Migration global

Viele Lampedusa!

Lampedusa ist mittlerweile ein allseits bekannter Ort, nicht nur für emsige Italien-Touristen oder Literaturkenner. Sie steht stellvertretend für Flüchtlinge die in die EU wollen. Zugleich ist Lampedusa eine Chiffre – je nach Haltung und Meinung.

Die nur 140 km von Tunesien entfernte italienische Insel ist durch Bilder mit überfüllten Flüchtlingsbooten bekannt. Doch wer weiß, dass es auch andere Bilder über Lampedusa gibt, und eine Flüchtlingsgemeinschaft, die als „Lampedusa in Hamburg“ um ihr Bleiberecht kämpft?

Sucht man unter Lampedusa im www, findet man sich in einem Kalendarium wieder, das zeigt mit welcher Regelmäßigkeit die Insel im Meer der Medien auftaucht: 3. Oktober 2013, 17. Dezember 2013, 3. Januar 2014, 17. Februar 2014, 30. März 2014. In den Überschriften immer eines der drei Wörter „Flüchtlinge“, „Bootsunglück“, manchmal „Lager“. Guiseppe Tomasi di Lampedusa, dem Verfasser des berühmten Romans „il gattopardo“ begegnet man erst auf den hinteren Suchergebnisseiten.

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Tatsächlich ist Lampedusa mittlerweile ein allseits bekannter Ort, nicht nur für emsige Italien-Touristen oder Literaturkenner. In einer kleinen Straßen-Umfrage spreche ich die Leute auf Lampedusa an: Wissen Sie was das ist? Die meisten wissen es, und sagen von sich aus „Flüchtlinge“ gleich dazu.

Völkermordforscher präsentiert Lösung
Ja, Lampedusa steht stellvertretend für Flüchtlinge die in die EU wollen. Zugleich ist das Wort eine Chiffre, mit Bedeutung gefüllt, je nach Haltung und Meinung des Sprechenden. Für die Einen zählt die Insel als Wach- und Gefängnisturm zum mörderischen Frontex-Grenzwallsystem, geschaffen um die Teilung der Welt in Nord und Süd, Reich und Arm, Krieg und Frieden aufrecht zu erhalten.

Was die Einen am liebsten niederreißen, wollen die Anderen unbedingt aufrecht halten. Einer der Verfechter der bestehenden Ordnung ist Gunnar Heinsohn, Träger des bizarren Berufstitels „Völkermordforscher“. Seine Veröffentlichungen sind überschrieben mit Titeln wie: Die demografische Kapitulation. Darunter:„…Armuts- und Terrorflüchtlinge ohne Fachabschluss können die jungen Leute nicht ersetzen, die von klein auf bei gebildeten Eltern mit Hightech heranwachsen, um sich dann ehrgeizig an den Erfindungen der Zukunft zu versuchen.“

Unter der Überschrift „Wer hat mehr Söhne?“ sinniert der NATO-Bündnisfreak über den massiven Überschuss an Söhnen, den die afghanische Gesellschaft im Vergleich zur europäischen hervorbringt: „Wie sollte da unsere militärische Lage am Hindukusch morgen besser sein als heute? Jährlich erreichen 500.000 afghanische Jungen das Kampfalter. 350.000 davon sind überzählige Söhne.“

Es ist dieselbe Kerbe, in die Heinsohn immer wieder schlägt. Unbedingt will er davon überzeugen, dass die EU von jungen Männern aus der Erdsüdhalbkugel überrannt wird. Er spricht von der notwendigen Abwehr „Schwerqualifizierbarer“ durch „anwerbeoptimale Grenzsicherungen“ ebenso wie vom „Abschmelzen der Mittel für bildungsferne Großfamilien“.

Es sind solche mit Daten und Fakten auf wissenschaftlich getrimmte Auswürfe, die Lampedusa als „Einfallstor für Flüchtlingswellen in die EU“ etikettieren.

Alle in einem Boot
Gilles Reckinger hat seine Eindrücke zu Lampedusa auf einen ganz anderen Hintergrund gesetzt. Mehrere Male ist der Ethnologe nach Lampedusa gereist. Sein daraus entstandenes Buch spricht eine persönliche und gefühlvolle Sprache. Er benennt den Standpunkt, von dem aus er spricht und erteilt damit dem überholten Neutralitätspostulat der Wissenschaft eine Absage. Er will sensibilisieren, um „jenen zerstörerischen Kräften die Grundlage entziehen, die sich die scheinbare Verworrenheit unserer Welt und Zeit zunutze machen, um mit einfachen, schnellen Urteilen und Lösungen sich selbst und andere zu betrügen.“

So richtet er seine Aufmerksamkeit auf die BewohnerInnen der Insel und entdeckt zahlreiche Parallelen zwischen ihrem Leben, ihrer Geschichte und den Flüchtlingen.

Lampedusa war von jeher eine Insel von MigrantInnen, Zwangsangesiedelten und Verbannten. Gefängnisse und Lager haben eine Tradition. Nicht wenige der EinwohnerInnen haben ihre Wurzeln sprichwörtlich zwischen den Steinen. Das Einkommen ist gering, man lebt vom Tourismus im Sommer. Viele haben selbst Migrationsgeschichten hinter sich; sind aufs Festland gegangen, nach Afrika oder Norditalien und wieder zurückgekehrt. Mariella, eine Einwohnerin sagt: „Die Erde gehört niemandem. Wir sind alle nur auf er Durchreise: Ich bin in Lampedusa geboren, jeder ist irgendwo geboren, aber Lampedusa gehört mir nicht.“

Diese Einstellung hat nicht nur sie. Viele haben sich mit den Flüchtlingen solidarisiert. 2009 kam es zum Generalstreik gegen die Entscheidung des Lega-Nord Innenministers, Lampedusa von einem Erstaufnahmezentrum in ein Identifikations- und Abschiebezentrum umzubauen. Einheimische und Flüchtlinge demonstrierten gemeinsam gegen diese über ihre Köpfe hinweg getroffene Entscheidung. Wie überhaupt sich die Lampedusani von der italienischen Regierung und der EU im Stich gelassen fühlen. Sie wenden sich von ihr ab und den Flüchtlingen zu. Der 22-jährige Marco vergleicht die Insel mit einem Boot, in dem alle BewohnerInnen sitzen. „Es fährt Richtung Afrika“, sagt ein anderer.

Viele EinwohnerInnen identifizieren sich mit den Flüchtlingen, finden in ihnen ihre eigene Lebensgeschichte irgendwie wieder.

Antirassistische Bürgermeisterin
Als es im Oktober 2013 wieder einmal soweit war und Lampedusa mit der Nachricht von 380 ertrunkenen Flüchtlingen vor seiner Küste ganz oben in den Schlagzeilencharts rangierte, wandte sich die Bürgermeisterin mit Worten an die Öffentlichkeit, die kein EU-Politiker so in den Mund nehmen würde. Sie sprach mit großer Anteilnahme über die toten Flüchtlinge, fragt sich wie groß der Friedhof auf der Insel noch werden muss. Sie empört sich über das Schweigen Europas „das gerade den Friedensnobelpreis erhalten hat, und nichts sagt, obwohl es hier ein Massaker gibt, bei dem Menschen sterben, als sei es ein Krieg.“ Wenn Europa so tut, als wären das nur die Toten von Lampedusa, dann möchte sie von der EU für jeden Toten ein offizielles Beileidstelegramm. „So als hätte er eine weiße Haut, als sei es unser Sohn, der in den Ferien ertrunken ist.“

Das ist nicht nur eine klare Absage gegen die scheinheilige Menschenrechtspolitik der EU, sondern auch gegen den Rassismus.

Was geschah danach? Wie zum Hohn feuerte am 9. November eine Fregatte der italienischen Marine auf ein Boot mit 176 Flüchtlingen.
Als vor Weihnachten Berichte über sogenannte Desinfektionen von Flüchtlingen mit einer Flüssigkeit in der Kälte bekannt wurden, wurden kurzerhand alle Flüchtlinge aus dem Lager weggebracht. Einige wenige mussten bleiben, sie sollen als Zeugen in einem Prozess gegen die für das Unglück im Oktober verantwortlich gemachten Schlepper aussagen. Mittlerweile wurde ein neues Lager errichtet, von der Caritas. Doch Gesetzesänderungen gibt es keine.

Italienische Politiker bedienen sich der Insel wie auf Empfehlung des Dichters Lampedusa: „Se vogliamo che tutto rimanga come è, bisogna che tutto cambi – Wenn wir wollen, dass alles bleibt wie es ist, muss sich alles ändern.“

Dem setzen die Flüchtlinge ihre Selbstorganisation entgegen. Rund 300 afrikanische Flüchtlinge halten den Namen der Insel hoch. Sie haben „Lampedusa in Hamburg“ gegründet und kämpfen dort für ihr Bleiberecht. Viele Gruppen, Einzelpersonen, religiöse und zivilgesellschaftliche Organisationen und die Gewerkschaft ver.di unterstützen die Flüchtlinge. Im November 2013 demonstrierten 3.000 mit ihnen, im Dezember 3.500 SchülerInnen, am 1. März 2014 sind es 4.000.

Damit die Generäle von Frontex die Armada aus dem Mittelmeer abziehen müssen und ihre Besatzungen die Waffen verschrotten, anstatt sie auf Fischerboote aus Afrika zu richten, braucht es lampedusianische Politik und Solidarität in ganz Europa.

Es soll viele Lampedusa geben!