Mogadischu Calling

„Es wäre ein Traum, wenn ich eine Ausbildung absolvieren dürfte“

Camir (16) stammt aus Somalia. Mit einem Schlepperboot kam er über Italien und Schweden nach Deutschland. Den Frust vieler Jugendlichen kann er nicht verstehen: „Hier hat man doch alle Chancen, etwas aus seinem Leben zu machen.“ – ein Porträt.

Von Manuel Schumann Mittwoch, 05.03.2014, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 24.07.2014, 23:47 Uhr Lesedauer: 15 Minuten  |  

Caamir nimmt den Hörer in die Hand und wählt konzentriert die vierzehn Ziffern. Stille. Sein Puls rast. Dann: ein Freiton. Da ist es also wieder, das verdammte Gefühlschaos. Zweiter Freiton. Große Sorge. Waren die Soldaten wieder da?

Caamir starrt aus dem Fenster seines etwa 15 Quadratmeter großen Zimmers im Hamburger Stadtteil Rothenburgsort. Altbau. Erster Stock. Industriegebiet. Auf den Elbbrücken, wenige hundert Meter entfernt, rollt, wie alle fünf Minuten, mit lautem Donnern eine S-Bahn der Linie 3 vorbei. Caamir, der mit seinem hautengen St.-Pauli-Trikot und der schwarzen Trainingshose aussieht, als wolle er gleich zum Fußballtraining rennen, tippelt nervös von einem Bein aufs andere. Vierter Freiton. Caamir fühlt wieder die Machtlosigkeit – wie damals in Mogadischu, als er jedes Mal, wenn er nachmittags die Haustür öffnete, zugleich hoffte, dass alle Familienangehörigen noch am Leben sind.

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Plötzlich eine Frauenstimme. Caamir reißt die Augen auf: „Mama?!“, ruft er auf Somali in den Hörer, während er hektisch durch den Raum läuft. „Mama, alles in Ordnung bei Euch?“ Wieder Stille. Offenbar ist alles in Ordnung. Caamir wirkt erleichtert, er setzt sich auf einen alten, braunen Sessel – und lächelt. Geschafft. Wieder einmal hat er ihn hinter sich gebracht: den Zehn-Minuten-Emotionsmix aus Sorge, Hoffnung, Angst und Freude. Daran gewöhnen wird er sich nie.

Caamir ist 16 Jahre alt. Er ist groß, schlank und trägt einen modischen Kurzhaarschnitt. Ein lockerer, offener Typ, der oft lacht. Seine kleine Wohnung teilt er sich mit zwei weiteren Jugendlichen, die, wie er, in Deutschland nur geduldet sind. Status: Flüchtling. Zukunft: ungewiss.

Caamirs Familie leidet unter dem Bürgerkrieg in Somalia. Vor vier Jahren hat er seine Mutter zuletzt gesehen. Sie hat ihm verboten, nach Hause zu kommen. Die Angst davor, die Islamistenmiliz Al-Shabaab könnte ihn ermorden, ist zu groß. Seit 1991 kontrolliert sie weite Teile im Zentrum und Süden des Landes – Anschläge auf Behörden und Sicherheitskräfte sind keine Seltenheit, auch das Volk ist immer wieder Ziel von Attentaten. Caamirs Schwestern wurden im vergangenen Sommer bei einer Explosion getötet, er selbst steht auf der Todesliste.

Regelmäßig schaut eine Sozialpädagogin in der betreuten Jugendwohnung vorbei. Caamir nennt sie liebevoll Mama Nummer zwei. „Ich kann mit allen Problemen zu ihr gehen“, sagt er, „Ich bin Petra unheimlich dankbar, sie ist wie eine Mutter zu mir“. Ob Sprache, Kultur, Gewohnheiten: Caamir kann es offenbar nicht schnell genug gehen. „Mein Deutsch muss dringend besser werden, ich will viel lernen, sonst kann ich hier nichts leisten“.

Kurz nach Zehn. Es ist ein sonniger Wintervormittag. Caamir hat gleich einen Termin in der Ausländerbehörde. Er sitzt auf der Autorückbank, vor ihm am Steuer: Petra Neumann. „Wir sind spät dran“, sagt sie, und schlängelt den Kleinwagen gekonnt durch den Hamburger Stadtverkehr. Caamir ist ruhiger als sonst. Man spürt ihm die Anspannung an. Auf die Fragen der Sozialpädagogin antwortet er nur mit Ja oder Nein. Ihm ist nicht nach Small-Talk. Er ist mit seinen Gedanken woanders.

„Wetten, wir kriegen ’nen super Parkplatz“, ruft Frau Neumann nach hinten – und lächelt in den Rückspiegel. Caamir lächelt gequält zurück. Und tatsächlich. Etwa zweihundert Meter vom Behördengebäude entfernt: eine Parklücke. Direkt neben der Amsinckstraße, jener Hauptstraße, in dessen Nähe der ortskundige Autofahrer normalerweise gar nicht erst suchen würde. Ein gutes Zeichen? Wer abergläubisch ist, würde jetzt nicken. Caamir ist Moslem. Und er würde jetzt gern endlich da rein.

Er war vierzehn, als er auf einem kleinen Boot hockte und betete, irgendwo im Mittelmeer, die Wellen peitschten gegen den Bug, immer wieder Geschrei. In der Luft lag der Gestank von Urin, Schweiß und Erbrochenem. Todesangst. Zwanzig Tage lang. Caamir war einer von 80 Flüchtlingen, die ihr Leben riskierten, um neu anzufangen. „Ich hatte ein Brot dabei, das reichte für fünfzehn Tage, für Getränke war kaum Platz – ich hatte großen Hunger und Durst“, sagt er. Zweihundert Dollar bezahlte Caamir für die Fahrt ins Ungewisse. Große Freude, als er nach drei Wochen am Horizont ein Militärschiff unter italienischer Flagge entdeckte. Endlich! Jubel an Bord. Lachen. Umarmungen. Freiheit? Noch nicht.

Wenige Tage später die große Enttäuschung. Im Flüchtlingslager herrschte Chaos. Gewalt, Schikanen und Erniedrigungen waren an der Tagesordnung. Caamir hielt es nicht mehr aus, er rannte davon und lebte fortan auf der Straße. „Ich wollte nur noch weg, mich alleine durchschlagen, irgendwie weiterkommen.“ Stattdessen wurde es noch schlimmer. Eines Nachts zerschlug jemand eine Flasche auf seinem Kopf. „Ich habe mich erschrocken, sah überall Blut, es tat so weh.“ Dreimal wiederholt er einen Satz, der ihn offensichtlich auch heute noch fassungslos und traurig macht: „Niemand hat mir geholfen.“

Im Foyer der Ausländerbehörde stehen, sitzen und schlendern gefühlte 100 Menschen, viele von ihnen haben Zettel in der Hand. Am anderen Ende des Raumes hängen an der Wand mehrere Tafeln, auf denen in unregelmäßigen Abständen Nummern aufblinken. Eine Atmosphäre wie an einem Bahnhof. Caamir schallt ein Durcheinander aus Kindergeschrei, Husten, Getuschel und Lachen entgegen. „Wir gehen direkt durch“, sagt Frau Neumann, „wir haben einen Termin.“ Ein Trugschluss. Direkt geht hier wenig. „Ziehn ’se erst mal ’ne Nummer, junge Frau“, zischt eine Männerstimme von der Seite. Caamir dreht sich um. Vor ihm sitzt ein bärtiger Mann in Uniform, Halbglatze, rundliches Gesicht, in seinen Händen ein belegtes Brötchen. „Wo kommen wir denn da hin, so geht das nun aber nicht, Leute“, schiebt der Mann hinterher, während er breitbeinig auf einem kleinen Stuhl sitzt und sich die Mayonnaise vom Kinn wischt. Caamir schaut irritiert. Petra Neumann schnauft „Och nö“, nimmt ihr Handy in die Hand – und wählt eine Nummer. Kurzes Telefonat. Fahrstuhl. Zweiter Stock. Na also – es geht doch.

Caamir soll jetzt medizinisch untersucht werden. Aus „jetzt“ wird aber doch „später“. Erst einmal: warten. „Hier ist die Hölle los“, flüstert ein Mitarbeiter im Vorbeigehen. Die Zahl der Asylanträge in Deutschland ist im vergangenen Jahr um fast 64 % gestiegen.

Eine kleine Frau im weißen Kittel huscht in den Warteraum: „Wo ist der denn nun?, fragt sie mit strenger Stimme in die Runde. Hier! Caamir schüttelt ihr die Hand. „Dann woll’n wa ma, ne?“. Er folgt ihr durch einen schmalen, langen Flur. Nach etwa einer halben Stunde darf der 16-Jährige das Gebäude wieder verlassen. Er wirkt erleichtert. Der Sachbearbeiter sagt, die Chancen, dass Caamir einen Asylantrag stellen dürfe, ständen gut. Geduld, Geduld. Er warte noch auf eine Rückmeldung der Hauptzentrale. „Da geht einfach keiner ans Telefon, schon seit Tagen nicht“, ärgert sich der Beamte, „die sind alle total überlastet, was soll ich da machen?“

Auf der Straße nimmt Petra Neumann Caamir erst einmal in den Arm, sie drückt ihn kräftig an sich. Er strahlt, steigt ins Auto. Zurück in die WG.

Derzeit warten fast 96.000 Menschen auf eine Entscheidung, ob sie in Deutschland mitmachen dürfen – oder weggeschickt werden. Die Bearbeitung eines Asylantrags kann – wenn es schlecht läuft – bis zu zwei Jahre dauern. Wie alle Flüchtlinge aus Somalia, deren Asylantrag abgelehnt wird, müsste auch Caamir in das europäische Land zurückkehren, dessen Boden er zuerst betreten hat. Gesellschaft Leitartikel

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