Flucht aus Syrien

„Wir hatten Todesangst“

Zwei Millionen Syrer sind laut neuesten Zahlen auf der Flucht. Kassem Kawalda ist einer von ihnen und lebt seit zwei Wochen in Deutschland. Doch nicht jeder hat so viel Glück und Geld wie er. MiGAZIN sprach mit ihm über seine Flucht und die Situation in Syrien.

Erzählen Sie uns etwas von Ihrem Leben in Syrien. Woher kommen Sie genau und was haben Sie dort beruflich gemacht?

Kassem Kawalda: Ursprünglich komme ich aus Darra, das ist der Ort, in dem die Proteste gegen Assad begonnen haben. Ich bin aber bereits vor Ausbruch der Proteste aus beruflichen Gründen nach Damaskus gezogen, weil dort die wirtschaftliche Lage besser war. Dort war ich selbstständig und habe mit Elektrogeräten gehandelt. Finanziell ging es mir sehr gut.

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Warum sind Sie dann geflüchtet?

Kawalda: Einerseits aufgrund der Sicherheitslage im Land. In Damaskus war es zwar weitestgehend friedlich, doch es bestand immer die Gefahr, dass irgendwo in der Nähe eine Autobombe explodiert. Zum anderen aus wirtschaftlichen Gründen. Nach Ausbruch des Konflikts hat sich die wirtschaftliche Lage im Land massiv verschlechtert und damit auch meine. Ich stand vor der Frage, in welchem Land ich mein Geschäft fortsetzen könnte. Naheliegend war Libanon. Doch die Lage dort ist unberechenbarer denn je und kann jederzeit eskalieren. Also habe ich an Europa gedacht. Ich stand vor der Alternative Schweden oder Deutschland. Nach meinem Kenntnisstand waren in diesen Ländern das Asylrecht und die Lebensbedingungen am besten. Ausschlaggebend war aber, dass ich in Deutschland Verwandte habe.

Wie sind Sie geflüchtet?

Kawalda: Ich bin über Libanon, Türkei und Griechenland nach Deutschland geflüchtet. Das war ein sehr schwieriges, lebensgefährliches Unterfangen. Ab der Türkei begannen die Probleme.

Wir waren insgesamt 14 Flüchtlinge, darunter Palästinenser, Iraker, Kurden und natürlich Syrer. Von Istanbul aus wurden wir von einem Schlepper zu einem abgelegenen Dorf gefahren. Wir sind abends angekommen und sind im Dunkel der Nacht direkt weitergelaufen, um nicht von türkischen Sicherheitskräften entdeckt zu werden. Wir haben mehrere Flüsse mithilfe aufblasbarer Boote überquert. Insgesamt waren wir zwei Nächte ohne Nahrung unterwegs, bis wir schließlich die griechische Grenze überquerten.

In Griechenland erwartete uns ein weiterer Schlepper in einem Fünfsitzer. Wir mussten alle in einen Wagen einsteigen. Unser Ziel war Assina (Griechenland). Ich musste mit zwei weiteren Personen in den Kofferraum steigen. Wir wären dort fast erstickt. Das war die mit Abstand gefährlichste Situation in meinem Leben.

In Assina lernte ich einen anderen Schlepper kennen, der mir gefälschte Ausweisdokumente für die Ausreise besorgte. Ich versuchte, auf dem Luftweg nach Deutschland zu gelangen. Beim ersten Mal flog ich auf und wurde wegen Besitz gefälschter Ausweisdokumente und Versuch der illegalen Ausreise zu 40 Tagen Haft verurteilt, wurde aber bereits nach zwei Tagen wieder freigelassen und aufgefordert, das Land zu verlassen, was ohne Papiere auf legalem Wege aber nicht möglich ist. Nach dem vierten Versuch ist mir die Ausreise schließlich gelungen.

Gab es keine Alternative zur illegalen Ausreise?

Kawalda: Ich habe mehrere Male versucht, Asyl zu beantragen, leider ohne Erfolg. Die Ausländerbehörde weiß, dass ich mit gefälschten Papieren eingereist bin. Sie haben mir eine vorübergehende Aufenthaltsgenehmigung für drei Monate gegeben. Mir wurde gesagt, dass ich in ein Heim gehen könne, wohne aber bei meinen Verwandten.

In Deutschland gibt es Proteste gegen die Aufnahme von Flüchtlingen.

Kawalda: Es ist natürlich unangenehm, wenn man von Demonstrationen hört, die gegen die Flüchtlinge gerichtet sind. Andererseits kann ich die Proteste und den Widerstand nachvollziehen, denn die Flüchtlinge stellen erst einmal natürlich eine finanzielle Belastung für Deutschland dar. Solange es bei friedlichen Protesten bleibt, habe ich aber nichts dagegen.

Wie ist die Flüchtlingssituation in Syrien insgesamt und wie geht es ihrer Familie?

Kawalda: Es sind mehrere Millionen Menschen auf der Flucht. Sie wählen diesen Weg trotz aller Schwierigkeiten, denn alles ist besser als die Todesgefahr. Wer wohin flüchtet, hängt davon ab, wo er lebt und wie seine finanzielle Lage ist.

Die Menschen, die in den Grenzgebieten leben, flüchten häufig in die naheliegenden Nachbarländer, wie Türkei, Libanon, Jordanien oder Irak. Die mittellosen Syrer leben dort in der Regel in Flüchtlingslagern, arbeiten als Niedriglohner und leben unter sehr schlechten Bedingungen. Krankheiten sind weit verbreitet und die Versorgung ist sehr schlecht. Die Möglichkeit in den Westen zu flüchten, haben natürlich nur diejenigen, die über die notwendigen finanziellen Mittel verfügen. Meine Flucht nach Deutschland hat mich 9.000 Euro gekostet. Das kann sich nicht jeder leisten.

Aber für viele Menschen kommt eine Flucht nicht in Frage. Das gilt vor allem für diejenigen, die in den sicheren Gebieten Syriens leben. Das sind Gebiete, die von den syrischen Sicherheitskräften kontrolliert werden. Es gibt dort keine Kämpfe und damit auch keine akute Lebensgefahr. Das Leben dort ist ganz normal, so als gäbe es keinen Krieg. Kinder gehen in die Schule, Arbeiter gehen ihrer Arbeit nach. Und dennoch ist eine gewisse Anspannung spürbar. Die Gefahr, dass Attentate verübt werden, ist vorhanden. Meine Familie lebt überwiegend in den sicheren Gebieten. Wir telefonieren und kommunizieren über das Internet miteinander.

Gebiete, die von der bewaffneten Opposition besetzt sind, sind unsicher. Dort versucht die syrische Regierung die Kontrolle zurückzuerlangen und es kommt zu Konfrontationen.

Wie war die wirtschaftliche, soziale und politische Lage vor Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien?

Vor Ausbruch des Kriegs befand sich Syrien im wirtschaftlichen Aufschwung. Besonders zwischen 2006 und 2011. Es gab Millionen von Arbeitsmigranten aus dem Ausland. Vor allem in den Großstädten.

Das Verhältnis zwischen den verschiedenen konfessionellen Gruppen war ebenfalls sehr gut. Das Syrer-Sein stand im Vordergrund und nicht die Religion. In Syrien ist auf dem Ausweis die religiöse Zugehörigkeit nicht angegeben. Syrien ist ein säkularer Staat. Es gibt keine staatliche Diskriminierung gegen irgendeine religiöse Gruppierung. Als Schiit habe ich gemeinsam mit meinen sunnitischen Geschwistern in deren Moscheen gebetet. Es gab einen starken Zusammenhalt und in Teilen Syriens ist das immer noch so.

Was waren die Auslöder für die Demonstrationen in Syrien?

Kawalda: Nachdem die Menschen in Tunesien, Ägypten und Libyen für ein besseres Leben demonstriert haben, strebte auch das syrische Volk Veränderungen an. An den Demonstrationen nahmen unterschiedliche religiöse Gruppierungen teil. Bis dahin sprach niemand von einem Bürgerkrieg, geschweige denn von einem Religionskrieg. Es waren auch unbewaffnete Sicherheitskräfte vor Ort, die die Demonstrationen beobachteten.

Ich habe auch für mehr Freiheit demonstriert, bis ich gemerkt habe, dass die Opposition ihre Ziele mit Gewalt durchzusetzen versucht. Es ging nicht mehr darum, die Lebensverhältnisse zu verbessern, sondern das Ziel vieler Demonstranten bestand darin, das Land zu zerstören. Ihnen ist jedes Mittel recht, um Assad zu stürzen.

Und wie kam es zur Eskalation? Kann man heute von einem Religionskrieg sprechen?

Kawalda: Es gab Gruppierungen, die Eskalation der Gewalt provoziert haben, indem sie gezielt auf Demonstranten und Sicherheitskräfte geschossen haben. Ihr Ziel bestand darin, das Land ins Chaos zu stürzen. Ausländische Geheimdienste haben diese Verbrecher unterstützt.

Ausländische Medien wie Al Arabia und Al Dschasira boten radikalen Prediger eine Plattform. Diese haben einen Religionskrieg hinaufbeschworen. Es wurde einseitige Propaganda gegen die syrische Regierung verbreitet. Es wurde behauptet, die Demonstranten würden bekämpft, weil sie Sunniten seien. Sender warfen die Frage auf, wie es sein könne, dass eine alawitische Minderheit, 70 % Sunniten unterdrücken könnte, was nicht der Fall ist. Vor allem bildungsferne Schichten waren anfällig dafür. Außerdem wurden kleine Demonstrationen geschickt in Szene gesetzt und als Volksaufstand dargestellt.

Insofern gibt es in Syrien keinen klassischen Religionskrieg. Die überwiegende Mehrheit der sieben Millionen Bewohner von Damaskus ist sunnitisch und lebt dort mit anderen religiösen Gruppierungen friedlich zusammen. Der Religionskrieg wird einseitig geführt und geht von radikalen salafistischen Gruppierungen aus. Jeder der zu Assad steht, ist in deren Augen ein Ungläubiger und verdient den Tod. Den regulären syrischen Sicherheitskräften ist es egal, ob jemand Sunnit, Schiit, Druse, Allewit oder Christ ist. Solange er nicht gewaltsam gegen die Ordnung vorgeht, gibt es für sie keinen Grund zur Gewaltanwendung.

Bis 2012 war das Ganze ein hauptsächlich innersyrischer Konflikt, bis radikale Salafisten aus dem Ausland gekommen sind. Es gibt auch kleine, nicht bewaffnete Oppositionsgruppen, die sich von Gewalttaten distanzieren, deren Einfluss ist aber sehr begrenzt.

In den westlichen Medien wird Assad als Diktator dargestellt, der sein Volk unterdrückt. Wie ist Ihre Wahrnehmung?

Kawalda: Meiner Überzeugung nach steht die Mehrheit der Bevölkerung hinter Assad. Seine Anhänger gehören allen konfessionellen Gruppen an. Nach westlichen Maßstäben ist Syrien natürlich keine Demokratie. Man darf nicht vergessen, dass Syrien ein Krisengebiet ist. Es befindet sich seit Jahrzehnten im Kriegszustand mit Israel und im Kalten Krieg mit Amerika.

Vor diesem Hintergrund gab es in Syrien Notstandsgesetze, die das Leben natürlich nicht leicht gemacht haben. Es gibt natürlich Ungerechtigkeiten und dagegen haben wir demonstriert. Als Reaktion wurden die Notstandsgesetze und damit der Ausnahmezustand – nach fast 50 Jahren – aufgehoben. Und Assad war bereit sogar bereit, die Verfassung zu ändern.

Sie sind also gegen die Unterstützung der Opposition mit Waffen?

Kawalda: Ich bin natürlich gegen die Bewaffnung, weil genau diese Bewaffnung das Land zerstört hat. Große Teile der bewaffneten syrischen Opposition kämpft gegen Assad, weil sie glauben, gegen einen Ungläubigen zu kämpfen. Und das Ausland unterstützt diese Leute, die im Namen des Islams kämpfen aber mit dem Islam nichts zu tun haben.

Diese Bewaffnung stellt aber auch eine Gefahr für den Westen dar. In der Türkei fand man bei bewaffneten syrischen Oppositionellen chemische Stoffe. Das hätte auch nach Europa gelangen können. Der Westen sollte also aufpassen, wen er da unterstützt. Mir wäre es lieber, der Westen hätte Druck auf Assad ausgeübt, Wahlen unter internationaler Aufsicht durchzuführen als die Opposition zu stärken.

International wird derzeit eine militärische Intervention mit US-amerikanischer Federführung diskutiert.

Kawalda: Ich bin natürlich gegen einen Eingriff der USA und seinen Alliierten in Syrien. Jedes Land, das die USA angegriffen haben, wurde ins Chaos gestürzt und es wurden viele unschuldige Menschen getötet – in Afghanistan oder Libyen Irak. Allein im Irak sind seit dem Einmarsch der Amerikaner mehr als eine Millionen Menschen gestorben. Das alles zeigt, dass Amerika nicht in der Lage ist, einem Land von außen Frieden und Demokratie zu bringen.

Was sind deine Pläne für die Zukunft? Willst du irgendwann wieder zurückkehren?

Kawalda: Wenn sich die Lage in Syrien entspannen sollte, würde ich wieder zurückkehren. Aktuell sieht es aber eher nicht danach aus. Ich werde also versuchen, mich in Deutschland selbstständig zu machen und wie in Syrien im Import-Export-Geschäft tätig zu werden. Dazu benötige ich jedoch erst einmal eine Arbeitserlaubnis.

Haben Sie noch eine Hoffnung, dass Frieden in Syrien einkehrt?

Kawalda: Natürlich habe ich Hoffnung. Die Frage ist nur, wann Frieden einkehrt. Es geht in Syrien längst nicht mehr um das syrische Volk, sondern um die Interessen der Großmächte. Syrien ist zum Austragungsort eines Stellvertreterkrieges geworden. Das Land ist nach dem Blutvergießen auf beiden Seiten zerrissen und der Versöhnungsprozess wird lange dauern. Von dem toleranten Miteinander sind wir seit Beginn der Unruhen weit entfernt.