Demokratieentwicklung

Türkisches Verfassungsgericht als Puffer

Die Türkei ist tief gespalten – zwischen Anhängern von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und der Opposition. Einer der weniger Puffer zwischen den Fronten ist das Verfassungsgericht. Aber ist das genug, um die Demokratie am Bosporus zu verteidigen?

Bei den türkischen Kommunalwahlen Ende März errang die regierende Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) einen Erdrutschsieg und erzielte 45,6 Prozent der Stimmen. Die Partei von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan gewann trotz der Korruptionsverfahren gegen einige seiner Kinder und Minister, seiner plumpen Vorgehensweise während der Gezi-Proteste im vergangenen Jahr und der anhaltenden Versuche, die Meinungsfreiheit im Land einzuschränken. Dieses Wahlergebnis könnte Erdogan nun genug Vertrauen geben, um bei den Präsidentschaftswahlen im kommenden August anzutreten, was viele politische Beobachter vermuten. So könnte er seine Machtposition im politischen System der Türkei festigen.

Dem jüngsten Türkei-Bericht des Bertelsmann Transformationsindex (BTI) zufolge ist das politische Management der türkischen Führung im Allgemeinen stabil. Der BTI, der Regierungshandeln in Transformationsländern untersucht, stellt fest, dass „eine stimmige Leistung auf allen Führungsebenen politische Stabilität bedingt”. Bei der Umsetzung und Koordinierung von politischen Maßnahmen beispielsweise schneidet die Türkei in der Bertelsmann-Studie sehr gut ab. Hier erreicht das Land jeweils 9 von 10 Punkten.

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Der BTI-Bericht macht aber auch deutlich, dass in vielen anderen Bereichen der Regierungsführung in der Türkei erhebliche Mängel auftreten. Die Zivilgesellschaft kann beispielsweise nur eingeschränkt am politischen Geschehen teilhaben. Zivilgesellschaftliche Institutionen, die der Regierung kritisch gegenüberstehen oder Anliegen verfolgen, von denen angenommen wird, dass sie den Interessen der Regierung schaden könnten, geraten oft in ernste Schwierigkeiten.

Verhaftete Journalisten und Selbstzensur

Die Sustainable Governance Indicators (SGI)-Studie, die Regierungshandeln in Ländern der OECD und der Europäischen Union untersucht, kommt zu einem ähnlichen Ergebnis. Bei der Demokratiequalität, wo Aspekte wie Meinungs- und Medienfreiheit untersucht werden, belegt die Türkei den allerletzten von 41 Plätzen.

Ein Grund für das schlechte Abschneiden ist, dass sich die türkische Regierung dem Recht auf Meinungsfreiheit nur schwach verbunden fühlt. Im März verhängte sie ein Verbot des Kurznachrichtendienstes Twitter und der Videoplattform YouTube, nachdem dort Telefonmitschnitte veröffentlicht wurden, die die Korruptionsvorwürfe gegen den Erdogan und seine Regierung untermauerten. Ein landesweiter Aufschrei war die Folge. Auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter Ohne Grenzen liegt die Türkei auf Platz 154 von 179.

Beim Zugang zu Informationen für Öffentlichkeit und Medien belegt die Türkei unter allen OECD- und EU-Staaten den vorletzten Platz. Bei der Medienfreiheit rangiert die Türkei sogar auf dem allerletzten Platz und erreicht nur 3 von 10 Punkten. Laut SGI-Bericht untergräbt „die wachsende Tendenz, Medienschaffende zu verhaften (…) die Medienfreiheit und fördert Selbstzensur“.

Das Verfassungsgericht verteidigt die Bürgerrechte

Eine der wenigen Institutionen, die sich dem autoritären Vorgehen der türkischen Regierung erfolgreich entgegen stellt, ist das Verfassungsgericht. Seit seiner Gründung 1960 spielt es in der türkischen Politik eine zentrale Rolle. Sein Hauptzweck ist es, die Verfassungsordnung zu verteidigen.

Nachdem die Regierung jüngst verschiedene soziale Medien verboten hat, schaltete sich das oberste Gericht des Landes ein. Anfang April entschied es, dass das Verbot von Twitter illegal ist und eine Verletzung der Gesetze zum Schutz der Meinungsfreiheit darstellt. Das Gericht nannte das Verbot „illegal, willkürlich und eine ernste Beschränkung des Rechts auf Informationen“. Ende Mai ordnete es außerdem an, die YouTube-Sperre in der Türkei aufzuheben. Wieder entschieden die Richter, dass das Verbot die Meinungsfreiheit verletzt und verfassungswidrig ist.

Kurz nach der Aufhebung des Twitter-Verbots kippte das Verfassungsgericht darüber hinaus zentrale Elemente von Erdogans Justizreform. Die Richter hoben die geplante Ausweitung der Befugnisse des Justizministers über das Kontrollgremium HSYK, das die Richter und Staatsanwälte ernennt und entlässt, auf. Die Reaktionen der Regierung waren verhalten: „Die Entscheidung des Verfassungsgerichts hat meine Meinung nicht geändert. Aber wir werden uns natürlich an die Entscheidung halten,“ sagte Justizminister Bekir Bozdag.

Das türkische Verfassungsgericht trägt also erheblich dazu bei, die Unabhängigkeit der Justiz und die Meinungsfreiheit zu schützen. Das Gericht bildet einen Puffer zwischen Regierung und Bürgern und ist eines der Hauptkontrollorgane im politischen System der Türkei.

Nichtsdestotrotz hat das türkische Parlament vor Kurzem neue Gesetze zur Zensur des Internets und zur Ausweitung der Befugnisse und der Immunität des Geheimdienstes verabschiedet. Dies ist ein Beispiel dafür, wie die Gewaltenteilung in der Türkei im Prinzip vorhanden ist, doch die Kontrollen schwach sind. Der Türkei-Bericht der Europäischen Kommission 2013 hebt ebenfalls hervor, dass die Regierung immer noch zu viel Einfluss auf das Kontrollgremium HSYK besitzt.

Die Türkei ist heute gespalten zwischen denen, die die regierende AKP unterstützen und denen, die Premierminister Erdogan eher früher als später gehen sehen möchten. Das belegt auch der BTI-Bericht: „Im Land lässt sich ein feindseliges politisches Klima beobachten. Unterstützer der AKP-Regierung und ihrer Maßnahmen stehen sich Verteidigern und Partisanen des alten kemalistischen Systems und seiner Eliten gegenüber. Obwohl es der zivilen Führung bislang gelungen ist, die Macht seiner Gegner erheblich einzuschränken, bleiben die zugrundeliegenden politischen Spannungen ein Problem für die Zukunft. Dazukommt das immer offensichtlichere Problem, dass führende Politiker der AKP davon träumen, ein autoritäres System aufzubauen.“ Die Türkei muss einen Weg finden, diese unterschiedlichen Interessen einzugliedern und die Bedrohungen durch eine breiter werdende Kluft zwischen religiösen, konservativen, traditionellen und fortschrittlichen Gruppen in der Gesellschaft zu minimieren.