10. September 1964

Als Deutschland zum Einwanderungsland wurde

Heute vor 50 Jahren wurde in Köln der einmillionste „Gastarbeiter“ begrüßt; sie waren willkommen. Jeder Arbeiter hatte eine Stellenzusage und Unterkunft, bevor er sich auf den Weg nach Deutschland machte. Die meisten sind geblieben, der einmillionste „Gastarbeiter“ nicht.

Als Armando Rodrigues de Sà am 10. September 1964 im Bahnhof Köln-Deutz aus dem Zug steigt, ist er erschöpft. Mehr als 48 Stunden Zugfahrt liegen hinter ihm. Minuten später findet er sich im Blitzlichtgewitter wieder. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) begrüßt den Portugiesen als einmillionsten Gastarbeiter mit Willkommensgeschenken: Einem Strauß Nelken und einem Mokick. „Gastarbeiter waren damals in Deutschland willkommen“, sagt Ulrich Op de Hipt vom Haus der Geschichte in Bonn. Ausländerfeindlichkeit sei noch kein Thema gewesen.

Mitte der 60er Jahre habe es das gegeben, was heute oft gefordert wird, nämlich eine Willkommenskultur, sagt der Historiker, der gerade eine Ausstellung zum Thema Einwanderung vorbereitet. Damals habe aber noch niemand daran gedacht, dass Deutschland einmal zum Einwanderungsland werden könnte. Sowohl die Deutschen, als auch die Gastarbeiter selbst gingen davon aus, dass sie wieder in ihre Heimat zurückkehren würden.

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Viele wären zurückgegangen
Viele hätten das auch getan, sagt Op de Hipt. Die Wende sei 1973 mit dem Anwerbestopp für Arbeitnehmer aus Nicht-EG-Ländern gekommen. Das führte dazu, dass ausländische Arbeitnehmer verstärkt in Deutschland sesshaft wurden. Denn für Türken, Jugoslawen, aber auch für Spanier und Portugiesen bedeutete der Anwerbestopp, dass sie in Deutschland keine neue Stelle suchen konnten, wenn sie einmal in die Heimat zurückgekehrt waren. Viele hätten darauf hin ihre Familien nach Deutschland geholt, sagt Op de Hipt. Der Zuzug neuer Gastarbeiter war allerdings erst einmal gebremst.

50 Jahre später könne man nun von einer neuen Einwanderungswelle arbeitsuchender Menschen aus Südeuropa sprechen, sagt Karl Brenke vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Wanderten 2009 unter dem Strich 28.000 Menschen nach Deutschland ein, so stieg die Zahl in den darauf folgenden Jahren bis auf 459.000 im vergangenen Jahr. Eine erste Welle sei 2011 mit dem Eintritt der vollständigen Arbeitnehmerfreizügigkeit für die EU-Neumitglieder Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowenien, Slowakei, Tschechien und Ungarn zu verzeichnen gewesen, sagt Brenke. Die Wirtschaftskrise habe dann in den vergangenen Jahren einen verstärkten Zuzug aus Spanien, Portugal und Griechenland ausgelöst.

Qualifikationsstruktur hat sich verändert
Ähnlich wie die Gastarbeiter in den 60er Jahren planten viele dieser Ausländer, wieder in ihr Heimatland zurückzukehren, sagt Brenke. Allerdings könne man sie nicht mit den Arbeitskräften vergleichen, die vor 50 Jahren aus Südeuropa oder der Türkei nach Deutschland kamen. „Die Qualifikationsstruktur der Zuwanderer hat sich erheblich verändert.“ Damals hätten nur neun Prozent der Gastarbeiter einen Hochschulabschluss gehabt, heute sei ein Drittel Akademiker. Während die Hälfte der Einwanderer vor 50 Jahren keine abgeschlossene Berufsausbildung hatte, sind dies heute nur noch rund 30 Prozent.

Diese Zuwanderer mit mangelnder Qualifikation und fehlenden Sprachkenntnisse hätten allerdings heute Probleme auf dem deutschen Arbeitsmarkt, sagt Kostas Dimitriou, Vorstandsmitglied der Bundesarbeitsgemeinschaft der Immigrantenverbände. Bei Arbeitssuchenden in den südeuropäischen EU-Ländern sei durch Medienberichte häufig der falsche Eindruck entstanden, in Deutschland sei es generell einfach, Arbeit zu finden. Dass nur bestimmte Qualifikationen gesucht würden, werde in Medienberichten oft nicht deutlich. So erreichten die Immigrantenvereine jeden Tag zahlreiche Hilferufe von Menschen, die auf gut Glück nach Deutschland gekommen seien und nun Probleme hätten.

„Obwohl es damals noch keine EU gab, war das in den 60er Jahren besser organisiert“, sagt Dimitriou, dessen Eltern in dieser Zeit aus Griechenland nach Deutschland einwanderten. Damals seien die benötigten Arbeitskräfte in den Herkunftsländern gezielt angeworben worden. Jeder Arbeiter habe eine Stellenzusage und eine Unterkunft gehabt, bevor er nach Deutschland aufgebrochen sei. Es müsste in den Herkunftsländern besser über die Arbeitsmöglichkeiten in Deutschland informiert werden, fordert Dimitriou.

Tragischer Tod
Armando Rodrigues de Sà arbeitete sechs Jahre erfolgreich in Deutschland. Für Frau und Kinder konnte er in Portugal ein Haus kaufen. Doch de Sà konnte den hart erarbeiteten bescheidenen Wohlstand nicht mehr genießen. 1970 kehrte er in die Heimat zurück, wurde krank und starb 1979 an Magenkrebs. Tragischerweise wusste de Sà nicht, dass er Anspruch auf Krankengeld aus Deutschland hatte. Seine medizinische Behandlung fraß seine Ersparnisse auf.

Geblieben ist allerdings sein Mokick. 1998 trieben es Mitarbeiter des Hauses der Geschichte in Portugal auf und brachten es nach Bonn. Dort steht das zerkratzte und leicht rostige Zweirad in der Dauerausstellung als Symbol für das Leben von Millionen Gastarbeitern. (epd)