Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg

62-jährige Emine muss Integrationskurs doch nicht besuchen

Eine 62-jährige Analphabetin muss nicht an einem Integrationskurs teilnehmen, auch wenn sie in Ihrem Umfeld nur türkisch spricht. Das sei ihre ureigene Entscheidung, entschied Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg und hoben ein Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe auf.

Die Ausländerbehörde darf die 62-jährige und seit vielen Jahren in Deutschland lebende Türkin Emine (Name geändert) nicht verpflichten, an einem Integrationskurs teilzunehmen. Das hat der Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (VGH) Mitte Juni in einem jetzt bekannt gewordenen Urteil entschieden.

Die 62-jährige Klägerin ist türkische Staatsangehörige und Analphabetin. Sie lebt seit 1981 bei ihrem türkischen Ehemann in Deutschland, der seit 1992 einen Lebensmittelladen betreibt. Dort hat Emine über viele Jahre ihren Mann unterstützt, bis sie ihre Gesundheit die Arbeit nicht mehr zuließ. Heute betreut sie ihre Enkelkinder, damit ihre Kinder arbeiten können. Ein Sohn studiert Wirtschaftsinformatik, vier Töchter absolvierten eine Berufsausbildung, eine weitere Tochter ist als Mutter dreier Kinder Hausfrau. Alle sind mittlerweile deutsche Staatsbürger. Noch nie haben Emine oder ihr Ehemann Sozialleistungen bezogen.

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Behörde und Richter uneinsichtig
Dieser Lebensweg interessierte die Ausländerbehörde des Landratsamts Karlsruhe nicht. Emine wurde im Januar 2011 verpflichtet, an einem Integrationskurs mit Alphabetisierung teilzunehmen. Ihre Sprachschwäche hindere sie nachhaltig daran, sich in Gesellschaft und Erwerbsleben zu integrieren. Attestiert wurden ihr die fehlenden Sprachkenntnisse, weil sie bei einem Test in der Ausländbehörde sechs von 13 Fragen nicht beantworten konnte.

Emine wandte dagegen ein, sie sei als Analphabetin sowie infolge ihres Gesundheitszustands und Alters nicht in der Lage, an dem Kurs teilzunehmen. Es kam zum Rechtsstreit. Doch das Verwaltungsgericht Karlsruhe (VG) entschied im Oktober 2012, Emine müsse den Integrationskurs besuchen, weil sie in „besonderer Weise integrationsbedürftig“ sei. Bei Emine gebe es keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass sie „außerhalb ihrer Familie gesellschaftlich und kulturell integriert“ sei. Ob Emine das wolle, sei unerheblich, so die VG-Richter. Der Beschäftigung im Betrieb ihres Ehemannes komme ebenfalls kein entscheidendes Gewicht für ihre Integration zu, weil sie, so die Urteilsbegründung, „im Geschäft nur putzte und aufräumte.“

VGH: Nicht integrationsbedürftig
Der VGH ist dem nicht gefolgt. Die Aufforderung der Ausländerbehörde, Emine müsse einen Integrationskurs besuchen, sei schon deshalb rechtswidrig, weil die Behörde sich zu Unrecht gesetzlich zu ihrem Erlass verpflichtet gesehen habe. Nach dem Aufenthaltsgesetz sei ein Ausländer zur Teilnahme an einem Integrationskurs verpflichtet, wenn er in besonderer Weise integrationsbedürftig sei und die Ausländerbehörde ihn zur Teilnahme am Kurs auffordere. Das Gesetz zwinge die Ausländerbehörde aber nicht zu einer solchen Aufforderung, sondern eröffne ihr ein Ermessen. Das habe die Behörde verkannt.

Außerdem sei Emine aber auch nicht in besonderer Weise integrationsbedürftig. Dies sei nur der Fall, wenn die Lebensführung des Ausländers dem öffentlichen Interesse an der Integration in die deutschen Lebensverhältnisse widerspreche. Das komme etwa beim Erhalt sozialer Transferleistungen in Betracht oder wenn mangels Sprachkenntnissen keine Kontakte zum sozialen Umfeld in Arbeit, Schule oder Kindergarten bestünden. Das treffe auf Emine aber nicht zu.

Info: Die maßgeblichen Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes lauten: § 44 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG:Ein Ausländer ist zur Teilnahme an einem Integrationskurs verpflichtet, wenn er in besonderer Weise integrationsbedürftig ist und die Ausländerbehörde ihn zur Teilnahme am Integrationskurs auffordert.§ 44 a Abs. 2 Nr. 3 AufenthG:Von einer Teilnahmeverpflichtung ausgenommen sind Ausländer, deren Teilnahme auf Dauer unmöglich oder unzumutbar ist.

Auch unter Deutschen durchaus üblich
Die Integration der Kinder sei besonders erfolgreich abgeschlossen. Die qualifizierte Berufsausbildung ihrer vier Töchter belege eine Lebensführung der Klägerin, die den deutschen gesellschaftlichen Vorstellungen entspreche. Die Entwicklung der Kinder beruhe auch auf dem integrativen Erziehungsbeitrag der Mutter. Die Klägerin und ihr Ehemann hätten ihren Lebensunterhalt stets selbst gesichert und würden dies voraussichtlich auch weiter tun. Sie besäßen ein eigenes Haus und führten eine – in dieser Generation auch unter Deutschen durchaus übliche – Hausfrauenehe.

Dass die Klägerin beschlossen habe, mit ihrer Familie nur türkisch zu sprechen und sich vor allem im großen Kreis ihrer Familie und türkisch sprechender Nachbarn und Freunde zu bewegen, sei „ihre ureigene Entscheidung, die aufgrund der Besonderheiten dieses Einzelfalles mit den öffentlichen Interessen vereinbar sei“, so das VGH.

Teilnahme unzumutbar
Abgesehen davon sei die Pflicht zur Teilnahme am Integrationskurs unzumutbar. Die Klägerin sei wegen ihres Alters und ihrer Krankheitsgeschichte im regulären Arbeitsmarkt nicht vermittelbar. Der Integrationskurs könne aber auch zum Anliegen des Gesetzes, die Integration von Eltern zu fordern und zu fördern, um deren Kinder zu integrieren, nichts mehr beitragen. Schließlich schränke die Teilnahmepflicht die Lebensführung der Klägerin unverhältnismäßig ein.

Nach den Erfahrungen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge erforderten Integrationskurse mit Alphabetisierung im Regelfall 1.200 Stunden (á 45 Minuten) Sprachunterricht und 60 Stunden Unterricht über Rechtsordnung, Kultur und Geschichte Deutschlands. Da die Klägerin allenfalls drei Unterrichtsstunden am Tag bewältigen könnte, müsste sie den Integrationskurs etwa zwei Jahre lang besuchen. Das sei unverhältnismäßig, zumal die Klägerin nicht mehr über Ausdauer, Belastbarkeit und Flexibilität wie ein junger oder „in der Mitte des Lebens stehender“ Mensch verfüge.

Das Urteil ist rechtskräftig (Az.: 11 S 208/13). (es)