Third Culture

„Fröstelst Du, Mama? Die Sonne scheint doch!“

Mein bald fünfjähriger Sohn und ich verbrachten ein paar Tage in Weimar, der Stadt der deutschen Dichter und Denker, Musiker und Künstler. Es verwundert nicht, dass dieser inspirierende Ort 1999 von der UNESCO als „Kulturhauptstadt Europas“ ausgezeichnet wurde. Ich machte viele Worte über Kunst und in dem „Garten mit den großen Steinen“ fehlten sie mir.

Von Scarlett Ammá Mittwoch, 28.05.2014, 8:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Samstag, 07.05.2022, 16:45 Uhr Lesedauer: 6 Minuten  |  

Im Schlossmuseum schlenderten wir an den unterschiedlichsten Kunstwerken vorbei und ich konnte mich kaum mit Kommentaren zurückhalten. Ich erzählte meinem Sohn, woran man erkennt, welcher Apostel dargestellt ist. Petrus hält zum Beispiel die Schlüssel zum „Reich der Himmel“ in der Hand. „Wenn man weiß, was die Dinge bedeuten, dann kann man Bilder lesen“, erklärte ich. „So wie in meinem Bilderbuch mit der Kuh?“, mischte sich sein süßer Kinder-Singsang in meinen Redefluss. „Genau!“, freute ich mich. „Die Fröstelnde“ von Houdon kommentierte er mit: „Die ist ja nackt. Die friert!“

Als ich ihm erzählte, dass der Künstler ein „Gefühl zum Anschauen“ gemacht hat und dass die „Die Fröstelnde“ ein Bild für den kalten Winter sein soll, betrachtete er die Figur noch einmal ganz genau. Ich war erstaunt, wie interessiert er zuhörte und wie treffend er und das kleine Mädchen, das sich uns angeschlossen hatte, nachfragten. Vorbeigehende Besucher lächelten amüsiert und die Aufsicht erzählte ihnen kindgerecht Wissenswertes über das goldene Prinzessinenbett und die Musikinstrumente. Gerne hätte ich ihnen noch erklärt, wer von wem und aus welchen Ländern inspiriert wurde, aber das verschob ich besser auf „viel später“. Dann gingen wir gut gelaunt gemeinsam mit dem Mädchen und seinen Eltern „das beste italienische Eis der Stadt“ essen und Kutsche fahren.

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Ein Garten mit großen Steinen

Im Goethepark zwischen Goethe, Schiller, Houdon und Bienenmuseum kamen wir an einem „Garten mit großen Steinen“ vorbei. Und ich sollte erzählen, was da draufsteht. „Ja, Spatz“, druckste ich „da stehen Namen drauf, russische Namen und Zahlen.“ Viele davon lauten 1925 – 1945 und 1929 – 1945. Zwischen Kunst und Kultur, zwischen Inspiration und Kinderlachen, unter Sonne und Blumen liegen Erinnerung und Mahnung. Ich fühlte mich ähnlich ergriffen, wie im Schlossmuseum – nur in eine andere Richtung. Ich sah meinen kleinen Sohn mit seinem Fahrrad zwischen den Gräbern russischer Kinder und junger Erwachsener umherfahren. Heather Nova sang in mir und über den Gräbern Every Soldier is a mother’s son:

(…) You say the world will be a better place
After this war is won
You say no sacrifice too great
But every soldier is a mother’s son

No war that can be won
When every soldier is a mother’s son (…)

WAR PORN – gegen das Vergessen

Gerade hat der Kriegsreporter und Fotograf Christoph Bangert einen kleinen Band in Notizbuchgröße mit dem Titel „WAR PORN“ herausgegeben. Er zeigt unter anderem tote Kinder, viel Blut und noch mehr Blut. Der Krieg ist schlimmer, als wir denken und das Leid größer, als wir es uns vorstellen können. Ein kleines „Bilderbuch“ mit großem Anliegen: gegen das Verdrängen und Vergessen. Und gegen das Verschweigen, wie es sein Großvater, ein Truppenarzt und überzeugter Nazi, getan hätte. Denn wenn wir nicht hinschauen, wenn wir vergessen und nicht aufarbeiten, hat Geschichte die Möglichkeit, sich zu wiederholen.

WAS FÜR ZAHLEN

„Und WAS FÜR ZAHLEN STEHEN DA DRAUF?“, riss mich mein Sohn laut aus meinen Gedanken. Als ich nicht antwortete, zupfte er mich am Mantel: „Fröstelst Du, Mama? Die Sonne scheint doch!“ „Die anderen warten am Bienenmuseum“, sagte ich, „wir müssen uns beeilen.“ Einige Tage später fuhren wir an dem Schild „Buchenwald 9 km“ vorbei. Eine „Blutstraße“ führt dort zur Gedenkstätte. Hier waren insgesamt 239.000 Menschen aus 35 Nationen inhaftiert. Bis 1945 starben dort 35.000 Menschen. In Buchenwald und seinen Außenlagern verloren insgesamt 56.000 Menschen ihr Leben.

Dein Volk ist alles!

Im Buchenwald wanderte zu seiner Zeit auch Goethe, und die Weimarer benannten ebendort eine sehr alte Eiche nach ihm. Während des Nationalsozialismus wurde der Wald gerodet, die Goethe-Eiche jedoch verschont; denn die Eiche galt nicht nur als deutscher Nationalbaum, sondern Goethe zählte bei den Nationalsozialisten auch zu den „Großen Deutschen“. Obwohl Goethe ein Kosmopolit und eine von mehreren Kulturen positiv beeinflusste und inspirierte Persönlichkeit war, wurde er (wie viele andere) benutzt, um zur „Erziehung zum bewussten Deutschtum“ beizutragen. Vor einiger Zeit brachte mich eine Recherche zur „Presse im Dritten Reich“ und näher zum Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda und Leiter der Reichskulturkammer, Joseph Goebbels, als ich wollte. Goebbels wurde nicht müde, mit den Worten: „Du bist nichts, Dein Volk ist alles!“ die Eingliederung in eine opferbereite Volks- und Leistungsgesellschaft zu beschwören. Mit Zensur und verschiedenen anderen Mitteln wurde eine pseudoeinheitliche deutsche Kulturnation geschaffen, in der sich die Vielfalt, die Einflüsse anderer Kulturen und die Differenzen auf unterschiedliche Trachtenschnitte reduzierten.

Die richtige Religion zeigt sich im Handeln

Auch heute werden Zitate von Goethe aus dem Zusammenhang gerissen und politisiert. Es werden erbittert Diskussionen darüber geführt, ob Goethe islamkritisch gewesen ist, den Islam überhaupt richtig gekannt hat, über seine zahlreichen, den Islam verehrenden Worte und über sein Zitat im „West-östlichen Divan“: „Der Dichter … lehnt den Verdacht nicht ab, daß er selbst ein Muselmann sei.“ Hervorzuheben ist, dass Goethe in der Zeit der Aufklärung lebte, die unter anderem vom Gedanken der Toleranz beherrscht war – frei nach Lessing (in Nathan der Weise): Die richtige Religion zeigt sich im Handeln.

Reime zum leicht Merken

Kurz vor der Rückfahrt hatten wir eine Panne und mussten mit dem Ersatzreifen zur ADAC-Werkstatt nach Erfurt. Auf dem Weg dorthin fuhren wir durch eine Allee schwarz-roter Plakate. Darauf standen leicht zu merkende Reime wie zum Beispiel „Geld für die Oma statt für Sinti und Roma“.

Weltkarte der Kulturen

Die aggressiven Plakate zur Europawahl rund um die „Kulturhauptstadt Europas“ berührten mich sehr unangenehm. Kurz nach unserem Weimar-Aufenthalt bekam ich passend die Erinnerung an den bundesweiten Welterbetag am 1. Juni. Das Motto dieses Jahr lautet „UNESCO-Welterbe ohne Grenzen“ und greift den Gedanken einer Weltkarte der Kulturen auf. „Immer mehr Menschen entdecken diese großartige Idee des Welterbes und fühlen sich mit anderen Kulturen verbunden.“, so Dr. Roland Bernecker, Generalsekretär der Deutschen UNESCO-Kommission. „Der Welterbetag in Deutschland bietet eine besondere Gelegenheit, auch den Spuren der eigenen Geschichte zu folgen. Wer sich in seiner Region auf die Reise in die Vergangenheit begibt, erlebt einzigartige Schlösser, Altstädte, Industrieanlagen und Naturlandschaften.“ Und dazwischen unter Sonne und Blumen liegen Erinnerung und Mahnung für alle, die Mütter sind oder Väter oder Brüder und Schwestern, …

Hier bin ich Mensch, hier darf ich‘s sein!

(…) Zufrieden jauchzet groß und klein:
Hier bin ich Mensch, hier darf ich‘s sein!

Mit diesen Worten beschreibt Goethe im Faust I die Freude am Leben nach einem kalten Winter. Der Gedanke lässt noch einmal frösteln, dass das „Sein dürfen“ (gerade nach unserer Geschichte und mit unserem Wissen um den Wert der Vielfalt) für „bestimmte Menschen“ nicht selbstverständlich sein sollte.

Apropos Jauchzen: Für meinen Sohn war das tollste Erlebnis unsere Panne mit der Fahrt zum „wo der ADAC wohnt.“ Aktuell Meinung

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