einwandererfamilien also stark auf einkommensschwache Wohngegenden, so ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass ihre Kinder einem Lernumfeld niederer Qualität ausgesetzt sind.

Was folgt nun aus diesen Befunden für die Politik? Jedes Bildungssystem lässt sich als eine komplexe Konstellation von Elementen betrachten, die eingebettet sind in einen gesellschaftlichen und historischen Kontext. Der Versuch, ein Patentrezept zur Herstellung gleicher Bildungschancen zu finden, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Dennoch ergeben sich aus der empirischen Forschung zur Bildungsbenachteiligung von Migranten drei wesentliche Erkenntnisse. Erstens sollten Bildungssysteme so gestaltet werden, dass Einwandererkinder so früh wie möglich integriert werden, um ihnen die Interaktion mit Gleichaltrigen ohne Migrationshintergrund zu erleichtern und so ihren Sprachschwierigkeiten entgegenzuwirken. Dies kann entweder durch ein Herabsetzen des Einschulungsalters geschehen oder durch die Bereitstellung von allgemein zugänglichen und hochwertigen Vorschuleinrichtungen. Beide Optionen fördern die Teilnahme von Kindern mit und ohne Migrationshintergrund.

Zweitens: Differenzierte Bildungssysteme sollten den Zeitpunkt der Wahl zwischen verschiedenen Bildungsgängen nach hinten verschieben und gleichzeitig das Beratungsangebot an den Schulen ausbauen, um das Informationsdefizit von Migrantenfamilien zu überwinden. Um außerdem eine Marginalisierung von Schülern zu vermeiden, die sich für ein berufsorientiertes Angebot entscheiden, sollte dafür gesorgt werden, dass Lehrpläne und Lehrpersonal in diesen Bildungsgängen von angemessener Qualität sind.

Der dritte und letzte Punkt betrifft Länder, in denen Wohnsegregation zu einer überproportionalen Konzentration benachteiligter Schüler an bestimmten Schulen führt. Um hier das Risiko eines Teufelskreises zu minimieren, sollten die am höchsten qualifizierten und motivierten Lehrkräfte berufliche Anreize erhalten, an diesen ansonsten marginalisierten Schulen zu bleiben. Auch sollten solche Schulen zusätzliche Ressourcen erhalten, um ihren Schülern Nachhilfekurse und ergänzende Lehrmaterialien zur Verfügung stellen zu können.

Literatur
Camilla Borgna, Dalit Contini: „Migrant Achievement Penalties in Western Europe: Do Educational Systems Matter?“ In: European Sociological Review, 2014, Vol. 30, No. 5, pp. 670-683.

Deborah A. Cobb-Clark, Mathias Sinning, Steven Stillman: „Migrant Youths’ Educational Achievement The Role of Institutions“. In: The ANNALS of the American Academy of Political and Social Science, 2012, Vol. 643, No. 1, pp. 18-45.

Maurice Crul, Jens Schneider, Lelie Frans (Eds.): The European Second Generation Compared. Does the Integration Context Matter? Amsterdam: Amsterdam University Press 2012.

Nicole Schneeweis: „Educational Institutions and the Integration of Migrants“. In: Journal of Population Economics, 2011, Vol. 24, No. 4, pp. 1281-1308.

Wie die französische Erfahrung mit den zones d’education prioritaires (ZEPs) zeigt, sollte die Politik bei der Gestaltung kompensatorischer Maßnahmen darauf achten, dass die betroffenen Schulen nicht stigmatisiert werden. Schaut man sich die Bildungslücken zwischen Schülern mit und ohne Migrationshintergrund an, so scheinen die ZEPs trotz der harten Kritik an diesem Modell doch nicht komplett versagt zu haben. Im Gegenteil, Frankreich ist neben Großbritannien und Luxemburg eines der wenigen westeuropäischen Länder, in denen die Kinder von Migranten nahezu genauso gute Ergebnisse erzielen wie Kinder aus ähnlichen sozioökonomischen Verhältnissen ohne Migrationshintergrund. Diese Erfahrungen zeigen: Auch wenn der Weg zur vollständigen Integration von Einwanderern der zweiten Generation in Europa noch lang ist – die Verbesserung der egalitären Ausrichtung nationaler Bildungssysteme ist keine Chimäre.