Meine kosmische Identität

Eine migrantische Lesart des Koran

Als gläubiger Mensch mit Migrationshintergrund fragte ich mich, was der Koran zu territorialen oder nationalen Identitäten sagt? Sind sie wirklich so bedeutend? Oder bietet der Koran Alternativen zu diesen modernen Konstrukten? – von Zeyneb Sayılgan.

Siehst Du dich als Deutscher oder eher als Türke, Kurde, Araber? Fühlst Du dich in der Türkei, Marokko, Ägypten wohl oder hier in Deutschland? Kommt Dir dieses Entweder/Oder bekannt vor? Diese Fragen bekommt jedes Migrantenkind in seinem Leben zu hören. Für viele Jahre hatte ich auch das Gefühl, ich müsste mich entscheiden. Meine hybride Persönlichkeit verstand ich erst viel später als Segen und Privileg.

Ich denke, dass der Migrant auf eine Art der Identität zurückgreift, die vielleicht in Vergessenheit geraten ist und die nun durch das Phänomen der Massenmigration erneut an der Oberfläche erscheint. Ich möchte sie eine Ur-Identität, eine kosmische Identität nennen. Sie ist de-territorial, geht weit über nationale Grenzen hinaus und ist imstande, einen Solidaritätsgeist mit allen Geschöpfen zu schaffen.

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Als gläubiger Mensch und jemand, in dessen Leben Migration ein zentraler Bestandteil ist, wandte ich mich mit diesen Fragen an die Offenbarung. Wie stand der Koran zu diesen territorialen oder nationalen Identitäten? Waren sie so bedeutend, wie es meine Umgebung mir einzutrichtern versuchte? Oder bietet der Koran Alternativen zu diesen modernen Konstrukten? Ich probierte mich daher in einer Migrantenlesart des Koran.

Schnell fiel mir auf, dass der Koran keinerlei Interesse an topographischen, geografischen oder nationalen Details oder Identitäten hatte. Ägypten fand mit drei oder vier Passagen die höchste Erwähnung in den ca. 600 Seiten des Korans. Die Pluralität und Verschiedenheit der Völker und Nationen wird nicht geleugnet. Im Gegenteil, sie wird positiv herausgehoben aber sie ist eher zweitrangig wenn man sie im Ganzen des Korans analysiert:

“O ihr Menschen, Wir haben euch von einem Mann und einer Frau erschaffen und euch zu Völkern und Stämmen gemacht, auf dass ihr einander erkennen möget. Wahrlich, der Angesehenste von euch ist vor Gott der, der sich Ihm vollkommen hingibt. Siehe, Gott ist Allwissend, Allkundig.” (Koran 43:13)

Eine hochgepriesene „Leitkultur“, wie sie von manchen in ihrer Arroganz beworben wird, gibt es im Koran nicht. Auch Migranten tendieren manchmal dazu, ihre „Heimatkultur“ zu absolutisieren oder zu romantisieren. Auch wenn dies eine Reaktion auf Diskriminierungen oder Fremdheitsgefühle sein mag, sie ist nicht gerechtfertigt. Bescheidenheit und Demut sind Eigenschaften eines Gläubigen und Gott als gerechter Schöpfer hat jeder Kultur Schönheiten und Reichtümer aller Art geschenkt. Man muss nur imstande sein, sich für diese zu öffnen.

Dass auch religiöse Menschen in Hochmut und Arroganz verfallen können und andere aufgrund dessen mit Missgunst betrachten, ist dem Koran nicht fremd. Das Medienspektakel um Enthauptungen, die im Namen des Islam von fanatischen Kriegern ausgeführt werden, beweist das nur zu gut. Der Prototyp solch eines Verhaltens im Koran ist Iblis selbst – auch bekannt als Satan. Im koranischen Kontext war Iblis ein Dschinn – ein übernatürliches Wesen, geschaffen aus Feuer und einer Entscheidungsfreiheit, Gutes oder Schlechtes zu tun. Iblis verehrte Gott in solch einem Maße, dass er auf den gleichen Rank der Engel erhoben wurde. Nachdem Gott den Menschen erschuf, rief Er alle Engel auf, sich vor Adam – dem Prototypen der Menschheit – niederzuwerfen. Alle Engel warfen sich nieder – außer Iblis. „Ich bin besser als er. Mich hast du aus Feuer erschaffen, ihn nur aus Lehm,“ erwidert Iblis und weigert sich, dem Gottesruf Folge zu leisten. Diese Iblis Logik nimmt auch heute noch verschiedene Formen an – Rassismus, extremer Nationalismus oder religiöse Intoleranz und Arroganz sind weit verbreitet und religiöse Menschen sind nicht immun gegen diese Tendenz. Iblis war ein Gläubiger. Man hat die Wahl, in dem Andersdenkenden sehr viele verwandte Merkmale zu entdecken oder eine Mauer der Fremdheit zu kreieren.

Dass Gott den Menschen mit der Einhauchung einer Seele gewürdigt hat und dass diese Würde fundamental ist, scheint solchen, die Iblis folgen, nichts zu bedeuten. Der Mensch ist keine kosmische Suppe, die über Millionen Jahre zufällig von blinden und tauben Kräften entstanden ist. Die fundamentale Würde und Ehre des Menschen ist gottgegeben und heilig, „Und Wir (Gott) haben den Kindern Adams Ehre erwiesen; Wir (Gott) haben sie auf dem Festland und auf dem Meer getragen und ihnen (einiges) von den köstlichen Dingen beschert, und Wir haben sie vor vielen von denen, die Wir erschaffen haben, eindeutig bevorzugt.“ (Koran 17:70).

Reicht diese fundamentale Basis nicht aus, in jedem Menschen das Heilige zu erkennen und auf ihn einzugehen und zu würdigen? Stattdessen werden Barrieren konstruiert, um Menschen voneinander zu distanzieren – nationale, politische, soziale Labels werden eingesetzt, um die Andersartigkeit stärker hervorzuheben und einen inhumanen Diskurs zu schaffen.

Die Beschaffenheit des Menschen – seine Seele, sein Herz, seine Emotionen, sein Intellekt und sein Körper – deutet auf diese kosmische Identität hinaus. Diese Seele ist von Gott eingehaucht, sie ist nicht materiell oder physisch greifbar und kann daher nicht in eine territoriale oder geografische Ecke platziert oder begrenzt werden. Sie ist de-territorial, sie wandert und ist mit dem ganzen Kosmos verbunden.

Der Mensch ist daher so vielschichtig wie das Universum. Er kann sich engelsgleich verhalten, satanisch handeln, hat animalistische Züge und kann sich zum niedrigsten Wesen degradieren und als einzige Spezies dieses Universum ins Chaos stürzen. Aber er hat auch das enormale Potenzial, Gutes zu vollbringen und ist mit Fähigkeiten und Emotionen ausgestattet, die ihn privilegieren. Der Mensch steht in seiner Natur mit den Mineralien, Pflanzen, Tieren, Planeten und allen Wesen in Verbindung. Die Ernährung und Gesundheit des Menschen ist mit dem Wohlbefinden des Universums verbunden. Das moralische und ethische Handeln des Menschen hat auch Einfluss auf das Gleichgewicht im Universum. Falls eine Tier- oder Pflanzenart am anderen Ende der Welt ausstirbt betrifft dies auch unser Leben.

Die kosmische Identität ist in dieser Hinsicht eine, die weit über menschliche Beziehungen hinausgeht. Sie sieht die Heiligkeit von allen Wesen und ist sich daher über ihre wichtige Rolle als Statthalter Gottes auf Erden bewusst. Anstelle von Arroganz sollte dies Bescheidenheit und Verantwortungsgefühl auslösen.

Der Koran konstruiert den Westen nicht in ein Territorium der Ungläubigkeit und Unmoral. Die „muslimische Welt“ – wie man sie auch immer definieren mag – ist genauso wenig dargestellt als ein Ort der Moral und des Glaubens. Solch Dualität und Opposition existiert vielleicht in den Köpfen einiger Menschen, wie sie auch einst in der klassischen islamischen Theologie mit den Begriffen Dar al-harb (Ort der Auseinandersetzung) oder Dar al-Islam (Ort des Islam) zu finden war. Damals war dies eher eine pragmatische Einteilung, doch sie ist im Zeitalter der Massenmigration nun überholt und nach Meinung vieler Wissenschaftler irrelevant.

Für den Koran heißt es schlicht und allumfassend: „Gott gehört der Osten und der Westen. Wohin ihr euch auch wenden möget, dort ist das Antlitz Gottes. Gott umfasst alles und weiss alles.“ (Koran 2:115) oder „Gott ist das Licht der Himmel und der Erde. Sein Licht ist einer Nische vergleichbar, in der eine Lampe ist. Die Lampe ist in einem Glas. Das Glas ist, als wäre es ein funkelnder Stern. Es wird angezündet von einem gesegneten Baum, einem Ölbaum, weder östlich noch westlich, dessen Öl fast schon leuchtet, auch ohne dass das Feuer es berührt hätte. Licht über Licht. Gott führt zu seinem Licht, wen Er will, und Gott führt den Menschen die Gleichnisse an. Und Gott weiß über alle Dinge Bescheid.“ (Koran 24:35).

Diese kosmische Identität ist es, die Menschen mit einem vielschichtigen Hintergrund neue Perspektiven verleihen kann. Sie inspiriert, aufeinander zuzugehen und das Patchwork von multikulturellen Gesellschaften als Segen und Privileg und nicht als Bürde zu verstehen.

Dr. Martin Luther King Jr. hat auf diese kosmische Identität in einer seiner bewegenden Ansprachen aufmerksam gemacht: Wir müssen alle lernen, miteinander als Geschwister zu leben, oder wir werden alle zusammen als Narren untergehen. Wir sind in einem einzigen Gewand des Schicksals, in einem unentrinnbaren Netz der Gegenseitigkeit miteinander verbunden. Und was auch immer einen direkt betrifft, betrifft alle auf indirekte Art. Aus irgendeinem seltsamen Grund kann ich nie das sein, was ich sein soll, bis Du das bist, was Du sein sollst. Dies ist die Weise, in der Gottes Universum erschaffen wurde; so ist es strukturiert.