Re-Europäisierung

Tendenzen der innereuropäischen Migration

Europa erlebt eine Re-Europäisierung der Migration, genauer gesagt eine EU-Europäisierung. Der freie europäische Migrationsraum entfaltet seine interne Dynamik. Prof. Dietrich Thränhardt skizziert das Geschehen.

Von Dietrich Thränhardt Dienstag, 28.01.2014, 8:27 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 31.01.2014, 1:36 Uhr Lesedauer: 20 Minuten  |  

Deutschland ist zurzeit das wichtigste europäische Einwanderungsland. 74 Prozent der Zuwanderer kamen im Jahr 2012 aus dem EU-Ausland. Im Gegensatz zur öffentlichen Wahrnehmung, die dominiert wird durch Berichte über südeuropäische Zuwanderer, waren Polen, Rumänen, Bulgaren und Ungarn die größten Zuwanderergruppen. Erst danach folgten Griechen, Italiener und Spanier. 1

Die Zuwanderung aus Russland und anderen GUS-Staaten ist stark zurückgegangen, der Auswanderungsüberschuss in Richtung Türkei hat zwischen 2011 und 2012 zugenommen (von 1.735 auf 4.147 Personen). Während der Auswanderungsüberschuss in die Schweiz allgemein bekannt ist und mit Blick auf die dahin auswandernden, mit hohen Kosten ausgebildeten deutschen Ärzte auch diskutiert wird, ist die Bilanz mit der Türkei noch nicht ins öffentliche Bewusstsein eingedrungen. So wurde etwa noch im Februar 2013 die Türkei als „Ursprungsland erheblicher Wanderungsbewegung nach Deutschland“ bezeichnet. 2 Das entspricht nicht den Tatsachen, denn in den vergangenen Jahrzehnten wurden sowohl die Zu- als auch die Abwanderungszahlen zwischen Deutschland und der Türkei immer kleiner. Sie machen inzwischen nur noch etwa ein Prozent der türkeistämmigen Bevölkerung in Deutschland aus.

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Europa erlebt eine Re-Europäisierung der Migration, genauer gesagt eine EU-Europäisierung. Der freie europäische Migrationsraum – eine weltweit einmalige Erscheinung – entfaltet seine interne Dynamik, während die Einwanderung von außerhalb beschränkt bleibt. In allen europäischen Ländern hat das zunächst die Konsequenz, dass es bei den eigenen Staatsangehörigen einen Auswanderungsüberschuss gibt. Dies gilt auch für attraktive Einwanderungsländer wie die Schweiz und Luxemburg. In aktiven Einwanderungsländern wird dieser Auswanderungsüberschuss ausgeglichen durch verstärkte Einwanderung, vor allem aus ökonomisch schwächeren Ländern. Diese Länder stehen allerdings in der Gefahr, Bevölkerung zu verlieren und im Zusammenspiel mit dem europaweiten Geburtenrückgang in eine demografische Abwärtsspirale zu geraten. So trifft etwa in Lettland auf 28 Auswanderer nur ein Einwanderer.

Migrationstrends und Arbeitsmarktdynamik seit 2004
Als die EU 2004 zehn neue Mitglieder aufnahm, ergab sich eine experimentelle Situation. Nur drei Länder – Schweden, Großbritannien und Irland – öffneten ihre Grenzen für Arbeitskräfte aus den neuen Mitgliedstaaten sofort. Wegen der geografischen Nähe zu Polen und dem Baltikum sowie dem hohen Pro-Kopf-Einkommen hätte man annehmen können, dass Schweden ein Hauptziel der anlaufenden Arbeitsmigration werden würde. Das Gegenteil war der Fall. Es kam zu einer starken Wanderungswelle nach Großbritannien und Irland – weit stärker, als es die britische Regierung vorausgesehen hatte. „1,5 Millionen sind seit Mai 2004 aus den neuen EU-Mitgliedsländern ins Vereinigte Königreich gekommen. (…) Sie sind jung und arbeiten für geringe Löhne im Niedriglohnbereich, auch wenn sie hoch qualifiziert sind.“ 3 Britische Arbeitgeber bevorzugen inzwischen polnische Arbeitskräfte wegen ihrer „Zuverlässigkeit“ gegenüber Briten. 4 Diese Migration führt also zur Dequalifizierung gut ausgebildeter Arbeitskräfte und zur Freisetzung gering qualifizierter Arbeitskräfte in Großbritannien.

Die Wanderungsbewegung nach Schweden blieb dagegen gering. Sie stieg von 1.134 Personen im Jahr 2003 auf 2.521 im Jahr 2004 und schließlich auf 7.540 im Jahr 2005 und sank dann bis 2011 auf 4.399 Personen ab, Rückwanderungen sind hierin noch nicht gegengerechnet. 5 Andererseits entsprechen in Schweden die Einkommen der EU-Arbeitskräfte denen der Einheimischen. Es kam also nicht zu Billiglöhnen, zu beruflichen Herabstufungen und Verdrängungen, allerdings auch zu wenig Migration. 6

2007 traten Rumänien und Bulgarien der EU bei und erneut entstand eine experimentelle Situation. Wieder öffnete Schweden seinen Arbeitsmarkt, außerdem auch Finnland, Norwegen, Dänemark, Italien, Portugal und Spanien. 7 Großbritannien und Irland beteiligten sich diesmal nicht. Wieder blieb die Einwanderung nach Schweden sehr begrenzt. Sie stieg von 348 Personen im Jahr 2006 auf 2457 im Jahr 2007 und ging dann bis 2011 auf 1828 zurück, Rückwanderer sind auch hier nicht gegengerechnet. Das Ausmaß der Zuwanderung blieb so gering, dass Schweden am 15. Dezember 2008 die Zuwanderung unter den gleichen Bedingungen über Europa hinaus öffnete. Seitdem können Arbeitskräfte weltweit rekrutiert werden, wenn sie zu den gleichen Bedingungen wie Einheimische beschäftigt werden – eine einmalige prinzipielle Öffnung.

Anders waren die Auswirkungen in Südeuropa. Über 900.000 Rumänen leben heute in Spanien, eine Million in Italien. In beiden Ländern sind Rumänen die größte Ausländergruppe. Männliche Einwanderer arbeiten in Spanien meist in der expandierenden Bauindustrie, Frauen vielfach in haushaltsnahen Bereichen. Noch stärker als in Großbritannien bildeten sich Beschäftigungsnischen, in denen immer mehr Migranten konzentriert waren und die Löhne tendenziell sanken. Stärker als in Großbritannien waren Migranten in Südeuropa in informellen Wirtschaftssektoren beschäftigt. 8 Diese Bereiche waren einerseits sehr aufnahmebereit und machten es Neuankömmlingen möglich, im Land Fuß zu fassen. Andererseits sind sie ihrer Natur nach unreguliert, unsicher, ungeschützt und offen für Ausbeutung. Mit dem großen Angebot an arbeitswilligen Migranten veränderte sich der Arbeitsmarkt weiter zugunsten potenzieller Arbeitgeber.

Die Migrationen folgten den unterschiedlichen Logiken der bestehenden Sozialsysteme und verstärkten die jeweiligen Merkmale und Dynamiken. Im regulierten schwedischen System konnten die Gewerkschaften nicht nur rechtlich, sondern auch faktisch durchsetzen, dass Migranten zu den gleichen Bedingungen beschäftigt wurden wie einheimische Arbeitskräfte. 90 Prozent der Beschäftigten arbeiten in Schweden im Rahmen eines Tarifvertrags, in der schwedischen Gesellschaft gibt es einen starken egalitären Konsens. Damit blieb das Arbeits- und Sozialsystem stabil, und es gab für die Unternehmen keine Anreize, qualifizierte Arbeitskräfte auf niedrigeren Qualifikationsstufen einzusetzen. Schweden verzichtete damit allerdings auf sogenannte Billigarbeit, die in vielen anderen Ländern Unternehmen und Konsumenten Extravorteile verschafft, etwa über ungesicherte Arbeitsverhältnisse im Servicesektor bis hin zu günstigen Restaurants. Schweden gilt als gut funktionierendes Beispiel für die Effektivität von Binnenkontrollen 9 nach dem Wegfall der Grenzkontrollen in der offenen EU. Das System stützt sich auf den hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad von etwa 70 Prozent, der hohen Tarifbindung von etwa 90 Prozent (zum Vergleich: in Deutschland sind etwa 20 Prozent der Beschäftigten Mitglied einer Gewerkschaft und 60 Prozent fallen unter den Geltungsbereich eines Tarifvertrags) und die Offenheit der skandinavischen Gesellschaften für Transparenz bis hin zur Offenlegung der Einkommen.

  1. Im Folgenden werden immer Nettozahlen genannt, das heißt Ein- und Auswanderung werden direkt gegengerechnet. So entsteht ein klareres Bild. Werden nur Ein- oder nur Auswanderungszahlen genannt, können Verwirrung gestiftet und Ängste geweckt werden. Dieser Gefahr unterliegt auch der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) in seinem Jahresgutachten 2013, wenn er mit „Sorge“ über die Abwanderung qualifizierter deutscher Staatsangehöriger berichtet, ohne sie mit entsprechender Zuwanderung zu vergleichen. Vgl. SVR (Hrsg.), Erfolgsfall Europa?, Berlin 2013, S. 60.
  2. Die Welt vom 7.2.2013.
  3. Madeleine Sumption/Will Somerville, The UK’s New Europeans, Manchester 2010, S. 5.
  4. Vgl. Bridget Anderson et al., Central and East European migrants in low wage employment in the UK, York 2006.
  5. Vgl. die Angaben bei Statistics Sweden, 2013, (1.10.2013).
  6. Vgl. Eskil Wadensjö, EU Enlargement and Labour Immigration: The Swedish Experience, in: Karin Zelando (Hrsg.), What’s in it for us?, Borås 2012, S. 30.
  7. Vgl. hinsichtlich der Grenzregelungen anderer EU-Staaten (1.10.2013).
  8. Der Anteil der Migranten ohne Arbeitserlaubnis in Großbritannien wird auf etwa zehn Prozent geschätzt, er liegt höher als in Frankreich und Deutschland. Vgl. Shamit Saggar/Will Somerville, Building a British Model of Integration in an Era of Immigration, Washington, DC 2012, S. 4.
  9. Vgl. zur Unterscheidung von externen und internen Kontrollen: Grete Brochmann/Tomas Hammar (Hrsg.), Mechanisms of Immigration Control, Oxford 1999, S. 12–17.
Aktuell Politik

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