Europawahl

Warum ich dieses Mal wählen gehe

Im Vorfeld der Europawahl formiert sich eine rechte Internationale, welche die Chance sieht, ihren Einfluss auf die EU zu erhöhen. Für Prof. Harald Welzer ist es deshalb notwendig, eine möglichst hohe Wahlbeteiligung sicherzustellen - ein Essay über das Kreuz am kleinsten Übel.

Von Harald Welzer Donnerstag, 20.03.2014, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 26.03.2014, 1:00 Uhr Lesedauer: 16 Minuten  |  

Die Überschrift dieses Beitrags ist irreführend. Ich gehe nämlich immer wählen, so auch bei der jüngsten Bundestagswahl. Im Vorfeld der Wahl im vergangenen September aber habe ich meine seit Jahrzehnten eingeübte Routine, mein Kreuzchen beim „kleinsten“ aller verfügbaren „Übel“ zu machen, nicht mehr ertragen, und ich habe im „Spiegel“ und im „Kursbuch“ zwei Essays geschrieben, in denen ich begründet habe, weshalb ich zu dieser Bundestagswahl meine Stimme nicht abgeben würde. 1

Nicht wählen
Die Begründung bestand im Wesentlichen darin, dass sich keine der deutschen Parteien, die über die Fünfprozenthürde kommen würden, an Fragen der zukunftsfähigen Gestaltung von Gesellschaft interessiert zeigt. Seit einigen Jahren herrscht eine hektische Politik des Durchwurstelns, die ignoriert, dass die Demokratien unter immer größeren Stress durch die kumulativen Wirkungen von Finanzkrise, Staatsverschuldung, Klimawandel, Ressourcenkonkurrenz, Globalisierung der Wirtschaftskreisläufe und einer höchst gefährlichen Kooperation staatlicher Einrichtungen und privater Informationsindustrie geraten. Mit anderen Worten: Die Probleme des 21. Jahrhunderts sehen anders aus als die der europäischen Nachkriegsordnung des 20. Jahrhunderts, und es ist überdeutlich, dass die politischen Eliten bislang kaum darauf reagieren. Stattdessen tun sie so, als existierten keine Gefährdungen unseres Gesellschaftsmodells, als ließen sich die wenigen Probleme, die sie als solche anerkennen, mit genau jenen Lösungsstrategien bewältigen, mit denen man früher gut gefahren ist.

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Aber die radikale Generationenungerechtigkeit, die Entdemokratisierung, die wie in Ungarn oder Rumänien durch Regierungshandeln stattfindet und global durch die schleichende Selbstermächtigung von Überwachungsdiensten und Unternehmen wie Google und Facebook, werden sich kaum mit dem Verweis auf die erprobten Verfahrensregeln der Nachkriegsdemokratien bekämpfen lassen. Und wirtschaftspolitisch ist das von allen Parteien vorgetragene Mantra des Wachstums als einzig selig machende Lösung der Gegenwartsprobleme eine intellektuelle Zumutung und ein ökologisches Desaster.

Diese essayistische Mitteilung wurde sofort als „Aufruf zum Wahlboykott“ verstanden und zog entsprechend viele Gegenmeinungen auf sich. Aus der Politik kamen viele Reaktionen, die aber vor allem darin bestanden, die Nichtwählergruppen einzuordnen, nämlich in zwei Kategorien: in sozial und mental abgehängte RTL2-Zuschauer, die an Politik gleichsam konstitutionell nicht interessiert seien, und – gewissermaßen am entgegengesetzten Ende des gesellschaftlichen Spektrums – in eine irgendwie schnöselige Intellektuellenkaste, die mit den Politikangeboten der Parteien nichts anderes anzufangen wisse, als daran herumzunörgeln. Damit waren die inhaltlichen Kritikpunkte abgehakt – quod erat demonstrandum.

Aus der Publizistik kamen deutlich interessantere Einlassungen. Es gab Artikel, welche die Differenzen der Parteien ebenso unterstrichen wie die Tatsache, dass das allgemeine Wahlrecht historisch teuer erkämpft und weltweit keineswegs überall erreicht sei. Und es gab auch Beiträge, die sich sehr skrupulös mit den postdemokratischen Defiziten der heutigen Parteiendemokratie auseinandersetzten, am Ende aber gleichwohl für die bürgerliche Pflicht des Wählens plädierten. Kurz: Mit näher rückendem Wahltermin entspann sich eine intensive Debatte darüber, ob demokratische Teilhabe sich darauf beschränke, eben alle vier Jahre ein Kreuzchen zu machen, oder ob Demokratie nicht vor allem in der Vitalität eines politischen Gemeinwesens bestehe, in der die Bürgerinnen und Bürger nicht passive Konsumenten von Politikangeboten oder gar von Politikfolklore („Wir müssen die Menschen mitnehmen!“) sind, sondern die öffentlichen Angelegenheiten als ihre eigenen begreifen.

Etwa zwei Wochen vor dem Wahltag hatte ich dann das Gefühl, dass diese Debatte zur Erhöhung der Wahlbeteiligung beitragen würde. Da konnte ich ebenso gut wählen gehen und mein Kreuzchen wiederum beim „kleinsten Übel“ machen.

Wählen
Nun, vor der Europawahl, stellt sich für mich die Frage nicht, ob eine Debatte über Gründe, wählen oder nicht wählen zu gehen, notwendig ist. Schon im „Spiegel“-Essay hatte ich ausdrücklich gesagt, dass alle meine Erwägungen nur unter der Voraussetzung sinnvoll seien, dass es nichts zu verhindern gelte, namentlich eine rechtspopulistische Partei, die grundsätzliche zivilisatorische Errungenschaften wie Gleichheits- und Gerechtigkeitsstandards, Freiheitsrechte oder gar die Demokratie selbst zur Disposition stellt. Das war in Deutschland der Fall; Parteien wie die NPD sind, ganz anders als der Front National in Frankreich, die „Freiheitspartei“ von Geert Wilders in den Niederlanden, die Sverigedemokraterna in Schweden oder „Die (wahren) Finnen“ in Finnland, hierzulande zum Glück eine zu vernachlässigende Größe. In grotesker Verkennung der Nicht-Bedeutsamkeit der NPD wertet der Bundesrat diese Desperadopartei zwar ausgerechnet vor der Europawahl mit einem Verbotsantrag auf, anstatt sie einfach zu vergessen, aber im Rahmen der gesamteuropäischen Situation und damit auch der künftigen Sitzverteilung im Europäischen Parlament ist die deutsche Situation keineswegs repräsentativ. Im Gegenteil formiert sich gerade im Vorfeld dieser Wahl eine rechte Internationale, welche die Chance sieht, ihren Einfluss auf die Politik der Europäischen Union durch Geschlossenheit und ein in den meisten Ländern beträchtliches Wählerpotenzial zu erhöhen. Hinzu kommt, dass in vielen EU-Ländern keine oder nur niedrige Hürden im Sinne einer Prozentklausel existieren; auch in Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht die (zuvor schon auf drei Prozent gesenkte) Sperrklausel jüngst komplett gekippt.

Es ist also gerade bei dieser Wahl notwendig, durch eine möglichst hohe Wahlbeteiligung sicherzustellen, dass die rechtspopulistischen Parteien keine Repräsentanz im Europäischen Parlament finden, mit der sie eine demokratische, inklusive Politik in der Tradition des europäischen Wertekonsenses gefährden könnten. Ansonsten würde sich die nicht nur groteske, sondern für die weitere Entwicklung auch höchst brisante Konstellation ergeben, dass antieuropäische Parteien eine gewichtige Rolle ausgerechnet im Europäischen Parlament spielen könnten. Einen Vorgeschmack, wie das dann aussehen könnte, hat 2009 schon die British National Party mit ihrem Vorschlag gegeben, Flüchtlingsboote im Mittelmeer doch einfach zu versenken. 2 Der Präsident des Europäischen Parlaments Martin Schulz hat bereits in der laufenden Wahlperiode darauf aufmerksam gemacht, dass rassistische Äußerungen mittlerweile zum Alltag des Parlamentsbetriebs gehören. 3

All dies sollte schon Grund genug sein, mit seiner Wahlbeteiligung und -entscheidung ein Zeichen nicht nur für die Fortsetzung der europäischen Vorstellung von Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit zu setzen. Dieses Zeichen sollte man auch mit der entschiedenen Forderung an seine Kandidatinnen und Kandidaten verknüpfen, jede antidemokratische Tendenz auch in den Mitgliedsstaaten vehement zu kritisieren und auf eine höhere Aufmerksamkeit in Sachen Demokratiegefährdung zu dringen. Denn weder der lässige Umgang mit antidemokratischem Regierungshandeln in Mitgliedsländern wie Ungarn, Rumänien, aber auch Italien unter Silvio Berlusconi, noch die Einsetzung demokratisch nicht legitimierter Gremien wie der „Troika“ (aus Vertretern der EU-Kommission, der Europäischen Zentralbank und dem Internationalen Währungsfonds), noch die laxe Aufsicht über das Handeln der Europäischen Zentralbank sind dazu angetan, das Institutionenvertrauen zu stärken. Es ist an der Zeit, dass die einseitige finanzpolitische Orientierung von EU-Kommission und Parlament von einer Haltung abgelöst wird, die wieder eine grundsätzliche Bereitschaft zur Verteidigung von Demokratie, Freiheit und Frieden reklamiert.

  1. Vgl. Harald Welzer, Das Ende des kleineren Übels, in: Der Spiegel, Nr. 22 vom 27.5.2013, S. 122f.,; ders., Nicht wählen?, in: Kursbuch, Nr. 174 vom 3.6.2013, S. 131–144.
  2. Vgl. Sink Immigrants’ Boats – Griffin, 8.7.2009.
  3. Vgl. Martin Langebach/Andreas Speit, Europas radikale Rechte. Bewegungen und Parteien auf Straßen und in Parlamenten, Zürich 2013, S. 250f.
Leitartikel Meinung Politik

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  1. Wiebke sagt:

    Ihre Analyse stimme ich voll zu und bin dankbar für Ihren Artikel an dieser Stelle, weil ich die anderen von Ihnen nicht gelesen hab. Das Unbehagen an der gegenwärtigen politischen Situation haben SIe treffend ausgedrückt. Auch ich befürchte einen Rechtsruck, bei uns werden das jedoch nicht die NPD, sondern diese AfD-Leute besorgen. Allerdings gibt es einen Hoffnungsschimmer: Die REchtsparteien der europäischen Länder sind äußerst unterschiedlich in ihren Zielsetzungen und werden sich daher wunderbar streiten. Leider haben sie ein paar gefährliche Tendenzen gemeinsam, vor allem den reinen Populismus. Dem erliegen allerdings inzwischen ja auch unsere andere Parteien….. Aber ich bin Ihrer Meinung: Kreuzchen machen beim kleineren Übel.

  2. jmw sagt:

    Hab ich mir’s doch gedacht! Dieser Aufruf zum Nichtwählen war nur eine Stichelei in Richtung der selbstzufriedenen Kreuzchenmacher, die denken, sie seien „die Guten“ wenn sie nur in den Kategorien mitdenken, die ihnen das System vorgibt. Inhaltlich findet das mein augenzwinkerndes Einverständnis. Dass viele – keineswegs snobistische – junge Politikverdtossene das als Bestätigung genommen haben für die Richtigkeit ihrer Nichtbeteiligung an Politik allgemein ist aber ein sehr bedauerlicher Kollateralschaden dieser Aktion gewesen. Ein zu hoher Preis, meiner Meinung nach. In wieviele Talkshows haben Sie es durch diese PR-Aktion an prominenter Stelle geschafft, Herr Welzer? Ich hab keine gesehen, was an mir gelegen haben wird. Irgendwie schade trotzdem. Wenn ich an meine Freunde aus Arabischen Ländern denke, wenn ich mit Menschen in Flüchtlingsheimen rede, wie soll ich ihnen das erklären?