Kretschmanns Asyl-"Deal"

Die vermeintlich substanziellen Verbesserungen laufen ins Leere

Winfried Kretschmanns Asyl-Deal zeigt, dass er und Co. offensichtlich nicht im Ansatz verstanden haben, um was es eigentlich geht: Gleiche Rechte und gleichberechtigte Teilhabe für alle oder Selektion von guten und schlechten Flüchtlingen mit der damit verbundenen Entrechtung der schlechten – Claudius Voigt kommentiert

Es gibt das Gerücht, Baden-Württemberger könnten besonders gut mit Geld umgehen und besonders effizent wirtschaften. Diese Eigenschaft trifft jedenfalls auf den Landesvater nicht zu: Winfried Kretschmann hat seine Zustimmung zu den „Sicheren Herkunftsstaaten“ ohne jegliche ökonomische Vernunft am Wühltisch verramscht. Volker Beck bewertete den von Kretschmann erzielten Preis denn auch bereits völlig zu Recht mit dem Gegenwert von ’nem Appel und ’nem Ei.

Der Stuttgarter Landesvater sieht in eben jenen Grundnahrungsmitteln demgegenüber „substanzielle Verbesserungen“ für Flüchtlinge. Boris Palmer, der andere Oberrealo aus Tübingen, jubelt sogar euphorisiert: Die erreichten Verbesserungen seien ihm „eine echte Freude“. Die wichtigsten Forderungen der Asylbewerber und ihrer meist ehrenamtlichen Betreuer seien „nun allesamt erfüllt“.

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Wie können die Bewertungen des erzielten Preises derart diametral auseinander gehen? Sind die Verbesserungen tatsächlich „substanziell“? Ja – wenn man unter „Substanz“ etwas von der Konsistenz eines Marshmallows versteht: eine löchrige, klebrige, süßliche Masse, die im Wesentlichen aus Luft besteht.

Kretschmann und Co. haben also offensichtlich auch nicht im Ansatz verstanden, um was es eigentlich geht, was tatsächlich „substanziell“ gewesen wäre, was einen Deal vielleicht sogar vertretbar hätte erscheinen lassen können. Substanziell wäre es gewesen, wenn

Im Kern geht es nämlich um die entscheidende Frage: Gleiche Rechte und gleichberechtigte Teilhabe für alle oder Selektion von guten und schlechten Flüchtlingen mit der damit verbundenen Entrechtung der schlechten.

Winfried Kretschmann hat sich – gemeinsam mit Union und SPD (eine rühmliche Ausnahme ist der Superheld des Tages: Torsten Albig) für die zweite Alternative entschieden. Denn die Vereinbarung zwischen Kretschmann und der Bundesregierung ist nicht nur mit Tinte „aus dem Gefrierschrank“ (Zitat Albig) geschrieben worden. Sondern sie das Papier nicht wert, auf dem sie steht.

Die vermeintlich substanziellen Verbesserungen werden ganz überwiegend ins Leere laufen und gerade nicht oder zumindest nicht wesentlich zu einer Verbesserung der Lebensbedingungen beitragen. Dafür sorgt nicht zuletzt ein weiterer Gesetzentwurf der Bundesregierung, der – falls er so durchkommen sollte – zur Folge hätte, dass mehr als zwei Drittel aller abgelehnten Asylantragstellenden zukünftig überhaupt nicht mehr arbeiten dürfen. Ihnen wird die halbgare Verbesserung also nichts nützen. Stattdessen sollen sie nach dem Willen der Regierung künftig inhaftiert werden und dauerhaft Sozialleistungen unterhalb des Existenzminimums erhalten. Hier verhalten sich Kretschmanns „substanzielle Verbesserungen“ wie ein Marshmallow, der im Feuer zerfließt.

Ähnlich verhält es sich mit den Verbesserungen bei Residenzpflicht und Barleistungsvorrang: Abgesehen davon, dass es sich hierbei um überwiegend symbolische Verbesserungen handelt, wird etwa die Einschränkung der Residenzpflicht als „Belohnung“ für Wohlverhalten genutzt (und nicht etwa die Bewegungsfreiheit als ein Grundrecht verstanden). Auch hier geht es um die Trennung von ausländer- bzw. strafrechtlicher Spreu und Weizen.

Die von Kretschmann gefeierten „Verbesserungen“ sind somit nicht vollständig, aber weitgehend Makulatur. Sie werden mit dazu beitragen, Asylsuchende in „gute“ und „schlechte“ Flüchtlinge zu selektieren. Auch hier lohnt es noch einmal, aus der bemerkenswerten Rede von Torsten Albig (SPD) zu zitieren, in der er begründet, warum Schleswig-Holstein den „Kompromiss“ ablehnt:

„Ich finde es zynisch, Armutszuwanderer und Kriegsflüchtlinge gegeneinander auszuspielen. (…)

Natürlich muss die Residenzpflicht entfallen. Das ist richtig. Aber dass sie fällt, ist ein Gebot der Vernunft, nicht nur aus humanitären Gründen, sondern auch mit Blick auf den Arbeitsmarkt. Wir glauben, dass das mit diesem Kompromiss nicht einmal gut geschieht. Die faktische Einschränkung durch die örtliche Bindung der Gewährung öffentlicher Leistungen läuft im Ergebnis doch wieder auf die Einschränkung der Bewegungsfreiheit bei Mittellosigkeit hinaus. Damit wird die Residenzpflicht für sehr viele Asylbewerberinnen, Asylbewerber und Geduldete weiterhin gelten.

Auch wir wollen, dass die Vorrangpflicht beim Zugang zum Arbeitsmarkt und das Sachleistungsprinzip entfallen. Ja! Aber dafür brauche ich keinen Kompromiss, bei dem ich Gutes mit Schlechtem verknüpfe. Es wäre ein Gebot, das ohnehin zu tun.“

Festzuhalten bleibt: Schleswig-Holsteiner können offenbar doch besser rechnen als Baden-Württemberger. Wenn ich zu wenig bekomme für einen zu hohen Preis, gehe ich ein solches Geschäft nicht ein. So einfach ist das.

Offenbar sieht Kretschmann dies anders: Entweder hält er den Preis für nicht zu hoch – das ließe an seiner Glaubwürdigkeit zweifeln, (schließlich hält er das Sichere Herkunftsstaatengesetz nach eigener Aussage für falsch). Oder er hält den Gewinn für hoch genug – das ließe an seinem Urteilsvermögen zweifeln. Beides jedoch lässt an seiner Eignung als grüner Ministerpräsident zweifeln…