Servus Bosporus

Zurück in die Türkei – Die dritte Identität

Seit mehreren Jahren tritt unter Türkischstämmigen aus Deutschland ein Phänomen auf: Es zieht sie in das Heimatland ihrer Eltern. Seitdem es dem Land wirtschaftlich gut geht, haben sie dort bessere Berufschancen. Doch viele gehen auch, um endlich irgendwo anzukommen.

Wenn er von der Dachterrasse der Bar Teras 6 blickt, liegt dem Betrachter das nächtliche Istanbul zu Füßen. Lichter unter dem Nachthimmel lassen die Stadt bunt erleuchten. Rund fünfzig Gäste essen zu Abend, während der Politikwissenschaftler Gürsel Dönmez, Beauftragter für Auslandstürken in Deutschland, einen Vortrag hält. Immer wieder lacht jemand laut auf, nickt bestätigend. Mit Wortwitzen gespickt erzählt Dönmez Anekdoten aus dem Alltag eines Deutschtürken in der Türkei. „Der ‘turkish way of business’ ist, wenn der Elektriker die Deckenlampe mit einer Schraube weniger befestigt, sie aber trotzdem jahrelang hält“, sagt Arda Sürel und lacht. Sürel ist Unternehmensberater aus Mülheim an der Ruhr.

Er sitzt auf einem Barhocker und hört dem Vortrag amüsiert zu. „Anfangs, als ich nach Istanbul zog, schrie der Preuße in mir in solchen Situationen noch auf. Jetzt denke ich mir: Was soll’s? Läuft doch.“ Ab und zu meldet sich einer der Gäste und bittet Dönmez um einen Tipp: Etwa, wie man trotz deutschem Pass einen Kredit erhält oder einen Handy-Vertrag abschließen kann. Ein besonderer Abend: der monatliche Stammtisch der Rückwanderer. Die Unternehmerin Çiğdem Akkaya gründete ihn 2005. Beim ersten Treffen waren es zwölf Leute, nun zählt allein die Facebook-Gruppe 1600 Mitglieder, Tendenz steigend.

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Seit 2005 wandern mehr Menschen aus Deutschland in die Türkei aus als von dort nach Deutschland. Sie genießen in der Türkei dank ihrer deutschen Hochschulausbildung einen hohen Status. Doch vor allem verspricht die wachsende Wirtschaft der Türkei ihnen mehr beruflichen Erfolg als hierzulande. Denn nach einer OECD-Studie von 2007 beträgt die Arbeitslosenquote bei Akademikern mit Migrationshintergrund in Deutschland 12,5 Prozent, bei Akademikern ohne Migrationshintergrund dagegen nur 4,4 Prozent. „In Berlin war ich arbeitslos. Als ein gutes Jobangebot aus Istanbul kam, bin ich gegangen“, sagt Alev Karataş, Soziologin aus Berlin, die seit zehn Jahren in Istanbul lebt.

Zurück in die Türkei – dies ist der Auftakt einer vierteiligen Portraitreihe von jungen Menschen, die Deutschland gen Türkei verlassen haben. Am Montag (3.2.) geht es weiter mit:

 

Ob sie sich deutsch oder türkisch fühlt, hängt von der Situation ab

Deniz Ova ist hochqualifiziert, motiviert, attraktiv. In Deutschland war sie ein strahlendes Beispiel für gelungene Integration. Doch dann entschied sich die Kulturschaffende auszuwandern: Weil sie es kann.

 

Hier muss ich nicht mehr über Integration reden

Alev Karataş wanderte vor zehn Jahren von Berlin nach Istanbul aus. Die Soziologin suchte die Heimat und fand sich selbst.

 

Wie ein Türke tickt, willst du nicht wissen

Dinçer Yusuf Gürsoy ist 18 Jahre alt, als seine Familie beschließt, in die Türkei zurückzukehren. Beim Militärdienst lernt er seine neue Heimat erst richtig kennen.

 

Hier kann ich was bewegen

Ali Bilgiç, Manager, haben die Aufstiegschancen nach Istanbul gelockt. Denn die Baubranche boomt hier. Doch sein Haus in Stuttgart hat er behalten.

Laut der TASD-Studie (Türkische Akademiker und Studierende in Deutschland) des Futureorg-Instituts von 2008 wollten 38 Prozent der 250 befragten Hochqualifizierten auswandern, wovon 42 Prozent ein mangelndes Heimatgefühl mit Deutschland angaben. Die meisten wandern aus, weil sie ihren Job verloren haben oder sich diskriminiert fühlen. Kamuran Sezer, Sozialwissenschaftler und Leiter der Studie, empfiehlt jedoch, dieses Ergebnis mit Vorsicht zu genießen: „Diskriminierung ist eine höchst subjektive Erfahrung. Dieselbe Situation wird ein Deutschtürke X als Diskriminierung werten, ein Deutschtürke Y jedoch als Herausforderung, je nach Sozialisation und Charakter. Eine so schwerwiegende Entscheidung wie Abwanderung hat selten nur eine Ursache, dazu ist das soziale Netz, in das ein Mensch eingeflochten ist, zu vielschichtig.“

Persönliche Erlebnisse, etwa Enttäuschungen in der Liebe oder im Job, entscheiden ebenso wie strukturelle, also die wirtschaftliche und soziale Lage in Deutschland. Sind rationale Beweggründe abgehakt, gesellen sich emotionale dazu: Viele sehnen sich nach dem Gefühl, endlich dazuzugehören. So wie Arda Sürel. Er kehrte zurück, weil er seit seiner Kindheit eine Sehnsucht nach einem Land spürte, das er zwar nicht richtig kannte, von dem er sich aber erhoffte, dass es die Heimat sei.

Aus- bzw. Rückwanderer sollten jedoch nicht der Illusion erliegen, die Türkei des Sommerurlaubs oder der Kindheitserinnerungen vorzufinden. In der Türkei herrschen andere Gewohnheiten und Gesetze, deshalb sind manche Neuankömmlinge in Alltagssituationen irritiert: Das kann ein Missverständnis mit der Kollegin über die beste Arbeitsweise sein, eine Meinungsverschiedenheit mit einem Freund über Wertvorstellungen oder schlicht langwierige Behördengänge. Außerdem wird so mancher Aus- bzw. Rückwanderer ein altbekanntes Gefühl auch in der neuen Heimat nicht los: Ich bin anders. „Rückwanderer, die in Deutschland sozialisiert wurden, müssen in der Türkei natürlich auch eine Integrationsleistung erbringen“, sagt Sezer. Wie integriert ein Mensch ist, hat laut dem 2004 gestorbenen Soziologen Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny allerdings weniger damit zu tun, wie er sich selbst fühlt, sondern vielmehr damit, wie ihn sein Umfeld bewertet. In Deutschland zählt ein Deutschtürke zwar faktisch zu den Inländern, wird aber als fremd wahrgenommen, in der Türkei gilt er als Ausländer, ist aber willkommen. „In der Türkei werden wir wegen unserer Herkunft nicht diskriminiert oder problematisiert“, sagt Alev Karataş. Im Gegenteil: In der Türkei wird die Doppelkultur der Almancı, also der „Deutschländer“, geschätzt.

Servus, Bosporus! 2014 reisten zwölf Schüler der Zeitenspiegel-Reportageschule nach Istanbul. Zehn Tage lang recherchierten sie in der türkischen Metropole für ihre Geschichten. Darin wollten sie vor allem die besonderen Beziehungen zwischen Menschen in Istanbul und Deutschland in den Fokus stellen. Aus den Geschichten ist „Servus, Bosporus!“ entstanden, ein Onlinemagazin, in dem sich die Vielfalt der Metropole Istanbul aber auch die Vielfalt journalistischer Erzählformen wieder findet. Einige der Artikel veröffentlichen wir in einer losen Reihe auch im MiGAZIN.“

Doch trotz der Akzeptanz leben Rückkehrer meist in einer Nische, die wenig mit der Realität der meisten Türken zu tun hat: Sie arbeiten häufig für eine deutsche Firma, lesen den „Spiegel“, gucken RTL, skypen mit Freunden in Köln oder Stuttgart und lassen sich von Besuch aus Deutschland Gummibärchen mitbringen. „Die türkische Community in Deutschland hat eine dritte Identität entwickelt, die weder ganz türkisch, noch ganz deutsch ist“, sagt Kamuran Sezer. Viele Mitglieder des Rückwanderer-Stammtischs sagen: Ich fühle mich deutsch und türkisch zugleich. „Wenn wir Deutschtürken A sagen, verstehen wir untereinander auch A. Das ist der Unterschied zu Türken aus der Türkei. Wenn wir A sagen, verstehen sie manchmal auch B“, sagt Çiğdem Akkaya.

Das Gefühl, endlich dazuzugehören, kann da manchmal ausbleiben. Doch eine stimmige Identität muss nicht notwendigerweise an ein Land gebunden sein. So wie bei Alev Karataş, die sagt: Meine Heimat sind meine Freunde und meine Arbeit. Der Ethnologe Martin Sökefeld ermuntert, sich von der Vorstellung zu lösen, Kultur sei eine nach innen homogene und nach außen abgeschlossene Einheit, der man beitreten kann wie einem Kegelklub. Da sie von Menschen gemacht ist, kann sie auch von ihnen umgewandelt werden. Wer sich dies bewusst macht, schafft sich sein eigenes Heimatgefühl – egal, in welchem Land.