Gauck

„Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz“

Bei einer Gedenkstunde im Bundestag erinnerte Bundespräsident Joachim Gauck an die vor 70 Jahren von der Sowjetarmee befreite NS-Vernichtungslager Auschwitz. Mehr als eine Million Menschen wurden dort ermordet.

Bundespräsident Joachim Gauck hat davor gewarnt, die Verbrechen der Nationalsozialisten zu vergessen. Bei einer Gedenkstunde am Dienstag im Bundestag in Berlin sagte das Staatsoberhaupt: „Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz.“ Die Erinnerung an den Holocaust bleibe eine Sache aller Bürger, die in Deutschland lebten. An der Veranstaltung zur Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz vor 70 Jahren und zum Holocaust-Gedenktag nahmen unter anderen Bundeskanzlerin Angela Merkel, Bundesratspräsident Volker Bouffier (beide CDU), die Spitzen der Verfassungsorgane sowie Überlebende teil.

Gauck unterstrich, in Deutschland trügen alle Verantwortung dafür, welchen Weg das Land gehen werde. „Solange ich lebe, werde ich darunter leiden, dass die deutsche Nation mit ihrer so achtenswerten Kultur zu den ungeheuerlichsten Menschheitsverbrechen fähig war“, sagte Gauck. Selbst eine überzeugende Deutung des schrecklichen Kulturbruchs wäre nicht imstande, „mein Herz und meinen Verstand zur Ruhe zu bringen“. Aus dem Erinnern ergebe sich ein Auftrag: „Schützt und bewahrt die Menschlichkeit.“

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Zugleich appellierte das Staatsoberhaupt, sich jeder Art von Ausgrenzung und Gewalt entgegenzustellen und „jenen, die vor Verfolgung, Krieg und Terror zu uns flüchten, eine sichere Heimstatt bieten“.

Lammert: Humanität im Lichte der Historie
Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) erklärte im Bundestag, die Nachgeborenen seien für die Vergangenheit nicht verantwortlich, wohl aber für den Umgang mit dieser Vergangenheit. Es gelte, staatlich angeordnete und organisierte Verbrechen „nirgendwo“ und „an keinem Platz der Welt“ wieder geschehen zu lassen. Die Deutschen müssten sich im Bewusstsein ihrer historischen Verantwortung den drängenden humanitären Herausforderungen der Gegenwart stellen.

Auschwitz stehe als Synonym für den „historisch beispiellosen industrialisierten Völkermord“ und dafür, was Menschen Menschen antun könnten, sagte Lammert. Dem europaweiten Vernichtungskrieg der Nazis, den Ghettos und Lagern sei die Ausgrenzung eines Teils der Bevölkerung vorangegangen, „für alle sichtbar, die sehen wollten“, erinnerte er. Lammert schloss in das Gedenken an die Opfer auch diejenigen ein, die den Nazis Widerstand geleistet hatten, sowie die Menschen, die „vom Trauma des Überlebens gezeichnet“ seien. Er forderte die Jüngeren auf, den noch Überlebenden zuzuhören und dadurch zu „Zeugen der Zeugen“ zu werden und die Erinnerung weiterzutragen.

Merkel: Erinnerung an Auschwitz wachhalten
Bereits am Montag hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel angemahnt, die Erinnerung an die deutschen Verbrechen wachzuhalten. Verbrechen an der Menschheit verjährten nicht, sagte sie bei einer Gedenkveranstaltung des Internationalen Auschwitz Komitees in Berlin. Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, bezeichnete die Erinnerung an Auschwitz als bleibende Verpflichtung für die gesamte deutsche Gesellschaft.

Laut einer am Montag veröffentlichten Studie der Bertelsmann-Stiftung will sich allerdings ein Großteil der Deutschen nicht mehr mit dem Holocaust auseinandersetzen. 81 Prozent der Befragten gaben demnach an, die Geschichte der Judenverfolgung „hinter sich lassen“ und sich gegenwärtigen Problemen widmen zu wollen. 58 Prozent der befragten Deutschen forderten gar einen regelrechten Schlussstrich.

Verpflichtender Besuch einer KZ-Gedenkstätte
Schuster forderte demgegenüber die Bundesländer auf, die Gedenkarbeit in den Schulen zu intensivieren und im Unterricht mehr Informationen über den Holocaust zu vermitteln. Jeder Schüler ab der neunten Klasse müsse verpflichtend eine KZ-Gedenkstätte besuchen, sagte er der Neuen Osnabrücker Zeitung. Alle Bundesländer, in denen dies noch nicht der Fall sei, sollten eine entsprechende Regelung einführen. „Theorie und Unterricht sind schließlich die eine Sache, das konkrete Erleben vor Ort, die plastische Anschauung die andere“, argumentierte er.

UN-Generalsekretär Ban Ki Moon verwies unterdessen in einer Erklärung darauf, dass auch 70 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz antisemitische Angriffe anhielten. Überall in der Welt müssten die Menschen daher gemeinsam den Kreislauf der Uneinigkeit stoppen, um eine Welt des gegenseitigen Respekts zu schaffen, sagte er. Die internationale Gemeinschaft müsse ihre Anstrengungen für Toleranz verdoppeln. „Wir sind entschlossen, die Verletzlichen zu schützen, grundlegende Menschenrechte zu fördern sowie Freiheit, Würde und Wert eines jeden Menschen hochzuhalten.“

Der Holocaust-Gedenktag ist seit 1996 gesetzlich verankert. Am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee Auschwitz. Dort hatten die Nationalsozialisten rund 1,1 Millionen Menschen ermordet. Insgesamt kamen in den Konzentrations- und Vernichtungslagern der Nazis rund sechs Millionen Juden ums Leben. Ziel war die Vernichtung des europäischen Judentums. Zu den Verfolgten zählten auch Sinti und Roma, Homosexuelle sowie Oppositionelle. (epd/mig)