Judentum begreifen

Für einen Moment ein jüdischer Junge sein

„Viele kennen heutzutage aus dem Alltag keine jüdischen Menschen mehr“, sagt der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Osnabrück. Das Schulprojekt „Judentum begreifen“ steuert diesem Umstand entgegen – Martina Schwager war dabei.

Jan setzt sich eine Kippa auf den Kopf und hängt sich den Gebetsschal um. Aufmerksam verfolgt der Zehnjährige, wie der jüdische Künstler Sasha Ginsburg ihm den Tefillin, den Gebetsriemen, um den Arm bindet. „Da bin ich ja jetzt ein richtiger jüdischer Junge“, sagt er und strahlt. Der 55-jährige Ginsburg vermittelt an diesem Vormittag den Fünftklässlern im Greselius-Gymnasium in Bramsche bei Osnabrück seine Kultur und Religion. „Judentum begreifen“ nennt sich das Projekt.

Träger der Initiative war zunächst die Osnabrücker Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, seit zwei Jahren ist es der Verein „Projekt Judentum begreifen“. Seit 2007 gehen Juden in die 4. Klassen und in weiterführende Schulen in den Regionen Osnabrück und Emsland und gestalten dort mit einer Klasse einen Projekttag. Begleitet werden sie vom Initiator und Leiter des Projekts, Aloys Lögering. Der 71-Jährige ist Katholik.

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Gemeinsam bieten sie Workshops an, in denen die Kinder koscher kochen, nach traditioneller Musik tanzen oder mit dem Künstler Ginsburg jüdische Symbole malen können. Persönliche Begegnungen und Anschauungsobjekte sollen jüdische Kultur und Religion lebendig machen, sagt Lögering: „Wir ergänzen den Unterricht mit Kopf, Herz und Hand.“ Werbung macht der Verein kaum. „Unsere gute Arbeit spricht sich offenbar herum. Mittlerweile sind wir bis zu 30 Tage im Jahr unterwegs.“

Dem jüdischen Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik zufolge könnte das Projekt Vorbild für weitere Initiativen sein. Er beobachtet seit einigen Jahren, dass „das kulturelle Wissen um die Bedeutung der Religionen dahinschwindet“. Für eine multikulturelle Migrationsgesellschaft wie Deutschland sei es wichtig, dass jeder die Religion und Kultur des anderen kenne. Würden solche Projekte über Jahre in die Stundenpläne integriert, könnten sie auch dem derzeit wieder aufbrechenden Antisemitismus entgegenwirken.

Diese Art der Vermittlung sei „genau der richtige Weg“, betont der Vorsitzende des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in Niedersachsen, Michael Fürst. Er hält es für besonders wichtig, dass bei dem Projekt auch muslimische Schüler einbezogen werden: „Schön wäre es, wenn auch deutsch-palästinensische Gesellschaften mitmachen würden.“

Juden könnten mit den Schülern – christlichen wie muslimischen – authentisch über die Bräuche und Traditionen sprechen, sagt Michael Grünberg, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Osnabrück: „Viele kennen heutzutage aus dem Alltag keine jüdischen Menschen mehr.“ Auch Lögering bestätigt das: „Die meisten Kinder registrieren zum ersten Mal, dass Juden unter uns leben.“

Der pensionierte Lehrer Lögering engagiert sich seit Jahren für ein friedliches Miteinander der Religionen. Das Projekt „Judentum begreifen“ finanziert er unter anderem mit Hilfe des katholischen Bistums Osnabrück und der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers.

Für den Vormittag im Greselius-Gymnasium haben Lögering, Ginsburg und Projektkoordinatorin Inessa Goldmann in drei Koffern Thorarollen, Kerzenleuchter, bunte Papiere, Klebstoff, Wolle und Farbstifte mitgebracht. Lögering bastelt mit den Kindern Masken für das Purimfest. Die Juden erinnern damit an das biblische Buch Esther. „In der Geschichte versucht Haman, die Juden zu vernichten. Aber Esther rettet das jüdische Volk“, weiß der elfjährige Derek.

Der Höhepunkt für die Kinder an diesem Vormittag ist die Feier des Pessachfestes im Gedenken an den Auszug der Israeliten aus Ägypten. Inessa Goldmann hat dafür eigens einen Salat aus Äpfeln, Nüssen, Zimt und Honig zubereitet. Auch das traditionelle Mazzabrot und Traubensaft stehen auf dem Tisch. Jan ist begeistert: „Das gibt uns einen Einblick, wie die jüdischen Kinder das Pessachfest feiern.“ (epd/mig)