Gedanken aus der Arena

Erdoğan der Hauptdarsteller, der eigentlich gar keiner ist

63.000 Menschen hat der türkische Premier Recep Tayyip Erdoğan bei seinem Deutschlandbesuch mobilisiert, ob in der Arena oder auf den Straßen. Obwohl die Massen die Hauptdarsteller waren, stand Erdoğan im Fokus. Warum eigentlich, fragt Gonca Mucuk.

An medialer Aufmerksamkeit hat es Erdoğan, vor, während und nach seinem Auftritt in der Lanxess Arena am 24. Mai 2014 in Köln nicht gefehlt. Wie ein Superstar kam er mit einem riesigen Tross an Begleitern eingeflogen. Einen roten Teppich gab es zwar nicht, dafür aber eine gigantische Aufmerksamkeit von allen Seiten. Sowohl seine Fans sind für ihn querbeet aus Deutschland und Europa angereist, als auch seine Gegner. Da dürfte manch ein Hollywoodstar vor Neid erblassen.

18.000 Anhänger Erdoğans waren Medienberichten zufolge in der Arena und haben ihm zugejubelt. Viele sind gar nicht reingekommen, weil es keine Karten mehr gab. Auf der anderen Rheinseite haben sich laut Medien sogar 45.000 Gegner Erdoğans eingefunden, um gegen ihn und seine Politik zu protestieren. Die zuvor befürchteten Straßenschlachten hat es nicht gegeben.

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Alle Medien haben sich auf Erdoğan und seine Rede gestürzt. Vieles wurde geschrieben, einiges kann ich bestätigen, einiges habe ich anders wahrgenommen. Für mich war nicht Erdoğan der Hauptdarsteller, sondern die rund 63.000 Nebendarsteller auf den Straßen und in der Arena. Was Erdoğan sagen würde und sogar wie er es sagen würde, war mehr oder weniger klar. 2008 hatte ich seinen Auftritt aus dem Presseraum mitbeobachtet. Dieses mal war ich mitten in der Menge und konnte alles live sehen, hören und fühlen.

16:48 Uhr: Ich frage mich, wie es sein kann, dass diese riesige Arena restlos voll ist und diese Menschen sich so sehr für die türkische Politik interessieren. Wo waren diese Massen, als die NSU Morde aufgeflogen sind? Wo? Warum gab es damals keinen Massenaufmarsch mit 63.000 Menschen? Warum setzen sie sich nicht so massiv und präsent für ihre wirklichen Themen ein, wie zum Beispiel die doppelte Staatsbürgerschaft oder das Wahlrecht ein? Und: Warum schafft es die deutsche Politik nicht, diese Verbindung mit diesen Menschen hier aufzubauen?

17:31 Uhr: Nun ist er da. Er kommt in die Arena wie ein Popstar, ein osmanischer Herrscher, permanent angepriesen als der Mann aus dem Volk. Die Menge tobt. Immer wieder rufen Menschen seinen Namen, sie singen ihn. „Reeeceeep Taaayyip Erdoğan, Recep Tayyip Erdoğan“. Die Stimmung ist wie im Fußballstadion. Dann Stille.

Es wird aus dem Koran rezitiert zum Gedenken an die Toten vom Grubenunglück in Soma. Es gibt keine musikalischen Beiträge. Keine Feierstimmung. Gefeiert wird trotzdem. Er wird gefeiert und lässt sich auch feiern. Immer wieder gibt es Zwischenrufe „Allahu Akbar“ (Allah ist der Größte). Millionen von Fragen gehen mir durch den Kopf. „Büyük Imparator“ (Großer Imperator) ruft einer, ein anderer „Seni çok seviyoruz!“ (Wir lieben Dich sehr!).

Ein scheinbar berühmter Hoca (Prediger) ruft auf der Bühne den Gebetsruf aus, weil das Volk Sehnsucht danach hat, wie er meint. Der Saal hört sichtlich gebannt und gerührt zu. Auch ich lasse mich in den Gesang fallen. Es folgt Sufi-Musik, die Arena singt mit. Diese Szenen kenne ich sonst nur von Moscheebesuchen. Auf der riesigen Leinwand kann man immer wieder close-up Aufnahmen von weinenden Frauen und begeisterten Männern sehen.

18:33 Uhr: Endlich steht Erdoğan auf der Bühne. Sobald er Merkels Namen ausspricht, wird sie ausgebuht. Er aber bedankt sich bei der Kanzlerin für den Beileidsanruf nach dem Grubenunglück und bringt die Menge zum Schweigen. Ich habe durchgehend den Eindruck, dass es eine riesige religiöse Veranstaltung ist.

18:56 Uhr: Integration versus Assimilation. Erdoğan bekräftigt, dass er für Integration, aber gegen Assimilation ist. Er geht auch auf den Aufstiegserfolg der Türken in Deutschland ein. Er bedankt sich immer und immer wieder bei den in Deutschland lebenden Türken. Er spricht sie immer als „kardeşlerim“ an, meine Geschwister. Eine hoch emotionale und das Publikum mitreißende Rede.

19:13 Uhr: Die Türkei heute sei nicht mehr die alte Türkei. Die Masse tobt. Sein Name wird wieder und immer wieder gesungen. Auf die Kritik, in der Türkei gebe es keine Pressefreiheit, kontert er mit Medienkritik gegen seine Person. Wo er recht hat, hat er recht denke ich mir. Er stellt die Frage: „Welcher Diktator würden denn Anti-Propaganda zulassen?“

19:43 Uhr: Erdoğan fordert seine Landsleute auf, unbedingt sehr gut Deutsch zu lernen. Jeder Türke im Ausland soll die Sprache des Landes lernen. Er bittet darum, die Kinder im Spracherwerb zu unterstützen. Gleichzeitig bittet er auch darum, die eigene Sprache und Kultur nicht zu vergessen. Er sagt, dass die Menschen hier nun die Staatsbürger dieses Landes sind und dementsprechend hier Verantwortung übernehmen. Danach ruft er zur Europawahl auf. Morgen stehen die EU Wahlen an sagt er und ruft seine Geschwister auf, daran teilzunehmen. Die Gegendemonstranten soll man nicht ernst nehmen und sich ruhig und friedlich verhalten. Unter großem Jubel verlässt er die Bühne.

Scheinbar gibt es eine große Klientel, die sich lieber mit Außenpolitik beschäftigt, als mit den Dingen, die sie unmittelbar in Deutschland betreffen. Ich kann es wirklich nicht begreifen und habe dieses Thema schon in unterschiedlichsten Kreisen diskutiert. Fast immer war das Ergebnis gleich: Wahrscheinlich fühlen sich diese Menschen nicht so sehr mit unserer neuen Heimat verbunden. Sie sind zwar körperlich hier aber mit dem Geist in der Türkei.

Bei der ersten, ja auch noch der früheren zweiten Generation, kann ich es irgendwie noch nachvollziehen. Aber was ist mit der 3. oder der 4. Generation, den Jugendlichen? Sie kennen nichts anderes als Deutschland.

Fazit: Die gesamtgesellschaftliche Selbstreflexion in den Medien fehlt mir durch die Bank weg. Keiner scheint sich ernsthaft mit dieser Frage auseinanderzusetzen oder dies überhaupt zu wollen. Lieber wird auf Erdoğan geschimpft. Stehen wir nicht in der Pflicht, uns diesen Fragen zu stellen und nach Lösungen zu suchen? Können wir es uns als Gesellschaft wirklich leisten, dieses Phänomen unbeachtet, undiskutiert und ungelöst zu lassen? Im Hinblick auf die zunehmende Diversität innerhalb unserer Gesellschaft, ist es meines Erachtens zwingend und dringend notwendig, sich politisch und gesellschaftlich diesem Thema zu widmen.