Medienkritik

„Sozialbetrüger“ oder „Neue Nachbarn“?

„Meine Eltern sind aus Rumänien: Deshalb bin ich von der Art und Weise der Debatte über die vermeintliche Armutszuwanderung direkt betroffen“, schreibt Clara Herdeanu und kommentiert die sprachliche Darstellung von Rumänen und Bulgaren in den deutschen Medien.

Riesen-Debatte um mögliche Sozialbetrüger aus Bulgarien und Rumänien, die nach Deutschland kommen, um hier Hartz IV zu kassieren.“ (bild.de vom 03.01.2014 I und bild.de vom 03.01.2014 II) Dieser Satz tauchte in den vergangenen Tagen in gleich zwei unterschiedlichen BILD-Artikeln und im exakt gleichen Wortlaut als fettgedruckter, hervorgehobener Einstieg auf. Er steht exemplarisch für die von Medien und Politik teilweise sehr plakativ betriebene aktuelle Debatte über Rumänen und Bulgaren in Deutschland.

Meine Eltern sind aus Rumänien und einst aus der Diktatur nach Deutschland geflohen: Deshalb bin ich von der Art und Weise dieser Debatte über die „Arbeitnehmerfreizügigkeit“ (z.B. ZEIT.de 04.01.2014) oder die „drohende Armutszuwanderung aus Bulgarien und Rumänien“ (BILD 30.12.2013) direkt betroffen.

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Ich bin promovierte Linguistin und habe mich in meiner Doktorarbeit mit der gesellschaftspolitischen Relevanz der Massenmedien und ihres Sprachgebrauchs auseinandergesetzt: Deshalb beobachte ich diesen aktuellen Diskurs auch aus fachlichem Interesse und darum zielt mein Beitrag darauf ab, Aufmerksamkeit dafür zu wecken, wie diese Debatte sprachlich geführt wird.

Sprache und Medien als formende Kraft der Gedanken
Zunächst ist es wichtig, einige grundlegende Aspekte im Hinterkopf zu behalten: Massenmedien wie Zeitungen, Fernsehen und Internet kommunizieren hauptsächlich durch Sprache. Jeder von uns verwendet tagtäglich mindestens eine Sprache, um mit sich anderen Menschen zu verständigen und seine Wahrnehmung der Welt begreifbar zu machen. Obwohl jeder Mensch als Mitglied einer Gesellschaft Sprache verwendet, ist die Reflexion über Sprache aber nicht selbstverständlich. Dabei ist Sprache kein neutrales Medium, mit dem die Welt realitätsgetreu abgebildet wird. Wenn mit Sprache auf Sachverhalte und Akteure Bezug genommen wird, werden diese durch die Versprachlichungen beeinflusst. Sprache perspektiviert somit die Wahrnehmung von ontischen Einheiten (Sachverhalte, Akteure, Ereignisse) – ja, sie schafft mitunter sogar ganz neue Sachverhalte bzw. ein Bewusstsein für sie.

Die Massenmedien entscheiden darüber hinaus auch durch Selektion, welche Themen im gesellschaftlichen Diskurs überhaupt wahrgenommen werden. Durch Sprache und Massenmedien erfahren wir also neue Kenntnisse über uns persönlich unbekannte Ereignisse oder Personen.

Wegen dieser Themenführerschaft der Massenmedien und des Perspektivierungspotentials der Sprache macht es einen großen Unterschied, ob über „Arbeitnehmerfreizügigkeit“ (z.B. ZEIT.de 09.01.2014), die „drohende Armutszuwanderung aus Bulgarien und Rumänien“ (BILD.de 30.12.2013) oder „die wachsende Zahl von Armutsflüchtlingen aus Osteuropa“ (BILD.de 30.12.2013) gesprochen wird!

Rumänen und Bulgaren – „Sozialbetrüger“ und „Armutsflüchtlinge“
Liest man mit diesem Wissen die Artikel einer der auflagenstärksten Zeitung Europas aufmerksam, fallen einem die vielen negativ konnotierten – d.h. wertenden – Wörter auf, die für den Sachverhalt der Arbeitnehmerfreizügigkeit und die Akteursgruppe der Rumänen und Bulgaren verwendet werden: Die aus Rumänien und Bulgarien stammenden Menschen werden so z.B. abwertend als „Armutsflüchtlinge“ (z.B. BILD.de 05.01.2014) oder „Sozialbetrüger“ (z.B. BILD.de 03.01.2014) bezeichnet, die „deutsche Sozialleistungen kassieren“ (BILD.de 03.01.2014). Mit dem auch in anderen BILD-Artikeln im Zusammenhang mit der Zuwanderung häufig gebrauchten umgangssprachlichen Verb „kassieren“ werden dabei außerdem indirekt weitere negative Beurteilungen aufgerufen, die der Akteursgruppe zugeschrieben werden. Es wird somit durch sprachliche Mittel versucht, negative Deutungen über die neuen Zuwanderer im Diskurs dominant zu setzen. Von hier ist es dann nur noch ein kleiner Schritt dazu, diese negativen Deutungen auf die aus Rumänien und Bulgarien stammenden Menschen zu übertragen und sie somit an sich als negativ zu beurteilen.

Bereits der Blick auf die Überschriften oder die einleitenden Sätze reicht in vielen Fällen aus, um weitere prägnante Beispiele für Formulierungen zu finden, in denen negative Bewertungen mitschwingen. So werden Fragen gestellt, die suggestiv Botschaften von beängstigenden und unkontrollierbaren Zuständen vermitteln: „Wie viel kosten uns die neuen Zuwanderer? […] Was sind die Folgen der unbegrenzten Zuwanderung von Bulgaren und Rumänen, die ab dem 1.1.2014 auf den deutschen Arbeitsmarkt kommen?“ (BILD.de 30.12.2013) oder „Stürmen Rumänen und Bulgaren unseren Job-Markt? CSU will härtere Strafen für Armuts-Zuwanderer“ (BILD.de 28.12.2013). Das Verb „stürmen“ stellt auf konzeptueller Ebene implizit eine Verbindung zu einer unkontrollierbaren Naturgewalt her, die negative Folgen für die Betroffenen mit sich bringt – d.h. es werden mit Hilfe der Wortwahl indirekt Wissensrahmen aufgerufen, die Furcht einflößen. In diesem Fall ist „unser Job-Markt“ bedroht – und somit wird durch ein inklusives Wir ein sehr starker Kontrast zwischen vermeintlich unkontrollierbaren und somit angsteinflößenden Zuwanderern und ‚Uns Deutschen‘ hergestellt. Außerdem suggeriert der Untertitel „CSU will härtere Strafen für Armuts-Zuwanderer“, dass bereits Armut an sich strafbar und somit auch zu verurteilen ist.

Interessanterweise thematisiert eine Autorin die Art und Weise der Berichterstattung in dem BILD-Kommentar „‚Armutszuwanderung‘ klingt pervers“ (BILD.de 04.01.2014). Dieser in der Zeitung sehr häufig verwendete Ausdruck wird somit auf einer metasprachlichen Ebene im eigenen Medium scharf kritisiert. Allerdings handelt es sich im Spektrum der diese Thematik behandelnden BILD-Artikel um einen Einzelfall.

Rumänen und Bulgaren – „Neue Nachbarn auf Augenhöhe“ und „Deutschland gewinnt“
Der Unterschied in den Bezeichnungen für die Personengruppe der Rumänen und Bulgaren wird deutlich, wenn man Beispiele aus anderen überregionalen Zeitungen heranzieht: „Neue Nachbarn auf Augenhöhe“ (sueddeutsche.de 02.01.2014). Hier wird statt des Kontrastes ‚WIR Deutschen – SIE, die fremden Bulgaren und Rumänen‘ das Konzept der Nähe und der Vertrautheit aufgerufen. Die Zuwanderer sind somit nicht mehr moralisch verwerfliche „Sozialbetrüger“ und „Armutsflüchtlinge“. Die idiomatische Wortverbindung „auf Augenhöhe“ ist im allgemeinen Sprachgebrauch positiv besetzt, weil sie mit Hochwertwörtern wie Würde assoziiert wird. Dadurch überträgt diese Wortverbindung in diesem Zusammenhang die positiven Wertungen auch auf die Rumänen und Bulgaren.

Positiv besetzte Wörter und Wortverbindungen wie z.B. dürfen und ohne Hindernisse werden in der Süddeutschen auch in Bezug auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit an sich verwendet: „Seit 1. Januar dürfen Bulgaren und Rumänen ohne Hindernisse in der EU einen Job annehmen.“ (sueddeutsche.de 02.01.2014). Darüber hinaus wird die Zuwanderung durch in Artikelüberschriften verwendete, positiv konnotierte Wörter wie gewinnen und dank als ein Sachverhalt mit positiven Auswirkungen auf Deutschland präsentiert: „Osteuropa verliert, Deutschland gewinnt“ (sueddeutsche.de 30.12.2013) und die „Bevölkerungszahl steigt dank Zuwanderung“ (ZEIT.de 08.01.2014).

Semantische Kämpfe über „Sozialbetrüger“ und „Neue Nachbarn“
Diese kurzen Beispiele zeigen exemplarisch, wie durch unterschiedliche Versprachlichung der gleichen Ereignisse und Personengruppen, unterschiedliche Deutungen in einem Diskurs dominant gesetzt werden. Der Linguist spricht hier von Semantischen Kämpfen durch verschiedene Bezeichnungsvarianten. Und mit diesen Bezeichnungskonkurrenzen – also z.B. „Sozialbetrüger“ oder „Neue Nachbarn“ – wird um Deutungshoheiten im Diskurs gerungen: Wem es gelingt, bestimmte Ausdrücke in einem Diskurs durchzusetzen, hat somit Einfluss darauf, wie die Welt wahrgenommen wird!

Mit einer einfachen Stichwortsuche auf den jeweiligen Internetauftritten der Zeitungen kann jeder die von mir hier geschilderten Beobachtungen leicht überprüfen und sich selbst ein Bild der Situation machen. Die hier angeführten Beispiele sind auch nur ein kleiner Ausschnitt einer viel umfangreicheren Debatte. Allerdings zeigen sie deutlich, dass wir Medien nicht unkritisch „konsumieren“ dürfen. Ansonsten werden wir – ohne es zu bemerken – in unseren Weltbildern stark beeinflusst und sehen vielleicht Feinde, wo es keine gibt.

Bei der aufmerksamen Lektüre der BILD-Artikel im Vergleich zu Artikeln der ZEIT oder der Süddeutschen, die auch persönliche Schicksale schildern, fällt außerdem noch etwas Entscheidendes auf: Es wird nur über Bulgaren und Rumänen gesprochen – aber nicht mit ihnen. Auch dies ist ein Umstand, der die gegenseitige Verständigung definitiv nicht begünstigt. Dabei brauchen wir für unsere Demokratie den Dialog und gelungene Kommunikation über- und miteinander, um sie zu erhalten und zu stärken.