Göttingen bricht Grundsätze

Mit Flüchtlingen so umgehen, als blieben sie dauerhaft hier

Die gestiegene Zahl von Asylsuchenden in Göttingen stellt die Stadt und Sozialdezernentin Dagmar Schlapeit-Beck (SPD) vor ganz neue Herausforderungen. Gerade bei der Unterbringung der Flüchtlinge muss die Stadt mit bisherigen Grundsätzen brechen.

Gut zu tun hatte Göttingens Kultur- und Sozialdezernentin Dagmar Schlapeit-Beck (SPD) schon in der Vergangenheit. Als vor etwa einem Jahr mehr Flüchtlinge in die niedersächsische Universitätsstadt kamen, machte die 56-Jährige die Unterbringung der Asylbewerber zur Chefsache – fast ein Fulltime-Job. „Ich muss mich täglich damit beschäftigen“, sagt sie.

Rund 500 Asylsuchende aus 30 Staaten leben derzeit in Göttingen, jede Woche nimmt die Stadt mindestens 20 zusätzlich auf. Für die Unterbringung der Flüchtlinge stehen gegenwärtig etwa 140 kommunale Wohnungen mit 330 Zimmern zur Verfügung. Dem steigenden Bedarf an Wohnraum kann die Verwaltung nicht mehr gerecht werden.

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„Alles ist dicht“, sagt Schlapeit-Beck. Weil Niedersachsen zum Wintersemester die Studiengebühren abgeschafft hat, drängen auch immer mehr angehende Akademiker auf den ohnehin engen Wohnungsmarkt. An den drei Göttinger Hochschulen sind 28.000 Studierende eingeschrieben, so viele wie noch nie, die Mietpreise sind die höchsten im ganzen Bundesland.

Der Druck ist so groß, dass die Stadt nun einen Grundsatz aufgeben muss: Alle Flüchtlinge dezentral in einzelnen Wohnungen unterzubringen, um ihrer Ghettoisierung vorzubeugen. Schlapeit-Beck und ihr Team prüfen deshalb jetzt auch, ob nicht mehr genutzte Gewerbe-Immobilien zu Flüchtlingsunterkünften umgebaut werden können.

Die Bundesregierung wolle das Planungsrecht modifizieren, weiß die Dezernentin. So könnten etwa leerstehende Büros schneller und unbürokratischer als bislang zu Wohnzwecken umgerüstet werden.

Wichtig ist Schlapeit-Beck, dass die infrage kommenden Gebäude in Wohn- oder wenigstens Mischgebieten liegen. Arztpraxen und Geschäfte, Schulen und Kindergärten müssten für die Flüchtlinge gut erreichbar sein. „Eine Immobilie, wo Asylbewerber weit und breit die einzigen Menschen sind und rundherum nur Bagger fahren, kommt nicht infrage.“ Das Angebot, einen Bürokomplex im Industriegebiet zu mieten, hat die Stadt abgelehnt.

Auch ein weiteres Göttinger Tabu soll fallen, eine Gemeinschaftsunterkunft gebaut werden. „Wir kommen nicht drumherum, wir suchen schon einen Standort“, sagt Schlapeit-Beck. Sie will beim Umbau und Neubau von Unterkünften auch auf Behinderungen und Krankheiten von Flüchtlingen Rücksicht nehmen, die Gebäude müssten barrierefrei sein. „Wir stellen fest, dass man uns viele Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen schickt.“ Das liege wohl an der guten medizinischen Versorgung in der Universitätsstadt, vermutet die Dezernentin.

Bis die neuen Unterkünfte bezugsfertig sind, müssen Zwischenlösungen her. Container oder gar Zelte aufzustellen, wie es andere Städte schon praktizieren, kommt für Schlapeit-Beck nicht in Betracht. Das schaffe ein schlechtes Image und Sicherheitsprobleme. Die Dezernentin hat deshalb die Einwohner zur Mithilfe aufgerufen.

„Stellen Sie Wohnungen bereit, auch wenn Sie bis jetzt noch gezögert haben. Die Not ist groß“, heißt es ihrem Appell. Die Mietverträge sollen mindestens ein Jahr laufen, sie könnten auch mit der Stadt als Vertragspartner geschlossen werden. „Wir stehen auch für eventuelle Ausfälle ein.“

Neben Bürgern, die Wohnraum zur Verfügung stellen, sucht Schlapeit-Beck Menschen, die sich ehrenamtlich für die Asylbewerber einsetzen, sie beim Gang in den Supermarkt, zu Behörden und zum Arzt unterstützen. 30 Interessierte hätten sich bereits gemeldet, ein „toller Erfolg“.

Ziel ihrer Anstrengungen bleibe, „die zu uns kommenden Menschen vom ersten Tag an bestmöglich aufzunehmen“, betont die Dezernentin: „Wir wollen mit ihnen so umgehen, als blieben sie dauerhaft hier.“ Für dieses Ziel mache sie auch gerne Überstunden. (epd/mig)