Transnationale Perspektiven

Heimspiel in der Fremde – Rückblick auf den Berlin-Besuch des türkischen Premiers

Auch bei seinem letzten Berlin-Besuch beschäftigte der türkische Premier Erdoğan die hiesigen Medien über mehrere Tage, von einer Kehrtwende war oft die Rede. Dr. Yaşar Aydın sieht das anders. Er kommentiert den Erdoğan Besuch in seiner neuen MiGAZIN Kolumne – rückblickend.

Spätestens seit seiner umstrittenen Rede im Jahr 2008 in Köln, in der er die Assimilation als „Verbrechen gegen die Menschheit“ gegeißelt hatte, sorgen Erdoğans „Deutschland-Visiten“ für Aufregung. So war es auch bei seinem letzten Berlin-Besuch: Im Vorfeld wurde darüber gerätselt, ob er versöhnliche oder polarisierende Töne schlagen und damit den Integrationsprozess der Türkeistämmigen in Deutschland „gefährden“ werde.

Während Hunderte am Brandenburger Tor gegen Erdoğan protestierten, ließ der türkische Premier sich im Berliner Tempodrom von 4000 Türkeistämmigen mit Standing Ovation feiern. Er appellierte an die Türkeistämmigen, sich in die Gesellschaft der Bundesrepublik zu integrieren, in die Politik einzubringen und die Bildungsmöglichkeiten besser zu nutzen, und fügte hinzu: „Seid stolz, dass ihr in Deutschland, eines der größten Länder der Welt, lebt und arbeitet. Seid aber auch stolz auf die Türkei, die hinter euch steht“. Die einen rieben sich verwundert die Augen, die anderen waren erleichtert über die Rede Erdoğans.

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Woraus speist Erdoğans Popularität?
Stehen Erdoğan und seine Regierung nicht unter enormen Druck kurz vor den Wahlen? Verwundert war man über die enthusiastische Unterstützung von Erdoğan wegen seines harten Vorgehens gegen die Gezi-Demonstranten im Sommer 2013, der Korruptionsvorwürfe und der Aushebelung der Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung. Haben die Jubelnden vom Tempodrom all diese Entwicklungen in der Türkei nicht mitbekommen? Die so denken vergessen, dass der Durchschnittsbürger seine politischen Präferenzen nicht auf der Grundlage sozialwissenschaftlicher Analysen, sondern eigener unmittelbarer Erfahrungen bildet, und bei seinen Wahlentscheidungen sich nicht nur von rationalen Erwägungen, sondern auch kulturellen Orientierungen leiten lässt. In der Amtszeit von Erdoğan ist die Wirtschaft stärker als je zuvor gewachsen, die Gesundheitsversorgung hat sich deutlich verbessert, die Infrastruktur wurde stark ausgebaut, Armut und soziale Ungerechtigkeit haben sich deutlich verringert. Der türkische Premier hat religiöse Bevölkerungsteile, die sich benachteiligt und ausgegrenzt fühlten, in die Wirtschaft und Politik eingebunden, ihnen eine neue Identität und Selbstwertgefühl gegeben. Er verhandelt mit der verbotenen kurdischen PKK, um eine friedliche Beilegung des Kurdenkonflikts herbeizuführen. Erdoğans Popularität beruht also nicht nur auf seinem Charisma, seiner Wortgewandtheit und Volksnähe.

Eine Kehrtwende?
Medien reagierten erleichtert, weil der türkische Premier die „Assimilationsproblematik“ nicht angesprochen und versöhnliche Töne angeschlagen hat. Von einer Kehrtwende kann jedoch kaum die Rede sein, wie einige Medien dies erkannt zu haben glauben. Denn an der Politik der türkischen Regierung gegenüber den Deutschlandtürken hat sich seit 2008 nichts geändert. Gezielt wird weiterhin auf die Intensivierung der Beziehungen mit der „türkischen Diaspora“ in Deutschland. Von Deutschlandtürken wird erwartet, dass sie sich in die Gastgesellschaft integrieren, in die Politik einbringen und dass sie zwischen Türkei und Europa eine Brückenfunktion erfüllen. Diese Erwartungen decken sich im Großen und Ganzen mit den Vorstellungen der meisten Deutschlandtürken, die gleichberechtigt am Wohlstand partizipieren wollen, ohne ihre kulturelle Identität aufgeben zu müssen. Zudem ist das Einsetzen staatlicher Kanäle zur Verfolgung nationaler und migrationspolitischer Interessen kein politisch unmoralischer Akt.

Von der Gastarbeitergemeinschaft zur transnationalen Diaspora
Aus den „Gastarbeitern“ und ihren Nachkommen sind längst transnationale Migranten geworden, die vielfältige Bindungen zur Türkei aufrechterhalten, beide Sprachen gut beherrschen, sich in beiden Kulturen wohlfühlen und sich weigern, für das eine oder andere Land zu entscheiden. Dass dies immer noch für Irritationen sorgen, hat zwei Gründe. Erstens ist ein Großteil der Entscheidungsträger in Deutschland monokulturell ausgerichtet und stellt sich die Nation als eine kulturell homogene Einheit vor, was eine lange Tradition hat. Weil es im 19. Jahrhundert einen deutschen Einheitsstaat nicht gab, wurden Sprache und Kultur die zentralen Bezugspunkte der deutschen Nation. Ferner erfolgte das nationale Erwachen in Deutschland als Reaktion gegen die französische Besatzung, was die partikularistischen Züge der Nationvorstellung zusätzlich stärkte.

Zweitens ist in Deutschland das politische Bewusstsein hinter der Transnationalisierung zurückgeblieben. Gesellschaften sind „Kommunikationsgemeinschaften“, deren „Binnenkommunikation weit dichter ist als ihre Außenkommunikation“ (Karl Deutscher). Wenn das Gewicht der Außenkommunikation im Verhältnis zur Binnenkommunikation steigt, dann haben wir es mit einer Transnationalisierung zu tun. Genau das passierte in den letzten Jahrzehnten in vielen gesellschaftlichen Teilbereichen in Deutschland. Der Grad der Transnationalisierung in der Wissenschaft zeigt sich am Anstieg „der Koautorenschaften von wissenschaftlichen Publikationen von Wissenschaftlern aus mindestens zwei Ländern“ oder am „Verhältnis von ausländischer zur Gesamtmenge der zitierten Literatur“. Ähnliche Prozesse fanden auch in der Ökonomie und der Politik statt. 1

Die türkische Regierung hat eingesehen, dass eine reine Identitätserhaltungs- und Bindungspolitik Segregationstendenzen der Türkeistämmigen Vorschub leisten kann. Sie setzt auf Integration, politische Teilhabe und bezeichnet die Türkeistämmigen als „europäische Türken“. Die „türkische Diaspora in Deutschland“, von der er spricht, ist kein Konstrukt von Erdoğan, sondern Ausdruck eines transnationalen sozialen Lebens, das sowohl „hier“ als auch „dort“ stattfindet, und eines sozialen Raumes, in dem multiple Identitäten 2 und doppelte Loyalitäten ausgebildet werden, die Assimilationszwängen nationaler Kulturen widerstehen.

Statt die türkische Diaspora in Deutschland im Sinne des Mythos der „fünften Kolonne“ zu diskreditieren oder die Zugriffsmöglichkeiten der türkischen Regierung zu überbewerten, sollten Politik und Medien der Bundesrepublik deren Brücken- und Vermittlungsfunktionen anerkennen. Statt Menschen auf eine Identität festzulegen oder sie mit einer „Entweder-oder“-Entscheidung zu konfrontieren, sollte es den Menschen überlassen werden, inwieweit sie sich assimilieren oder ihre Herkunftskultur pflegen wollen. Ein modernes, den transnationalen Prozessen Rechnung tragendes Staatsangehörigkeitsrecht, das die Option der Doppelstaatlichkeit beinhaltet, wäre ein großer Schritt in die richtige Richtung. Die Mehrstaatlichkeit ist nicht immer ein Segen, aber sie ist nie ein Fluch, denn sie ist eine Option und kein Zwang.

  1. Jürgen Gerhards und Jörg Rössel, »Zur Transnationalisierung der Gesellschaft der Bundesrepublik«, Zeitschrift für Soziologie, Jg. 28, Heft 5, 1999, S. 328 u. 333.
  2. Helmut Berking, »‚Homes away from Home‘: Zum Spannungsverhältnis von Diaspora und Nationalstaat«, Berliner Journal für Soziologie, Heft 1, 2000, 59.