Abgeschoben

„Ich war ein Kind. Ein Kind, verdammt!“

Minire Neziri ist in Deutschland geboren und aufgewachsen. Dann kam ein Montag im Juni 2005. Minire wurde abgeschoben. Für die damals 14-Jährige brach eine Welt zusammen. Heute ist Minire Neziri 23 Jahre alt. Sie schreibt über diesen schrecklichen Tag im Juni:

Juni 2005. Ein schöner, warmer Monat. Ein Monat, wie jeder andere auch. Aber für uns auch ein Monat voller Angst. Angst, dass es passiert. Dass wir zurückmüssen. Zurück in ein Land, das ich nur vom Hörensagen kannte, denn das Licht der Welt hatte ich in Deutschland erblickt. Es war ein Montag. Ich hatte mich nach der Schule mit meiner besten Freundin zu einer Fahrradtour verabredet. Wir fuhren den langen Weg bis zum großen Einkaufszentrum, schlenderten eine Weile durch die Klamottenabteilung und besuchten anschließend eine andere gute Freundin. Wir sprachen über Mädchenkram, aßen Eis und amüsierten uns. Dann sagte meine beste Freundin plötzlich: „Ich glaub ich sterbe, wenn du irgendwann abgeschoben wirst.“

Witzig, dass es nur ein paar Stunden später tatsächlich passierte. Ironie des Schicksals. Ich lache heute noch drüber. Am Abend saß ich zu Hause mit meiner Familie und sah fern. Schon seit einer Weile übernachteten wir Dienstags immer bei einem Onkel, da man hörte, dass die Abschiebungen immer Mittwochs und Freitags, in den frühen Morgenstunden stattfanden. Aber es war Montag. Also schliefen wir zu Hause. Zum letzten Mal.

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Meine große Schwester lebte seit einer Weile mit ihrem sieben Monate alten Sohn bei uns, besaß aber zwei Straße weiter eine eigene Wohnung. Und in genau dieser Wohnung schlief mein Vater seit einigen Wochen. Paranoid? Nein, eher nicht. Man ist nicht paranoid, wenn jede Nacht das passieren kann, vor dem man so große Angst hat.

Mitten in der Nacht wurde ich aus dem Schlaf gerissen.

Mitten in der Nacht wurde ich aus dem Schlaf gerissen. Meine Mama rüttelte an meinem Arm. Überall war das Licht an und sie weinte. Ich verstand nichts. ‚Steh auf, wir müssen gehen‘, sagte sie. Verwirrt stand ich auf und sah im Flur vier Polizisten stehen. Meine Schwestern weinten. Mein Bruder weinte. Meine Mutter weinte. Auch mein Neffe kreischte herum. Ein hektisches Durcheinander. Ein ähnlicher Wirrwarr fand in meinem Kopf statt. Wo mein Vater sei, fragten sie meine Mutter. Bei seinen Brüdern, log sie. Wir sollten zwei Koffer packen und mitkommen. Sie würden uns auch ohne Papa mitnehmen. Ich hatte mich angezogen und saß mit meinem Neffen auf dem Bett. Die Beamten folgten uns auf Schritt und Tritt. Geschrei, Weinen, Geschrei. Die Nachbarsfamilie, ebenfalls aus dem Kosovo, stürmte herein. Noch mehr Tränen. Und dann folgten schließlich auch meine.

Mein Bruder rief seinen besten Freund an. Der Junge stand kurze Zeit später völlig fassungslos vor unserer Wohnungstür. Er war mitten in der Nacht vom Nachbarort hierher gerannt und die wollten ihn allen Ernstes nicht reinlassen. Ein kurzes Gerangel vor der Tür folgte. Flüche auf Albanisch. Geschrei. Letztendlich ließen sie ihn doch durch. Er fiel meinem Bruder weinend um den Hals. Eine feste, brüderliche, verzweifelte Umarmung. Zwei Albaner, die sich heulend im Arm liegen – sieht man auch nicht alle Tage. Einer der Beamten wischte sich dabei unauffällig über die Augen, er weinte. Koffer waren gepackt. Abfahrbereit.

Tut zwar nicht zur Sache, aber ich weine grade schon wieder.

Ich weiß noch, was ich angezogen hatte. Einen rosa Blazer und eine rote Hose. Klingt nach Geschmacksverwirrung, aber damals war es echt Mode. Das waren neue Sachen gewesen und nun trug ich sie zur Beerdigung meines Lebens. Ein großer Polizeikombi stand am Straßenrand. Wir stiegen ein. Meine Mama, mein siebzehnjähriger Bruder, meine fünfzehnjährige Schwester, und ich, vierzehn zu dem Zeitpunkt. Meine älteste Schwester stand weinend neben dem Wagen. Sie hielt die kleine Hand meines Neffen an die Autoscheibe. Sie besaß eine Aufenthaltserlaubnis und durfte zurückbleiben.

Es flossen so viele Tränen. Tut zwar nicht zur Sache, aber ich weine grade schon wieder. In so schmerzhafte Erinnerungen zu wühlen ist manchmal echt anstrengend. Wie auch immer. Wir winkten den anderen zum Abschied und hinterließen einen ganzen Tränenfluss.

Oder sollte ich Zelle sagen?

Die Fahrt führte uns zuerst nach Heilbronn. Dort wurden wir in ein Gebäude gebracht. Überall standen Uniformierte. Eine Beamtin schloss eine Tür auf. Schlichte Stahlbänke, die rechts und links an den weißen Wänden befestigt waren, erwarteten uns da. Stahlbänke, auf denen schon ein paar andere Platz gefunden hatten. Im Laufe der Nacht wurden immer mehr Leute herein geführt.

Ich saß neben Mama, lehnte meinen Kopf auf ihre Schulter und ließ meinen Blick durch den Raum schweifen. Ein Baby weinte. Die Mutter hielt es an die Brust, wiegte dabei ihren Körper vor und zurück, während ihr Tränen über das Gesicht liefen. Ihr Ehemann kümmerte sich um die anderen beiden Kinder. Daneben saß ein junger Mann. 20 Jahre alt – Höchstens. Die Ellenbogen auf die Knien gestützt, hatte er das Gesicht in den Händen vergraben. Und dann war da noch ein glatzköpfiger Mann. Ich schätzte ihn auf Mitte dreißig. Er weinte nicht. Er brüllte. Und wie er brüllte! Er schien vor Wut zu kochen und hämmerte immer wieder gegen die Stahltür. Irgendwann gab er auf und fing an, im Raum auf und ab zu laufen. Oder sollte ich Zelle sagen?

Irgendwann öffnete sich die Tür. Einzeln wurden wir mitgenommen. Ich weiß noch, wie Mama mir hinterher rief, ich solle keine Angst haben. Eine Frau führte mich in ein Zimmer, wo eine andere bereits wartete. Dort wurden mir die Fingerabdrücke abgenommen. Dann sagte sie, ich solle mich ausziehen. Bitte was? ‚Ja, Ja, ausziehen sollte ich mich.‘ Zitternd legte ich meine Kleidung ab, bis ich nur noch in Unterwäsche da stand. ‚Die bitte auch weg‘, sagte die Frau. Welch eine Erniedrigung! Ich fing an zu weinen. Daraufhin winkte die andere Frau ab und sagte, ich solle mich wieder anziehen. Ein Foto wurde gemacht. Ich habe das noch immer irgendwo zwischen meinen Dokumenten. Auf dem Bild sind meine Wangen gerötet, vor Scham und Demütigung. Meine Augen sind rot unterlaufen und meine Haare stehen zu allen Seiten ab. Ich wurde wieder zu den anderen gebracht, die Tür fiel hinter mir krachend ins Schloss. Ich war damals noch zu jung um alles zu verstehen. Heute weiß ich, dass wir wie Schwerverbrecher behandelt worden sind.

Die Reise ging weiter. Ab nach Baden-Baden. Wir wurden zum Flughafen gebracht, gingen durch die Sicherheitskontrolle und setzten uns dann in den Abflugbereich. Wir waren viele, so viele! Manche liefen hektisch hin und her, andere saßen einfach nur still da. Mama sprach mit einer Frau, die ihr erzählte, wie man sie an den Haaren gepackt und aus der Wohnung geschleift hatte. Sie gestikulierte wild mit ihren Händen herum und ich dachte, sie würde Märchen erzählen. Ich glaubte ihr nicht. Bis ich die Schürfwunden an ihren Knien sah. Das getrocknete Blut, das ihr am Bein klebte, sprach Bände. Die Klage einer anderen Frau, hallte in der gesamten Halle wieder. ‚Wo sollen wir denn hin?‘, schrie sie. ‚Wir haben doch alles im Krieg verloren!‘

Mein Kopf schien platzen zu wollen. Wir bekamen ein Käsebrot und etwas zu trinken. Das Warten wurde unerträglich. Nach ein paar Stunden war es schließlich soweit. Mit zwei Bussen wurden wir bis zum Flugzeug gebracht. Ich war weder nervös noch ängstlich, obwohl ich noch nie zuvor geflogen war. Ich war einfach nur leer. Ich saß am Fenster und sah in die endlosen Wolken. Mir war das Ausmaß der Ereignisse dieses Tages noch gar nicht richtig bewusst. Ich freute mich sogar auf meine Cousinen und Cousins, die ich noch nie getroffen hatte. Ich freute mich auf meine Oma und auf meinen großen Bruder, der zwei Jahre vor uns abgeschoben worden war.

Mein erstes Getränk im Kosovo

Gute zwei Stunden später betrat ich zum ersten Mal in meinem Leben, kosovarischen Boden. Erschöpft, von einer langen schlaflosen Nacht und einem anstrengenden Tag, aber mit einem Lächeln im Gesicht, fielen wir wenig später meinem großen Bruder um den Hals. Während der Fahrt bis nach Hause – das neue Zuhause – starrte ich ununterbrochen aus dem Fenster.

Kaputte Straßen. Bettelnde Kinder am Straßenrand. Zerstörte, ausgebrannte Häuser. Mir wurde übel. Lange Autofahrten hatten mir schon immer zugesetzt, und jetzt wurde ich auch noch durch die Löcher in der Fahrbahn ständig hoch und runter katapultiert. Mein Bruder hielt an und kaufte uns an einem Kiosk etwas zu trinken. „Multi Sola“ – mein erstes Getränk im Kosovo.

Nach über zwei Stunden, kamen wir schließlich in Pej an. Wir fuhren ein Stück aus der Stadt hinaus, zu unserem Dorf. Felder, Wiesen, Gebüsche. Ungelogen, mein erster Gedanke war: ‚Wie im Dschungel.‘ Den Rest fasse ich mal kurz zusammen. Die ersten Tage waren schön. Wir wohnten vorerst alle zusammen. 17 Leute, das kann ganz schön anstrengend sein, vor allem dann, wenn man nur eine Toilette hat. Mein Papa kam eine Woche später, mit dem LKW und unserem Hab und Gut, nach. Der Sommer war ebenfalls schön. Viele Verwandte aus Deutschland kamen zu Besuch. Hochzeiten wurden gefeiert, ganz traditionell. Doch dann waren sie alle wieder weg und ich blieb zurück.

Aus dem einzigen Leben, das ich kannte.

Mein erster Schultag sollte auch mein letzter sein. Ich rannte mitten in der Pause einfach nach Hause und schrie heulend, dass ich dort nie wieder hingehen würde. Leicht übertrieben, ja. Aber versucht euch einfach mal in meine Lage zu versetzten. Ihr geht in ein Gebäude, das eine Schule sein soll. Ihr seht kaputte Stühle, kaputte Tische, kaputte Fenster, eine schief hängende Tafel. Keine Garderobe, keine Schränke, keine Pinnwand. Ihr fragt euren Sitznachbarn, wofür denn dieser komische Holzhofen da sei und er erzählt euch, dass damit im Winter geheizt wird.

Das war zu viel für mein vierzehnjähriges Herz. Mit vierzehn war man damals noch nicht so reif wie die heutige Generation. Ich war ein Kind. Ein Kind, verdammt! Ein Kind, das von heute auf Morgen aus seinem vertrauten Leben gerissen worden war. Aus dem einzigen Leben, das ich kannte. Der Alltag schlich sich ein. Ich war immer ein sportliches Mädchen gewesen, spielte Fußball und Volleyball und war ständig aktiv. Und hier? Hier hieß es: „Lass das. Mädchen spielen nicht Fußball, das ist peinlich.“ Ich verbrachte die meiste Zeit vor dem Fernseher, zog mir Telenovelas rein und wurde ein fauler Mensch.

Dass ich nur eine von vielen bin, tröstet mich nicht

Das ist doch kein Leben. Ich lebe nicht. Ich vegetiere vor mich hin. Seit Jahren. Auch heute noch. Ich befinde mich vor einem Scherbenhaufen. Versteht mich nicht falsch. Ich liebe dieses Land. Ich liebe meine Heimat, mein Vaterland. Ich liebe die frische Landluft, die netten Landsleute, unsere Traditionen, unsere Kultur, unseren Zusammenhalt. Ich liebe unsere Musik und unsere Sprache. Aber ich hasse die Stromausfälle. Ich hasse die Korruption und diese verdammte Perspektivlosigkeit, die die jüngere Generation ins Ausland zieht.

Mir wurde alles genommen. Mein Leben, meine Freunde, meine Zukunft. Vielleicht wäre aus mir keine Politikerin oder Ärztin geworden. Aber ich hätte meinen Realschulabschluss gemacht und hätte weiter gesehen. Ich hatte Träume und Ziele, die in weiter Ferne gerückt und letztendlich wie eine Seifenblase geplatzt sind. Das ist unfair. Das ist unmenschlich. Auch, dass ich nur eine von vielen bin, tröstet mich nicht. Im Gegenteil. Die Gewissheit, dass es da draußen Leute gibt, die ein ähnliches Schicksal teilen, macht mich wütend. So wütend! Ich will mein altes Leben zurück. Das Leben, das mir gestohlen wurde!