NSU-Morde

Medien haben bei der Aufdeckung der Hintergründe versagt!

Im Herbst 2011 wurde bekannt: die Mordserie an Migranten ging auf das Konto des NSU. Staatliche Behörden hatten ein Jahrzehnt lang in die falsche Richtung ermittelt. Eine aktuelle Studie ist der Frage nachgegangen, ob auch Medien versagt haben - mit vernichtendem Urteil.

Mittwoch, 14.01.2015, 8:26 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 08.01.2020, 15:44 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

Im Herbst 2011 wurde bekannt, dass die Mordserie an Menschen mit Migrationshintergrund und weitere Gewaltverbrechen vom „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) verübt worden waren. Staatliche Behörden hatten ein Jahrzehnt lang in die falsche Richtung ermittelt. Untersuchungsausschüsse auf Bundes- und Landesebene lassen keinen Zweifel: Der „NSU-Komplex“ steht für ein eklatantes Staatsversagen. In einer aktuellen Studie der Otto Brenner Stiftung wird jetzt der Frage nachgegangen, ob auch Medien bei der Aufdeckung der Hintergründe der NSU-Mordserie versagt haben.

Der bittere Befund des Autorenteams Fabian Virchow, Tanja Thomas und Elke Grittmann lautet: Bis auf wenige Ausnahmen folgten sehr große Teile der medialen Berichterstattung der Logik und den Deutungsmustern der Ermittlungsbehörden. Medien haben mit zur Ausgrenzung der Opfer beigetragen, Angehörige stigmatisiert und sich teilweise selbst mit „umfangreichen Spekulationen“ an der Tätersuche beteiligt. Die Studie kommt laut OBS-Geschäftsführer Legrand zu dem Ergebnis, „dass nicht nur die staatlichen Behörden 10 Jahre lang in die falsche Richtung ermittelt haben, sondern auch Medien ein Jahrzehnt lang diese Deutungsmuster und Mutmaßungen nicht konsequent hinterfragt und unkritisch übernommen haben“.

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Die Studie zeigt, dass polizeiliche Quellen Autorität genossen und als glaubwürdig popularisiert wurden. Die enge Anbindung der Berichterstattung an die polizeilichen Erkenntnisse bzw. Vermutungen, so ein weiteres Ergebnis der innovativen Studie, „habe zu einer einseitigen Gewichtung und Wahrnehmung der Quellen“ geführt. Polizeiliche Quellen in Wort und Bild dominierten, Hinweise zu den Tathintergründen aus dem Umfeld der Betroffenen wurden nicht berücksichtigt. Mit dem von Journalisten geprägten Begriff „Döner-Morde“, der über Jahre die mediale Berichterstattung zuspitzte, wurden die Angehörigen der Opfer nicht als Betroffene kommuniziert, sondern als Teil der „Anderen“ stigmatisiert, ausgegrenzt und teilweise kriminalisiert. Aus vermuteten Verbindungen zur „Organisierten Kriminalität“ wurden vielfach Tatsachenbehauptungen gemacht und die Berichterstattung wurde aufgeladen mit Spekulationen über „angebliche Milieus“ und „Parallelwelten“. Es wurde, so ein weiterer Befund, eine „Mauer des Schweigens“ identifiziert, die nicht nur die polizeiliche Arbeit erschwere, „sondern auch Ausdruck unzureichender Integration in die Mehrheitsgesellschaft sei“.

Die Ergebnisse der Studie, so OBS-Geschäftsführer Legrand, lesen sich als Beleg für die These, „dass bei der Aufdeckung der Hintergründe und wahren Zusammenhänge der NSU-Morde nicht nur staatliche Ermittlungsbehörden versagt haben, sondern auch Teile der Medien ihrer Aufgabe, gesellschaftliche Prozesse professionell zu beobachten und kritische Öffentlichkeit herzustellen, nicht nachgekommen und gerecht worden sind“.

Download: Die Studie der Otto Brenner Stiftung „Das Unwort erklärt die Untat. Die Berichterstattung über die NSU-Morde – eine Medienkritik“ kann kostenlos heruntergeladen und hier bestellt werden.

Die OBS-Studie leistet aber mehr als eine erste Rekonstruktion der Medienberichterstattung über die NSU-Mordserie. Das Autorenteam fragt auch nach den redaktionellen Bedingungen der Berichterstattung und unterbreitet Vorschläge, die Eingang finden sollten in die journalistische Aus- und Weiterbildung. Ziel der Studie ist, „eine fundierte und differenzierte Diskussion über die Rolle der journalistischen Berichterstattung zu ermöglichen“, schreibt die Stiftungsleitung im Vorwort. Außerdem will die OBS mit der Veröffentlichung Journalisten dazu anregen, sich ergebnisoffen einer selbstkritischen Reflexion zu stellen und konkrete Veränderungen in der praktischen Arbeit umzusetzen.

Grundlage der Studie ist die Analyse der Berichterstattung zwischen September 2000 und November 2011. Rund 300 Beiträge und 290 Bilder in der deutsch- und türkischsprachigen Presse in Deutschland wurden ausgewertet. Ergänzend wurden medienkritische Analysen herangezogen und Experteninterviews mit Journalisten geführt. (bk) Feuilleton Leitartikel Studien

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  1. H.P.Barkam sagt:

    Zitat: ‚Die Studie zeigt, dass polizeiliche Quellen Autorität genossen und als glaubwürdig popularisiert wurden.‘

    Leider ist es schon seit Langem tatsächlich so, dass die Zeiten vorbei sind – wenn es sie überhaupt je gegeben hat – dass man irgendeinder Deutschen Institution, egal ob den Banken, den Behörden oder den Politikern noch etwas glauben darf.

    In diesem Sinne

  2. Sigge sagt:

    Laut Feststellung im letzten Absatz des Artikels liegt eine Analyse der Berichterstattung zwischen September 2000 und November 2011 der Studie zugrunde. Sie betrifft also nicht die Berichterstattung über den eigentlichen „NSU“-Komplex, sondern vielmehr die vorausgehenden Berichte über „Dönermorde“. Was diese betrifft, konnte die Presse natürlich nicht mehr wissen, als die Polizei in ihren Pressemeldungen darüber veröffentlichte, und diese Meldungen konnten damals sogar als verhältnismäßig plausibel aufgefasst werden, zumindest im Vergleich zu den späteren haarsträubenden Unstimmigkeiten nach Aufdeckung der sogenannten NSU-Zelle.
    Das eigentliche „Versagen“ der Presse ist vielmehr eben im Zusammenhang mit letzteren zu konstatieren; es ist mit gleicher Berechtigung in Anführungszeichen zu setzen wie das entsprechende „Versagen“ der Behörden.
    Denn die naheliegendste Erklärung für die kriminaltechnisch immer noch gänzlich ungeklärten Morde, nämlich eine direkte oder indirekte Beteiligung der Geheimdienste, wird von den Medien nach wie vor systematisch ignoriert; obwohl der thüringische Verfassungsschutz laut Besprechungsprotokoll vom 21.03.1997 den bayerischen Behörden versprach, keine Kameradschaften mehr in Bayern gründen zu lassen (vgl. „Heimatschutz“, Aust, Laabs, S. 223-224); obwohl für keinen einzigen Tatort die physische Anwesenheit der beiden „Uwe’s“ forensisch nachgewiesen ist, während bei dem Mord in Kassel ein als V-Mann-Führer tätiger (also dienstlich befasster!) Geheimdienstmann ausgerechnet in einem äußerst knappen Zeitfenster von wenigen Minuten vor und nach dem Mord anwesend war; obwohl der Vorgesetzte der ermordeten Kiesewetter offenbar „agent provokateur“ in einem von V-Leuten gegründeten „Ku-Klux-Klan“-Verein war (was offenbar auch für einige seiner Kollegen zutrifft); obwohl der Kern des berüchtigten „Thüringer Heimatschutzes“ zum großen Teil aus V-Leuten bestand und der Verfassungsschutz den Verein finanzierte; obwohl die elementarste Wahrscheinlichkeitsüberlegung gegen das vermeintliche jahrzehntelange Untergrunddasein des „Trios“ spricht, u.s.w., u.s.f.
    Angesichts dieser erdrückenden Indizienkette – die lange fortgesetzt werden könnte! – ist der wahre Skandal, daß bei dem Prozess in München dies alles fast vollständig ignoriert wird, während eine nach wie vor unbewiesene Täterschaft der beiden toten „Uwe’s“ beharrlich UNTERSTELLT und eine Verurteilung von Frau Zschäpe aufgrund ihrer engen persönlichen Beziehung zu ihnen angestrebt wird.
    Das ist nicht zuletzt auch ein Medienskandal, denn Presse, Funk und Fernsehen machen bei den offensichtlichen Manipulationen schamlos mit.
    Sigge