Normalsein in Deutschland

Warum ich meinem Sohn die Haare schneide

Ich schneide meinem Schwarzen dreieinhalb Jahre altem Sohn die Haare. Ich tue das nicht gerne. Ich möchte ihm seine schönen, 15 Zentimeter langen schwarzbraunen Locken erhalten. Es macht mich traurig. Denn ich habe das Gefühl, versagt zu haben – eine Mutter über das Normalsein in Deutschland

Sklavenhändler fingen bis zu 300 Menschen pro Ladung ein. Bevor sie in das Schiff getrieben wurden, schnitt man ihnen die Haare ab. Grund dafür war die Vorbeugung vor Läusebefall. Es war aber auch ein erster Akt der Entwürdigung und der Versuch, den nun versklavten Menschen ein Stück ihres Selbst zu rauben 1.

Heute, 2014, schneide ich meinem Schwarzen 2, dreieinhalb Jahre altem Sohn die Haare. Um Lausbefall mache ich mir keine Sorgen. Wohl aber darum, dass Übergriffe, Ausgrenzungen und Demütigungen, die er in einer mehrheitlich weißen Gesellschaft aufgrund seiner „anderen” Haare erlebt, sein kleines Selbst so beschädigen können, dass für immer Narben bleiben.

___STEADY_PAYWALL___

I want to know my hair again, the way I knew it before I knew that my hair is me, before I lost the right to me, before I knew that the burden of beauty – or lack of it – for an entire race of people could be tied up with my hair and me. – Paulette Caldwell, „A Hair Piece” (2000: 275)

Ich tue das nicht gerne. Ich möchte ihm seine schönen, 15 Zentimeter langen schwarzbraunen Locken erhalten. Es macht mich unendlich traurig. Denn ich habe das Gefühl, versagt zu haben. Das Gefühl ihn zu verraten. Ihm einen wichtigen Teil seines Selbst nehmen zu müssen. Ich fühle mich wie die Sklavenjäger. Und doch nicht ganz. Denn der Grund, warum ich ihm die Haare schneide, ist ein anderer.

In alten afrikanischen Hochkulturen spielten Haare eine sehr wichtige sozialpolitische Rolle. Aufwendige und kunstvolle Haarfrisuren spiegelten den jeweiligen sozialen Status der Person wider, gaben Auskunft über Familien- oder Gruppenzugehörigkeiten. An der Frisur konnte man erkennen, ob eine Person verheiratet war, Kinder hatte, auf der Suche nach einem Partner oder einer Partnerin war. Die Haare und deren Pflege waren ein wichtiger Teil der eigenen Identität.

Als Anfang des 15.Jahrhunderts der transatlantische Sklavenhandel begann, wurden den Sklaven nicht nur die Haare abrasiert, sondern aufgrund der schwierigen, menschenunwürdigen Zustände verschwanden die elaborierten Haarstile schnell.

Im Zuge der Entmenschlichung dieser versklavten Menschen durch ihre weißen „Master”, wurde auch Sprache als gezielte Waffe eingesetzt. Sklavenhalter brachten versklavten Kindern bei, ihre Haare als „Wolle” zu bezeichnen. Jugendlichen Sklaven wurde der Selbsthass auf die eigenen Haare systematisch antrainiert 3. 1850 begründete der Wissenschaftler Peter A. Brown den „offensichtlichen Unterschied der Rassen” zwischen Schwarzen und weißen Menschen damit, dass weiße Menschen Haare haben und Schwarze stattdessen Wolle 4. Alles, was der weißen Herrenrasse ähnlich war, wurde als besser und erstrebenswerter angesehen. Haare wurden Teil des sogenannten „White pride”. So waren versklavte Menschen teurer, die hellere Haut hatten oder glattere Haare. Hellere Sklaven mit glatteren Haaren durften im Haus arbeiten, die anderen mussten aufs Feld. Haussklaven mussten ihre Frisuren mit heißen Eisen glatt und „präsentierbar” machen, um die „weiße Ästhetik” nicht zu „beleidigen”. Feldsklaven mussten Kopftücher tragen und durften ihre Haare nur am Wochenende, wenn sie unter „Ihresgleichen” waren zeigen.

Die durch Vergewaltigung der Sklavinnen durch ihre Master entstandenen Kinder hatten eine größere „bessere” Lockenstruktur und „schönere” helle Haut. Aber auch diese Kinder wurden bestraft, wenn die Haare nicht „gut genug” waren. Die Lockenstruktur der Haare wurde zum ultimativen Test, ob eine Person Schwarz oder weiß war 5. Dies ist auch der Grund, dass viele männliche Sklaven sich die Haare schoren, bevor sie einen Fluchtversuch unternahmen.

Nach dem Ende der Sklaverei hält die Entwertung Schwarzer Haare an. Schwarze Menschen, die ihre Haare ähnlich wie Weiße tragen, gelten als „gut integriert”. Studien belegen, dass sie einfacheren Zugang zu Schulen, Kirchen, sozialen Gruppen und Business Networks bekamen. Produkte wurden entwickelt, mit denen Schwarze Menschen ihre Haare „glätten” können. Trotz höllischer Schmerzen beim Auftragen und nachhaltigen Nebenwirkungen des chemischen Produkts (Ammonium Thyoglycolate) nutzen es bis heute Millionen von Schwarzen Menschen täglich, mit dem Wunsch, die Haare so glatt wie möglich zu bekommen.

In den 1960er Jahren wurden Schwarze Haare zum Symbol der Black Power Bewegung. Sie wurden Teil des Widerstands gegen die Vorherrschaft des weißen Schönheitsideals, und Frauen wie Angela Davis wurden zu Ikonen im Kampf gegen Rassismus und forderten unter Anderem damit weiße Vorherrschaft heraus. Menschen zeigten ihren Schwarzen Stolz indem sie große „Afros“ trugen mit dem Ziel, rassistische Stereotypisierungen anzuklagen, die besagten, dass Schwarze Menschen hässlich, nicht begehrenswert oder gar teuflisch seien 6.

Glatte „weiße” Haare sind weltweit trotzdem immer noch das Schönheitsideal. Es lächelt uns aus allen Schönheitszeitschriften, Filmen, Fernsehserien, und Straßenwerbungen entgegen. Und nicht nur das. Schwarze Frauen, die ihre Haare nicht glätten, haben bis heute schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt, vor allem in Berufen in der Öffentlichkeit. Eines der für mich markantesten Beispiele sind die Töchter von Michelle Obama. Beide hatten bis zur Präsidentschaft ihres Vaters natürliche Haare, geflochten oder offen. Danach sieht man sie nur noch mit geglätteten Haaren. Ich gehe sogar soweit zu sagen, dass Obama vermutlich nicht Präsident hätte werden können, wenn seine Frau nicht geglättet Haare gehabt hätte.

Dies alles weiß ich. Ich habe es nicht nur studiert und recherchiert. Ich habe es selbst erlebt. Immer und immer wieder. Unzählige Male wurde mir in die Haare gegriffen, mir wurde unterstellt, ich könne sie nicht waschen, sie wären dreckig oder unkämmbar. Eine Verwandte verglich sie einmal mit „Putzwolle”. In der Schule wurde meine einzige afrodeutsche Freundin wieder nach Hause geschickt, weil sie mehr als zwei Zöpfe trug. Sie war so nicht „ansehnlich” genug.

Mit 8 Jahren ließ ich meine Haare kurz schneiden. Mit 12 das erste Mal „glätten” mit einem der bereits oben genannten „Relaxer”. Ich wollte dem gängigen Schönheitsideal entsprechen. So sein, wie die Frauen und Mädchen, die mir aus Magazinen, Fernsehwerbungen, Postern entgegen strahlten. Meine Haare sollten im Wind fliegen. Erst mit Anfang zwanzig – und nach intensiver Auseinandersetzung mit meiner Schwarzen Geschichte – ging ich das erste Mal wieder auf die Straße mit den Haaren so, wie sie mir aus dem Kopf wachsen. Ich fühlte mich damals ein bisschen wie Angela Davis. Say it loud – I ‘m black and proud.

Bei der Erziehung meiner zwei Söhne setze ich auf Empowerment. Selbstermächtigung. Stärkung. Ich bemühe mich, dafür zu sorgen, dass sie in ihrer Welt so normal wie möglich sein dürfen. Ich kaufe ihnen Bücher und Filme, in denen auch Menschen wie sie vorkommen. Ich kaufe Schwarze Legofiguren und hänge an Weihnachten Schwarze Weihnachtsengel auf. In unserer Wohnung hängen Poster von Schwarzen Helden und Heldinnen. Ich schaffe reale Vorbilder. Und wir zelebrieren ihre Haare.

Alle zwei Wochen haben wir unseren Haartag. Da sitzt mein kleiner Sohn in der Badewanne, während ich seine Haare kämme und mit gut riechenden Ölen und Essenzen behandle. Er spielt währenddessen mit seinen Dinosauriern, umringt von Bergen von Schaum. Danach kuschelt er sich, in seinen Bademantel gehüllt, auf unser Sofa, umringt von Kissen. Wir schauen entweder einen schönen Kinderfilm oder wir hören ein Hörbuch, während ich – hinter ihm sitzend – seine Haare zu vielen kleinen Twists (2-Strang-Zöpfe) flechte. Er trinkt Kakao. Sein Lieblingskuscheltier darf mit schauen. Das ganze Zimmer riecht nach Kokosnuss, der Duft der Haarcreme, speziell für seinen Haartyp aus den USA bestellt. Wenn ich fertig bin, stellen wir uns vor den Spiegel und er bewundert sich. Mama, ich sehe so „schick” aus. „Ja”, sage ich, „Deine Haare sind wunderbar, Du bist wunderbar.”„Ja“, sagt er. Mit stolzgeschwellter Brust läuft er den Rest des Tages durch seine kleine Welt und ich denke: Diesmal wird es anders. Mein jüngerer Sohn wird nicht sein wie ich. Er wird sich und seine Haare von Anfang an lieben.

Aber die Welt meines Dreijährigen geht inzwischen über die Grenzen unserer Wohnung hinaus. Richtig ist, viele Menschen finden seine Haare wunderbar. Er bekommt viel Aufmerksamkeit. So viel, dass er mit einem Jahr schon jedem, der in den Kinderwagen schaute ein „Nein” entgegen schrie. So viel, dass wir gemeinsam üben, was er sagt, wenn ihm mal wieder jemand Wildfremdes in die Haare fasst. „Du musst mich erst fragen” sagt er. „Richtig”. Sage ich. Bei der Dame auf dem Spielplatz nützt das nichts. „“Wie Teppich” sagt sie. „Du musst mich erst….” sagt er. Dann kommen ihm die Tränen.

„Snow and blow“ wirkt bis heute nach. Auf beiden Seiten des damals erschaffenen Konstruktes. Weiße Menschen sehen sich selbst und ihr Erscheinungsbild repräsentiert. Im Schulunterricht, in den Medien, in der Literatur. Sie lernen, dass Schwarze Menschen die „Anderen” sind. Die, die man mal eben ungefragt anfassen oder anstarren darf. Die, deren Haare sich wie „Teppich”, „Schafs- oder Putzwolle” anfassen. Sie lernen, dass sie selbst die Norm sind.
In meiner Arbeit als Antirassismus- und Empowermenttrainerin lerne ich Eltern kennen, die mir erzählen, dass ihre Schwarzen Kinder nur mit Kapuze in die Schule gehen, die Haare bloß nie offen lassen, sich ihrer Haare schämen.

Mein Sohn kam letzte Woche beim Abholen aus der Kita zu mir und sagte: „ich habe keine Freunde mehr”. Wir gehen bei einigen Kinder, mit denen er gern spielen will, nachfragen.: „Du darfst nicht mitspielen, weil Du hässliche Haare hast”. Sagen sie. „Wir, wir haben normale Haare.”

Nein, die drei weißen Kinder, die ihn da ausgeschlossen haben, sind keine bösartigen Rassisten. Sie wissen nicht, was Rassismus ist. Sie sind auch keine schlechten Kinder. Aber sie sind der Spiegel unserer Gesellschaft und sie haben sich unbewusst der Macht des Rassismus bedient. Sie haben bereits gelernt, dass sie die Norm sind, das Normale. Und dass sie das nutzen können, um andere auszugrenzen.

Die Kitaerzieherinnen haben gut reagiert. Sie machen jetzt ein Projekt zum Thema Vielfalt. Sie wollen Ausgrenzung beim nächsten Elternabend zum Thema machen. Sie wollen meinen Input als Expertin. Das finde ich toll. Und es zeigt, dass Bewegung drin ist und die Welt sich verändert.

Für meinen kleinen Sohn verändert sie sich noch zu langsam. Am Abend nach dem Vorfall hat er geweint und immer wieder davon erzählt. Am nächsten Morgen vor der Kita kam er zu mir und sagte: „Heute setze ich eine Mütze auf, da sieht niemand meine Haare. Dann darf ich mitspielen.” Als wir in der Kita ankommen, schaut ein Junge ihn an. Mein Sohn weint entsetzlich los und schreit immer wieder: „Der soll mich nicht anschauen.”

Heute schneide ich meinem dreieinhalb Jahre altem Sohn die Haare. Um Lausbefall mache ich mir keine Sorgen. Wohl aber um die Tatsache, dass die Übergriffe, Ausgrenzungen und Demütigungen, die er in einer mehrheitlich weißen Gesellschaft aufgrund der Markierungen als Schwarzer Junge erlebt, sein kleines Selbst derartig beschädigen können, dass es für immer Narben hinterlässt.

Ich weiß, dass Haare nachwachsen, dass mein Sohn durch das Umfeld, dass wir ihm bieten und den vielen wunderbaren Menschen, von denen er umgeben ist, trotzdem eine gute Chance hat, ein starker, selbstbewusster junger Mann zu werden. Ebenso wie es ein starkes „natural hair movement” gibt, treffe ich täglich sowohl im Privaten als auch in meiner Arbeit Menschen, die sich mit viel Kraft einsetzen, lernen, lehren, umdenken und etwas verändern wollen. Daher bin ich – trotz allem – voller Hoffnung.

Wir brauchen inklusive Ansätze in unseren Bildungseinrichtungen und in unserer Gesellschaft. Damit sich alle Menschen wertgeschätzt und repräsentiert fühlen und wo „normal sein” nicht gleich „weiß sein” bedeutet. Menschen müssen begreifen, dass Grenzüberschreitungen nicht ok sind und bei den Betroffenen Spuren hinterlassen, auch, wenn sie mit einem Lächeln daher kommen. Und vielleicht können wir dann endlich begreifen, dass das, was im, und nicht das, was auf dem Kopf ist, wirklich zählt.

  1. Byrd and Tharps 2001; White 2005
  2. Den Begriff Schwarz schreibe ich in dem Artikel groß, da es sich hier nicht um ein Adjektiv, sondern um eine politisch selbst gewählte Selbstbezeichnung Schwarzer Menschen in Deutschland handelt.
  3. Bellinger; 2007
  4. Sieber und Herrmann 2000
  5. Der Test nannte sich „snow and blow” – Die Haut so weiß wie Schnee, die Haare fliegen im Wind = weiß
  6. hooks, 1995