Nach dem ZDF-Urteil

Muslime in den Rundfunkrat?

Nach dem Karlsruher Urteil zum ZDF-Staatsvertrag sollten dringend auch Muslime und Vertreter anderer religiöser Minderheiten in die Räte der öffentlich-rechtlichen Sender aufgenommen werden. Ein Gastbeitrag von Dr. Tim Karis über den Zusammenhang von Medienpolitik und religiöser Vielfalt.

Das Karlsruher Urteil vom 25. März 2014 war erwartet worden: Die aktuelle Zusammensetzung der wichtigsten Gremien des ZDF, Fernsehrat und Verwaltungsrat, wird dem Anspruch einer Staatsferne des öffentlichen Rundfunks nicht gerecht. Künftig darf nur noch maximal ein Drittel der Gremien aus Politikern oder „staatsnahen Personen“ bestehen.

Nun beginnt die Debatte um die anstehende Novellierung des ZDF-Staatsvertrages. Wie sich in Kommentaren aus Politik und Medien bereits andeutet, wird diese Debatte allerdings nicht auf die Frage beschränkt sein, auf welche Weise der politische Einfluss auf die Aufsichtsgremien des ZDF reduziert werden kann. Vielmehr werden auch die Gremien der anderen öffentlich-rechtlichen Sender in den Fokus geraten. Zudem wird es in der Debatte nicht nur um die Frage der Staatsferne gehen, sondern auch um die Zusammensetzung der öffentlich-rechtlichen Aufsichtsgremien insgesamt. Denn für diese Gremien gilt nicht nur das Gebot der Staatsferne, sondern auch das Gebot der Vielfalt. Die Gremien, die bei den meisten Anstalten ‚Rundfunkräte‘ heißen, sollen sich plural zusammensetzen und dabei die „gesellschaftlich relevanten Gruppen“ des Landes repräsentieren. Inwieweit dies derzeit der Fall ist – darüber lässt sich trefflich streiten.

___STEADY_PAYWALL___

In der kommunikationswissenschaftlichen Forschung wird die Institution der Rundfunkräte ambivalent betrachtet. Auf der einen Seite gelten sie als gelungene Frühform von Governance-Strukturen im Mediensystem, also als eine Form von Zusammenarbeit zwischen politischen, wirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren bei der Regulierung des Mediensektors. Die Schaffung vergleichbarer Strukturen wird in Ländern Ost- und Südeuropas, in denen die Kontrolle über den öffentlichen Rundfunk häufig recht unmittelbar beim Staat liegt, regelmäßig eingefordert. Das deutsche Modell der Rundfunkräte hat also durchaus Vorbildcharakter. Auf der anderen Seite werden die Rundfunkräte seit Jahren von Seiten der Forschung kritisiert. Zur Kritik an der fehlenden Staatsferne der Gremien kommt dabei häufig der Vorwurf, den Vertretern mangele es an medienspezifischer Expertise. Außerdem stünden viele von ihnen in einem Loyalitätsverhältnis zu ‚ihrem‘ jeweiligen Sender, sodass die Arbeit der Gremien in der Regel weder konstruktiv-kritisch noch sonderlich effizient ausfalle. Diese Kritikpunkte bilden wohl den Hintergrund dafür, dass die Frage, welche „gesellschaftlich relevanten Gruppen“ in den Räten vertreten sein sollten, in der Forschung für lange Zeit kaum diskutiert wurde. Denn wenn der Einfluss der Gremien auf das mediale Tagegeschäft ohnehin gering ist und am Ende die politischen Vertreter bestimmen, wohin die Reise geht, dann spielt es auch keine Rolle, ob nun diese oder jene Gruppierung im Rundfunkrat vertreten ist. Mit dem Karlsruher Urteil könnte sich dies ändern. Wird der Einfluss der Politik in den Rundfunkräten reduziert und setzt gleichzeitig eine Professionalisierung der Gremienarbeit ein, was in Anbetracht ihrer allgemein wachsenden Aufgabenfülle zu erwarten steht, dann wird auch die Frage danach, welche Gruppen Vertreter in die Räte entsenden dürfen, wieder neu gestellt werden.

Dass diesbezüglich Reformbedarf besteht, zeigt sich mit Blick auf die (fehlende) religiöse Vielfalt in den Gremien besonders deutlich. So ist in den Rundfunkräten sämtlicher öffentlich-rechtlicher Anstalten mindestens ein Repräsentant der katholischen und ein Repräsentant der evangelischen Kirche vertreten – im Falle des ZDF-Fernsehrates sind es sogar jeweils zwei. Zudem ist in allen Rundfunkräten jeweils ein Sitz für die jüdischen Gemeinden reserviert. Einer weiteren Religionsgemeinschaft wird einzig im Südwestrundfunk (SWR) ein Platz eingeräumt. Bis 2013 war dieser Platz einem freikirchlichen Vertreter vorbehalten; mit der jüngsten, am 1. Januar 2014 in Kraft getretenen Novellierung des SWR-Staatsvertrages wurde dies zugunsten eines Vertreters der „muslimischen Verbände in Baden-Württemberg“ geändert. Diese Neuregelung stieß, kaum verwunderlich, auf Ablehnung seitens der Freikirchen und führte zu einer politischen und medialen Debatte, die sich allerdings weitgehend auf Baden-Württemberg beschränkte und im Übrigen schnell wieder verebbte.

Nach dem Karlsruher Urteil könnte der neue SWR-Staatsvertrag aus zwei Gründen wieder verstärkt ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Erstens, weil sich der Vertrag durch eine besonders große Staatsferne auszeichnet. Besonders markant in diesem Zusammenhang ist wohl der Verzicht des Vertreters der rheinland-pfälzischen Landesregierung auf einen Sitz im Rundfunkrat zugunsten eines Vertreters der Sinti und Roma. Zweitens, weil sich nicht zuletzt in der Aufnahme eines muslimischen Vertreters in den Rundfunkrat der in der Präambel selbst gestellte Anspruch manifestiert: „Der gesellschaftliche Wandel muss sich auch in den Gremien abbilden.“

Spricht man in Bezug auf Religion von gesellschaftlichem Wandel, so sind zwei Begriffe zentral: Säkularisierung und Pluralisierung. Säkularisierung meint den sukzessiven Rückgang individueller Gläubigkeit und religiöser Praxis (wie sie sich traditionell etwa im Kirchgang manifestiert) sowie einen schwindenden Einfluss der Kirchen auf die politische Öffentlichkeit. Während man in der Religionssoziologie noch bis vor wenigen Jahren im Wesentlichen davon ausging, dass die These von der fortschreitenden Säkularisierung moderner Gesellschaften zutreffe, hat es in den zurückliegenden Jahrzehnten eine Reihe von Modifikationen, Revisionen und Zurückweisungen der Säkularisierungsthesen gegeben. Einige Forscher argumentieren, statt (oder neben) einer Säkularisierung der Gesellschaft sei eine Pluralisierung des religiösen Feldes zu beobachten. Waren früher in einem Land nur wenige Religionsgemeinschaften ansässig, ist es durch Migrationsprozesse und Globalisierungseffekte heute eine große Vielzahl. Zudem bildeten sich zunehmend individualisierte Formen von Religiosität, bei der Einzelpersonen auf das symbolische Repertoire der traditionellen Religionen zugreifen und daraus neue Formen von Religiosität konstruieren (sog. bricolage oder Patchwork-Religiosität).

Blickt man vor diesem Hintergrund noch einmal auf die religiöse Zusammensetzung der Rundfunkräte, so ist offenkundig, dass der religiös-gesellschaftliche Wandel an diesen vorübergegangen ist. Insbesondere die starke Position der Kirchen in den Räten spiegelt eine Situation wider, wie sie bei Einrichtung der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten nach dem Zweiten Weltkrieg bestand, die jedoch der heutigen gesellschaftlichen Rolle der massiv von Mitgliederschwund betroffenen Kirchen nicht mehr entspricht. In der Zusammensetzung der Rundfunkräte spiegelt sich insofern jene für das deutsche Staatskirchenverhältnis typische Asymmetrie, die historisch nachvollziehbar ist, in der heutigen, religiös pluralen Gesellschaft jedoch einer Privilegierung der christlichen Großkirchen zulasten anderer religiöser Gemeinschaften gleichkommt. Muslime – als größte religiöse Minderheit im Land – sind dabei oftmals die Leidtragenden. Das zeigen Konfliktfälle, die sich ansonsten üblicherweise am Problem des fehlenden Status muslimischer Gemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts entzünden, beispielsweise Konflikte um die Einrichtung eines islamischen Religionsunterrichts an deutschen Schulen.

Während die Einrichtung eines Sitzes für Muslime in allen Rundfunkräten folglich zweifellos begrüßenswert wäre, ist die Debatte um die religiöse Vielfalt in diesen Gremien damit keineswegs an einem Ende angelangt. Denn wie verhält es sich mit Vertretern der anderen Weltreligionen oder auch mit den jüngst aus dem SWR-Rundfunkrat ausgeladenen christlichen Freikirchen? Warum gesteht man überhaupt den religiösen Gruppen ein Sitz zu, nicht aber anderen weltanschaulichen Gruppen, wie etwa den Humanisten?

Die Medienpolitik wird bezüglich dieser und weiterer Fragen pragmatische Lösungen finden, die sich an der Größe der betreffenden Gruppen und/oder ihrem Einfluss auf Wählerstimmen orientieren. Die Forschung kann dabei insofern ein Gegengewicht setzen, als sie auf Modelle aufmerksam machen kann, wie sie im benachbarten Ausland existieren. In den Niederlanden beispielsweise gibt es keine Rundfunkräte mit darin vertretenen gesellschaftlichen Gruppen, die über das Programm der öffentlichen Sender wachen. Vielmehr wird die Sendezeit unmittelbar an gesellschaftliche Gruppen vergeben. Auch mitgliederarme Religionsgemeinschaften werden dabei besonders berücksichtigt, sodass heute in den Niederlanden ein muslimischer, buddhistischer, hinduistischer, jüdischer, humanistischer, katholischer und evangelischer Sender existieren, die jeweils mehrere Programmstunden pro Woche im Rahmen des öffentlichen Rundfunks ausstrahlen.

Das niederländische Modell wird sich allerdings kaum eins zu eins auf Deutschland übertragen lassen – und dies nicht nur aus praktischen Gründen. Vielmehr ist auch insofern mit Widerstand zu rechnen, als öffentliche Rundfunksysteme Phänomene darstellen, in denen sich (wie in religiös-politischen Arrangements auch) gesellschaftliche Identitäten in besonderer Weise verdichten und in die nationale Traditionslinien tief eingeschrieben sind. Vor diesem Hintergrund stellt auch die Frage, welche Gruppen im Rundfunkrat vertreten sein sollen, nicht allein eine Frage nüchternen Interessensausgleichs dar. Vielmehr geht es dabei im Kern um Partizipation an der Gesellschaft, um die Grenze zwischen Inklusion und Exklusion. Auf Religion bezogen geht es also nicht nur darum, ob nun die Muslime einen Platz erhalten sollen oder nicht, sondern darum, ob die deutsche Gesellschaft sich (noch) als christlich oder christlich-jüdisch begreift, ob sie vermehrt säkular-laizistischen Modellen zuneigt oder ob sie pluralistische Ideale verinnerlicht hat. Über diese Frage hat Karlsruhe freilich nicht entschieden – die kommende Debatte um die Aufsicht des öffentlichen Rundfunks jedoch wird sich implizit um diese Fragen drehen. Sie zu beobachten und kritisch zu begleiten, ist Aufgabe der kommunikationswissenschaftlichen und religionssoziologischen Forschung.