Jenseits falscher Entgegensetzungen

Zuwanderung aus Bulgarien zu Rumänien zwischen Arbeits- und Armutszuwanderung

Handelt es sich bei den Einwanderern aus Bulgarien und Rumänien um Arbeits- oder Armutszuwanderer? Darüber streiten zwei Lager meist emotional und populistisch. Stefan Böckler fordert einen differenzierten Blick – anhand der Faktenlage.

Die Diskussion über die Zuwanderung von bulgarischen und rumänischen Staatsbürgern nach Deutschland und vor allem in bestimmte Kommunen weist eine ausgeprägte Polarisierung zwischen auf beiden Seiten emotional hochaufgeladenen Sichtweisen auf.

Auf der einen Seite werden im eher rechten Teil des politischen Spektrums Begriffe wie „Sozialtourismus“ (das Unwort des Jahres 2013) oder Bilder von Müllbergen vor sogenannten „Romahäusern“ beschworen – wie dies in jüngster Vergangenheit auf Duisburger Wahlplakaten geschehen ist. Bulgaren und Rumänen wandern demnach massenhaft in deutsche Kommunen ein, betreiben dort einen genauso massenhaften Missbrauch der Sozialsysteme und treiben die betroffenen Quartieren in die Verwahrlosung.

___STEADY_PAYWALL___

Allerdings lassen sich bei genauerem Hinsehen die unterstellten Zustände nur schlecht belegen: Daten über die missbräuchliche Inanspruchnahme von Sozialleistungen existieren kaum oder weisen, wo es sie gibt, bundesweite Fallzahlen im zweistelligen Bereich aus; die gezeigten Müllberge existieren schon lange nicht mehr, und in den besagten „Romahäusern“ wohnen inzwischen keine Bulgaren und Rumänen mehr.

Auf der anderen Seite hat sich eine deutlich zuwandererfreundlichere Phalanx formiert, die sich mit ähnlicher Insistenz darin gefällt zu zeigen, dass nicht nur die von ersterer Position entworfenen Horrorszenarien jeglicher faktischer Grundlage entbehren, sondern im Gegenteil eher Anlass zum Entwurf eines idyllischen Zuwanderungsszenarios besteht. Angesichts des drohenden Fachkräftemangels in Deutschland stellt die große Zahl an hochqualifizierten und bestens in den Arbeitsmarkt integrierten bulgarischen und rumänischen Zuwanderern keineswegs eine Belastung des deutschen Wirtschafts- und Sozialsystems dar, sondern im Gegenteil eine deutliche Bereicherung in einer schwierigen Mangelsituation auf dem Arbeitsmarkt. Von „Armutszuwanderung“ kann in dieser Sicht nur die Rede sein, wenn man Interessen an einer fremdenfeindlichen Instrumentalisierung dieser Zuwanderung besitzt.

Die Fakten: Arbeits- und Armutszuwanderung
Bedauerlich ist allerdings, dass auch letztere Fraktion es mit den Tatsachen nicht ganz so genau nimmt. Bis heute kursiert in den entsprechenden Verlautbarungen die abwegige Behauptung, 80 Prozent aller zwischen 2007 und 2011 nach Deutschland zugewanderten Bulgaren und Rumänen seien sozialversicherungspflichtig auf dem ersten Arbeitsmarkt beschäftigt. Wäre dies so, würde sich tatsächlich jede weitere Diskussion über eine mangelnde Arbeitsmarktintegration (und damit über eine Armutszuwanderung) beider Gruppen verbieten; eine vergleichbar günstige Integration in den Arbeitsmarkt weisen allerhöchstens männliche Deutsche ohne Migrationshintergrund mit akademischem Abschluss im Alter zwischen 25 und 45 Jahren auf – eine Gruppe, die vermutlich kaum mit Armutsproblemen zu kämpfen hat.

Ein Blick auf die Daten der Bundesanstalt für Arbeit zeigt den kontrafaktischen Charakter dieser Behauptung: Ende 2012 waren tatsächlich nur 32 Prozent der in Deutschland lebenden Bulgaren und Rumänen zwischen 15 und 65 Jahren sozialversicherungspflichtig beschäftigt.

Daneben werden immer wieder Zahlen zu Argumenten gemacht, die aufgrund der spezifischen rechtlichen Situation der Zuwanderer aus Bulgarien und Rumänien nur begrenzte Aussagekraft besitzen: Der geringe Anteil an SGB-II-Beziehern unter diesen Zuwanderern beispielsweise sagt wenig über deren gelungene Integration in den regulären Arbeitsmarkt (und zukünftige Belastungen des deutschen Sozialsystems) aus, sondern ist vielmehr Ausdruck der aktuell für beide Gruppen bestehenden rechtlichen Einschränkungen des Zugangs zu SGB-II-Leistungen: Ohne vorausgegangene selbstständige oder nicht-selbstständige Tätigkeit besteht im Regelfall kein Anspruch auf SGB-II-Leistungen – und finden die damit betroffenen Personen keine Berücksichtigung in den entsprechenden Statistiken.

Und da wo dann doch mehr oder weniger aussagekräftige Daten ins Feld geführt werden, wird selbstverständlich nur die Seite der Medaille präsentiert, die mit dem eigenen Weltbild zusammenpasst.

Zwar zeigen Sonderauswertungen des Mikrozensus, die renommierte deutsche Forschungsinstitute durchgeführt haben, tatsächlich, dass ein nicht geringer Anteil der bulgarischen und rumänischen Zuwanderer gut- bis hochqualifiziert ist (die Schätzungen bewegen sich zwischen 20 und 30 Prozent). Allerdings weisen dieselben Untersuchungen einen deutlich höheren Anteil an Bulgaren und Rumänen ohne jeglichen Berufsabschluss auf (je nach Studie zwischen 39,5 und 46 Prozent).

Wenn man berücksichtigt, dass im Mikrozensus aufgrund seiner Erhebungsmethodik sprachlich und bildungsmäßig benachteiligte Angehörige dieser Zuwanderergruppen systematisch unterrepräsentiert sind, ist von einem durchaus noch höheren Anteil an beruflich Unqualifizierten auszugehen. Wenn man darüber hinaus weiß, dass die entsprechenden Werte bei der deutschen Bevölkerung ohne Migrationshintergrund bei unter 10 Prozent liegen, stehen diese Zahlen für eine enorme bildungs- und beschäftigungspolitische Herausforderung.

Diese Daten für Deutschland insgesamt zeigen, dass auch die sich inzwischen in der öffentlichen Debatte durchsetzende Sicht einer qualifizierten und insofern arbeitsmarktpolitisch unproblematischen Zuwanderung auf Bundesebene auf der einen, einer Konzentration in dieser Hinsicht problematischer Zuwanderergruppe auf einige wenige Kommunen auf der anderen Seite so nicht der Wirklichkeit entspricht. Auch auf Bundesebene stammen große Teil der Zuwanderer aus Bulgarien und Rumänien aus armen Verhältnissen und laufen ein hohes Risiko, auch in Deutschland in solchen Verhältnissen zu verbleiben.

Die Situation in den Kommunen
Dass diese Gruppe der „Armutszuwanderer“ vermutlich eher den größeren Anteil der Gesamtzuwanderer ausmacht, wird allerdings in bestimmten Kommunen zur Gewissheit. Zum einen liegen die Anteile der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in diesen Kommunen deutlich unter dem Bundesdurchschnitt (in Duisburg 10,8, in Dortmund 14,8 Prozent); zum anderen weisen die vom IAB berechneten Kennziffern für Duisburg und Dortmund etwa doppelt so hohe Arbeitslosenquoten bei den Bulgaren und den Rumänen wie in der Gesamtbevölkerung aus. In Duisburg liegt diese Quote mit 33,8 % dabei noch deutlich über der entsprechenden Quote der Ausländer insgesamt (25,3 Prozent).

Auch die Bildungssituation gestaltet sich in diesen Kommunen deutlich schwieriger als auf Bundesebene: Aufgrund der Daten der Bundesagentur für Arbeit zur beruflichen Qualifizierung von SGB-II-Beziehern aus diesen Gruppen und der Einschätzungen von professionell mit ihnen Befassten besitzen in beiden Städten ca. 90 Prozent der bulgarischen und rumänischen Zuwanderer keinen Berufsabschluss.

Das Gesamtbild
Wenn man die Wirklichkeit der Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien also nicht durch die Brille seiner fremdenfeindlichen Ängste oder frommen Wünsche betrachtet, ergibt sich insgesamt ein deutlich differenzierteres Bild als dasjenige, das die ideologischen Vereinfacher beider Seiten gerne zeichnen: Ähnlich wie der überwiegende Teil anderer aktuell verstärkt nach Deutschland zuwandernden EU-Bürger aus Süd- und Osteuropa ist auch ein beträchtlicher Anteil der zugewanderten Bulgaren und Rumänen unter dem Konto „Arbeitszuwanderung“ zu verbuchen. Anders als bei den Zuwanderern aus anderen europäischen Ländern handelt es sich aber bei einem großen Teil der Zuwanderer aus den EU-2-Staaten tatsächlich um Armutsflüchtlinge, die nicht nur aus armen Verhältnissen stammen, sondern auch sehr schlechte Voraussetzungen dafür mitbringen, sich in Deutschland aus solchen Verhältnissen zu befreien.

Die politischen Herausforderungen
Dass dies die Bundesrepublik in Zukunft vor gewisse bildungs- , beschäftigungs- und finanzpolitische Herausforderungen stellen wird, ist wahrscheinlich. Hierfür spricht nicht nur die (Nicht-)Qualifikationswirklichkeit beider Gruppen, sondern auch die sich abzeichnende rechtliche Lage: Sollte der EuGH den im SGB-II festgelegten Leistungsausschluss für arbeitssuchende EU-Ausländer als mit der Freizügigkeitsrichtlinie und dem Diskriminierungsverbot des Lissabonvertrags unvereinbar erklären, ist für die Zukunft ein deutliches Anwachsen des SGB-II-Bezuges beider Gruppen zu erwarten.

Dass ein so reiches Land wie Deutschland diese Freizügigkeitskosten (denen unbestreitbar deutliche Freizügigkeitsgewinne gegenüberstehen) stemmen und damit einen Beitrag zur Armutsbekämpfung in der Europäischen Union leisten kann, ist nachvollziehbar – auch wenn hierfür sicherlich auch die Herkunftsländer und die Europäische Union als Mitverantwortliche für die aktuelle Situation mit in die Pflicht genommen werden müssten.

Kaum nachvollziehbar ist allerdings, wie das die besonders betroffenen Kommunen, die meist in der Haushaltssicherung stehen bzw. von ihr bedroht sind, leisten sollen. Nicht nur entstehen ihnen schon jetzt erhebliche Kosten in verschiedenen Bereichen (Hilfen zur Gesundheit/Pflege, Beschulung, Kinder- und Jugendhilfe, Sprachförderung, Unterbringung), sondern kommen mit dem wahrscheinlichen Anstieg der SGB-II-Bezieher Unterhaltskosten auf sie zu, die sie aus eigenen Kräften nicht bestreiten werden können.

Zu einer angemessenen Diskussion über notwendige Maßnahmen auf europäischer, Bundes- und Landesebene angesichts dieser großen Herausforderungen trägt weder ihre „populistische“ Dramatisierung noch ihre „gutmenschliche“ Leugnung bei, sondern nur ein nüchterner Blick auf die Verhältnisse, so wie sie wirklich sind.