Auch im Bierzelt gelten Menschenrechte

Der lange Abschied von der Sozialpolitik nach Hausherren-Art

Das Landessozialgericht NRW hat einer vierköpfigen rumänischen Familie Anspruch auf Hartz IV zugesprochen. Nach einer Spiegel Online Meldung kochte die Leserschaft. Den Boden dafür bereitete der bislang noch für Integrationsfragen zuständige Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich.

Die deutsche Volksseele kocht. Innerhalb einer Stunde beteiligen sich fast 150 Kommentator_innen an der Diskussion im Forum bei Spiegel Online. Wobei „Diskussion“ wohl nicht der richtige Begriff sein dürfte: Bis auf ganz wenige Ausnahmen lassen sich fast alle Kommentare exemplarisch unter diesem zusammen fassen: „Welcher Richter hat diese Entscheidung verbrochen? Er sollte des Landesverrats angeklagt werden. Wenn das tatsächlich durchgehen sollte, ist das der Anfang vom Ende unseres Sozialstaats.“

Was war geschehen? Ist in einem skandalösen Gerichtsurteil noch weiter gehende Sanktionierung, Bevormundung und Ausgrenzung von Hartz-IV-Bezieher_innen für zulässig erklärt worden? Sollen die verbliebenen Reste des Sozialstaat etwa noch skrupelloser zusammen gestutzt werden? Nein. Der Auslöser für die Ereiferungen und das Gekeife des Spiegel lesenden Bildungsbürgertums war folgende Überschrift:

___STEADY_PAYWALL___

EU-Einwanderer in Deutschland: Gericht spricht rumänischer Familie Hartz IV zu

Das Landessozialgericht NRW hatte am Donnerstag für eine vierköpfigen Familie aus Gelsenkirchen, die während eines längeren Zeitraums erfolgloser Arbeitsuche nur vom Kindergeld und dem Verkauf der Obdachlosenzeitung überlebt hatte, einen Anspruch auf die staatliche Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums in Form von Arbeitslosengeld II festgestellt.

Eine solche Meldung führt im Deutschland des Jahres 2013 ganz offensichtlich noch immer zu derartigen, aus mehr oder minder unterschwelligem Rassismus gespeisten Neidreflexen, dass sich die Spiegel Online Redaktion entschloss, die Diskussion innerhalb eines Tages zu schließen. Das war vermutlich eine gute Entscheidung. Kostprobe gefällig? „Die kriegen’s nachgeworfen. Als Putzfrau oder -mann zu arbeiten, die viele ältere Mitbürger dringend bräuchten, und wofür sie wohl qualifiziert genug wären, haben sie nun nicht mehr nötig.“

Ganz offensichtlich hat die herrschende Strategie der letzten Jahre, Abstiegsängste in der Mittelschicht zu schüren und die Unterschicht gleichzeitig vollständig zu sedieren, so gut funktioniert, dass nun keineswegs die Tatsache einer auseinander driftenden Gesellschaft, der Abbau sozialer Leistungsstandards, die Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben als Ursachen im Zentrum der Kritik stehen.

Sondern schuld sind diejenigen am unteren Ende der Verteilungskette: Moderne Lohnsklaven aus Osteuropa dürfen zwar gern im Schlacht-Imperium des Schalke-Chefs Tönnies Schweine zerlegen, so dass das Kilo Hackfleisch bei Lidl für 2,99 € zu haben ist. Sie dürfen zwar gern – mit andersfarbigen Helmen ausgestattet – in der Meyer-Werft in Papenburg Luxusliner für gut betuchte deutsche Pensionäre zusammenschweißen. Aber soziale Rechte sollen sie gefälligst nicht einfordern, wenn es mit der Arbeit nicht klappt. Ein menschenwürdiges Existenzminimum soll ihnen nicht zuteil werden – denn dafür gibt es ja Suppenküchen und Armeinspeisungen.

Der bislang noch für Integrationsfragen zuständige Bundesinnenminister Friedrich hat seit vielen Monaten beständig den Boden bereitet, auf dem eine solche – koloniale – Auffassung von Europäischer Union wachsen und gedeihen konnte. Das Recht auf Freizügigkeit sei „nicht dazu gedacht, dass Menschen in Scharen das Land wechseln, nur um höhere Sozialleistungen zu bekommen“, polterte er in der vergangenen Woche. Daraufhin konnte selbst EU-Justizkommissarin Viviane Reding laut FAZ nicht mehr ganz diplomatisch bleiben: „Der deutsche Minister Friedrich, manchmal macht der so Bierzeltaussagen.“

Und Sozialkommissar László Andor stellte auf die Frage des Spiegel nach dem von Friedrich aufgeblasenen Problem des „Missbrauchs“ von Sozialleistungen durch EU-Bürger_innen schlicht und treffend klar: „Es ist nicht die Aufgabe des Innenministers, sich um solche Fragen zu kümmern. Dafür gibt es eine Arbeits- und Sozialministerin.“

Stimmt. Aber was trägt Frau von der Leyen eigentlich zur Debatte bei? Die Antwort lautet: Nichts. Die ihr untergebene Bundesagentur für Arbeit nannte das oben genannte Urteil „grundsätzlich erst mal eine Einzelfallentscheidung, wir warten die schriftliche Begründung ab.“

Diese Haltung lässt sich aus zwei Gründen getrost als ignorant bezeichnen:

Zum einen ist seit langem erkennbar, dass die deutschen Regelungen des SGB II nicht mit europäischen Vorschriften übereinstimmen. Während das deutsche Recht arbeitsuchende EU-Bürger_innen von den Leistungen ausschließt, verbietet das EU-Recht eine Schlechterstellung von EU-Bürger_innen ausdrücklich. Immer mehr Gerichte entscheiden in den letzten Jahren klar in diesem Sinne. Der bundesweit bekannte Richter am Landessozialgericht Hessen, Frank Schreiber, sagt: „Das Problem ist, dass in den Durchführungsanweisungen, die den Mitarbeitern im Job-Center vorliegen, nicht auf Europarecht hingewiesen wird. Die deutschen Job-Center verweigern daher regelmäßig rechtswidrig Leistungen für EU-Bürger.“

Es wäre eindeutig Frau von der Leyens Aufgabe, für eine europarechtskonforme Anwendung der deutschen Regelungen zum Arbeitslosengeld II zu sorgen – und Unionsbürger_innen die Inanspruchnahme von Hartz IV in den meisten Fällen zu ermöglichen. Statt einer Klarstellung sitzt das Arbeits- und Sozialministerium das Problem aus.

Zum anderen – und dies ist noch viel wichtiger – ist es die vornehmste Aufgabe der Bundesregierung, die Verfassung einzuhalten. Und diese beinhaltet mit Art. 1 und Art. 20 GG den Anspruch eines jeden Menschen in Deutschland auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Das Bundesverfassungsgericht hat im Juli vergangenen Jahres sehr deutlich festgestellt, dass dieser Anspruch als Menschenrecht auch für alle in Deutschland lebenden Ausländer_innen – unabhängig vom Status und dem Grund des Aufenthalts – zu gewährleisten ist:

„Ausländische Staatsangehörige verlieren den Geltungsanspruch als soziale Individuen nicht dadurch, dass sie ihre Heimat verlassen und sich in der Bundesrepublik Deutschland nicht auf Dauer aufhalten. (…) Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.“

Dieser Auftrag der Verfassung wird gegenwärtig insbesondere bezogen auf Unionsbürger_innen systematisch ignoriert. Leider ist nicht erkennbar, dass die Bundesregierung gewillt ist, diesen unhaltbaren Zustand von sich aus zu ändern; wie so oft muss sie wohl erst durch die Gerichte dazu gezwungen werden.

Abgesehen von allen rechtlichen Debatten steht über allem allerdings auch noch eine ganz grundsätzliche Frage: Wie wollen „wir“ (wobei die Frage ist, wer „wir“ eigentlich ist) die Zugangsmöglichkeiten zu nationalen Systemen sozialer und gesellschaftlicher Teilhabe in Zeiten der Globalisierung und „Entgrenzung“ zukünftig gestalten? Die klassische Antwort in Form einer Zugangs- und Teilhabepolitik nach „Hausherren-Art“ getreu dem Motto: „Die waren nicht zur Party eingeladen, dann bekommen sie auch nichts vom Buffet, sondern dürfen allenfalls das Geschirr abwaschen (bzw. die Schweine für das Festmahl schlachten)“ jedenfalls ist anachronistisch und eines modernen Gesellschaftsverständnisses gänzlich unangemessen.

Oder, um es mit Prof. Thorsten Kingreen, Verwaltungsrechtler an der Uni Regensburg, etwas wissenschaftlicher auszudrücken:

Sozialrechtliche Zugehörigkeit emanzipiert sich von den formalen staatsrechtlichen Kategorien, die für die Frage, was ein Mensch für die Sicherung seiner Existenz benötigt, ohnehin niemals Bedeutung hatte. Normen, die Ausländer beim Bezug existenzsichernder Leistungen gleichwohl nach wie vor gegenüber Inländern benachteiligen, sind allenfalls noch Ausdruck symbolischer Sozialpolitik, die suggeriert, man könne das Sozialsystem durch Leistungsbeschränkungen zu Lasten einzelner gesellschaftlicher Gruppen sanieren. Als Signal an die Betroffenen, nicht dazuzugehören, ist sie integrationspolitisch indes eher kontraproduktiv.1

Leider ist nicht zu erkennen, dass das aktuell für derartige Fragen zuständige politische Personal der Bundesregierung über das notwendige Problembewusstsein verfügt. Die Antworten werden sich daher wohl leider weiterhin auf dem Bierzeltniveau der Forderung nach Einführung einer „Ausländermaut“ bewegen.

  1. aus: Staatsangehörigkeit als Differenzierungskriterium im Sozialleistungsrecht. SGb – Die Sozialgerichtsbarkeit 03/13