Subtiler Rassismus in Lehrbüchern?

„Das mit den Männern und Frauen bei euch finde ich sowieso doof“

Zwar ist der Streit um das N-Wort in Kinderbüchern nahezu aus der breiten Öffentlichkeit verschwunden, doch es bahnt sich etwas Ähnliches an. Ein Lehrbuch zeigt, dass Schülern abwertende Vorurteile gegenüber anderen Kulturen nähergebracht werden. Der Frage, weshalb Menschen überhaupt vermeintlich andere Gruppen mit negativen Zuschreibungen kennzeichnen, ging das MiGAZIN nach und fand eine erste Antwort.

Der Rassismus ist nicht verschwunden, er versteckt sich nur manchmal in verschiedenen Spielarten. In unserer heutigen Zeit erleben wir oft einen subtilen Rassismus. Er äußert sich darin, dass eine orientierende Konstruktion von „Wir“ und „Ihr“ aufgestellt wird. Dabei werden Menschen, die vermeintlich nicht dazugehören, durch abwertende Zuschreibungen und Merkmale gekennzeichnet.

Der subtile Rassismus
Der Vorurteilsforscher David O´ Keefe Sears unterscheidet dabei einige Grundmerkmale des subtilen Rassismus: die Leugnung, dass es überhaupt Diskriminierung von bestimmten Gruppen gibt und die Zurückhaltung von Förderung von Minderheiten. Hinzu kommt noch die Einstellung, dass Minderheiten zu viel und aggressiv fordern.

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Doch erst mal der Reihe nach: Die Geschichte vom Autor Paul Maar und dem Lehrbuch „Neben mir ist noch Platz“ handelt von Aischa, die mit ihrer Familie aus dem Libanon nach Deutschland flüchtet. Sie kommt daraufhin in eine Klasse und fühlt sich dort ausgegrenzt, bis sie auf ihre Klassenkameradin Steffi trifft. Die beiden Mädchen werden allmählich die besten Freundinnen. Das Buch zeigt damit die Annäherung zweier verschiedener Kulturen. So weit, so gut!

Eigentlich ein schönes Buch, wenn nicht allenthalben Vorurteile geschürt würden. Am markantesten wird das deutlich, als Steffi Aischas Familie besucht. Auf einer einzigen Seite werden dutzende Vorurteile manifestiert: So fragt sich Steffi, weshalb Aischas Familie so groß sei. Denn Vater, Oma, Mutter, ein Bruder sowie zwei Schwestern leben unter einem Dach. „Seid ihr aber viele!“, bemerkt Steffi.

Hier wird das Vorurteil von den großen muslimischen Familien geschürt, was nicht der Wahrheit entspricht. Das ist vielleicht noch als harmlos zu bezeichnen. Doch Folgendes nicht: Nachdem die Familie zusammen mit Steffi draußen am Fluss auf dem Boden gegessen hat, kommt es zu einer komischen Diskussion mit Aischa. Steffi fragt sich, weshalb die Männer beim Essen als Erstes bedient worden seien und konfrontiert Aischa damit. Doch sie selbst findet das gar nicht mal so schlecht, weil sie ja nur zwei Männer in der Familie habe. Aischa wird hier als zurückhaltendes und gutgläubiges, vielleicht als dummes Mädchen stilisiert, da sie sich selbst nicht hinterfragt; sie ist passiv und antwortet naiv. Dagegen wird Steffi als pfiffiges und als aufgeklärtes Mädchen beschrieben – quasi als Verkörperung des Kantischen Satzes „Sapere aude – Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“. Steffi kann es nicht verstehen, weshalb Männer als Erstes essen dürfen und erklärt, dass das ungerecht sei. „Bei uns werden immer die Frauen zu erst bedient“ und so sei es besser herum, sagt sie und beide Mädchen kichern. In dieser Szene steckt ein unausgesprochenes Vorurteil: Männer in Aischas Kulturkreis betrachten Frauen als minderwertig und behandeln sie schlecht, wohingegen Steffis Kulturkreis als überlegen dargestellt wird.

Am Textrand stehen schließlich zwei Aufgaben, die erst recht die Konstruktion zwischen „Wir“ und „Ihr“ aufbauen sollen: Die Schüler sollen beantworten, welche Unterschiede es zwischen beiden Familien gebe und was Steffi mit dem Satz „Das mit den Männern und Frauen bei euch finde ich sowieso doof…“ meine.

Der gesellschaftliche Außenseiter: Kampf um knappe Ressourcen
Doch unbeantwortet bleibt bislang noch, weshalb vermeintlich andere Gruppen mit abwertenden Zuschreibungen gekennzeichnet werden, während die eigene aufgewertet wird. Dieses Phänomen spitzt der Integrationsforscher Haci-Halil Uslucan folgendermaßen zu: „So sehen wir am Ende in jedem Deutschen einen verkappten Goethe, in jedem Polen aber einen potenziellen Autoknacker und in jedem Türken einen Gewalttäter“.

Die Erklärung ist ganz einfach: Der Soziologe Norbert Elias hat es mit der asymmetrischen Machtbalance zwischen zwei Gruppen erklärt. Danach versucht sich der gesellschaftliche Außenseiter – also die Minderheit – der Mehrheitsgesellschaft anzupassen. Von der Mehrheitsgesellschaft geht also eine Sogwirkung aus, obschon sie parallel die Minderheit mit negativen Zuschreibungen kennzeichnet. Diese negativen Stigmatisierungen dienen schlussendlich dem Machterhalt der Mehrheit. Denn sie führen dazu, dass die Minderheit schlechtere Chancen im Hinblick auf die gesellschaftlichen Ressourcen besitzt, wie beispielsweise Arbeit, Wohnungsmarkt, Bildung und Gesundheitswesen.

Ein gesellschaftlicher Aufstieg ist vor diesem Hintergrund nur selten möglich und damit eine chancengerechte Gesellschaft weit entfernt. Mit dem Lehrbuch versucht die Mehrheitsgesellschaft, die natürlich eine Deutungshoheit hat, bereits in jungen Jahren den Kindern und damit den Erwachsenen von morgen zu vermitteln, dass es markante Unterschiede zwischen den Kulturen gibt: Ein frühes und schweres Rüstzeug, das trennt, was zusammenwachsen könnte.