Thilo Sarrazin beharrt bis heute darauf, dass die Thesen seines Bestsellers „Deutschland schafft sich ab“ nicht zu widerlegen seien. „Was mich interessiert: Wo habe ich in der Sache Fehler gemacht, wo etwas Falsches behauptet? Und da habe ich nichts gefunden“, so Sarrazin in der Frankfurter Rundschau. In Wahrheit wurden ihm längst viele Denkfehler, falsche Behauptungen und Missverständnisse nachgewiesen. Hier die drei wichtigsten im Überblick:
Die Mendelschen Gesetzte sind auf Intelligenz nicht anwendbar
Sarrazin behauptet, dass Kinder „gemäß den Mendelschen Gesetzen die intellektuelle Ausstattung ihrer Eltern erben“ 1. Das ist eindeutig falsch. Die Mendelschen Gesetze beziehen sich auf monogenetische Erbgänge. Ein einzelnes „Intelligenz-Gen“ gibt es aber nicht. Was auch immer man unter Intelligenz verstehen mag – es ist sicherlich eine Eigenschaft, die von vielen Genen bestimmt, also polygenetisch vererbt wird. Eine einfache Vorhersage der Merkmalsverteilung in nachfolgenden Generationen wie bei den von Mendel beobachteten Erbgängen ist bei polygenetischen Eigenschaften nicht möglich.
„Man hat bei den polygenetischen Eigenschaften noch nicht im Einzelfall verstanden, wie die verschiedenen Gene aufeinander wirken“, sagt Diethard Tautz, Direktor des Max-Planck-Instituts für Evolutionsbiologie. „Ist die Ausprägung rein additiv oder interagieren die Genprodukte noch auf andere Weise miteinander? Die Vererbung der meisten unserer Eigenschaften ist also außerordentlich komplex, da viele Gene wirken und zusätzlich eine Umweltkomponente greift.“ Wenn eine Eigenschaft, die polygenetisch bedingt ist, eindeutig gemessen werden kann (wie beispielsweise die Körpergröße), dann können auch die sie beeinflussenden Genvarianten entdeckt werden.
Das ist aber bei Intelligenz nicht der Fall. Zur Erblichkeit einer Eigenschaft, über deren Definition Uneinigkeit besteht, lässt sich aus Sicht der Genetik keine sinnvolle Aussage treffen 2.
Der Erblichkeitskoeffizient gilt nicht für Unterschiede zwischen Gruppen
Nicht nur die Biologie, auch die psychologische Intelligenzforschung ist für Sarrazins Beweisführung untauglich. Sarrazin warnt in seinem Buch vor einer Verdummung der Gesellschaft durch die größere Fruchtbarkeit minderintelligenter Gruppen: Intelligenz sei zu 50 bis 80 Prozent erblich, also habe eine unterschiedliche Fruchtbarkeit von Bevölkerungsgruppen mit unterschiedlicher Intelligenz Auswirkungen auf das durchschnittliche Intelligenzniveau der Bevölkerung (Deutschland schafft sich ab, S. 93, 98).
Der Mythos vom Niedergang der Intelligenz
Dieser Text stützt sich auf die wissenschaftlichen Aussagen des Sammelbandes „Der Mythos vom Niedergang der Intelligenz – Von Galton zu Sarrazin: Die Denkfehler und Denkmuster der Eugenik“ (Hg. von Michael Haller und Martin Niggeschmidt – Wiesbaden 2012)
„Unbedingt lesenswert!“, urteilte Spektrum der Wissenschaft. www.von-galton-zu-sarrazin.de
Dieser Darstellung liegt eine Fehlinterpretation des Erblichkeitskoeffizienten zugrunde. Deshalb sagt die Intelligenzforscherin Elsbeth Stern, Sarrazin habe da etwas fundamental missverstanden. (Siehe hier und hier)
Die von der Intelligenzforschung genutzte Methodik ist lediglich dazu geeignet, Aussagen zur Erblichkeit von Unterschieden innerhalb einer Gruppe treffen. Der hierfür in der Fachliteratur angegebene Erblichkeitskoeffizient (50 bis 80 Prozent) ist aus logischen Gründen weder auf ein einzelnes Individuum noch auf Unterschiede zwischen Gruppen übertragbar.
Warum das so ist, zeigt folgendes Szenario: Wenn Blumen in einem Gewächshaus bei völlig gleichen Umweltbedingungen wachsen, kann man davon ausgehen, dass die Größenunterschiede innerhalb dieser Gruppe genetisch bedingt sind: Der Erblichkeitskoeffizient beträgt 100 Prozent. Daraus lassen sich aber keine Rückschlüsse auf Erblichkeit von Eigenschaften eines einzelnen Exemplars ziehen. Man kann also nicht behaupten: Bei dieser Blume, die vorne in der linken Ecke des Beets steht, ist die Eigenschaft „Größe“ zu 100 Prozent erblich. Unter anderen Umweltbedingungen könnte diese Blume nämlich sowohl größer als auch kleiner sein.
Auch darüber, inwieweit Größenunterschiede zwischen den Blumen des Treibhauses und den Blumen eines Nachbartreibhauses erblich bedingt sind, sagt der 100-prozentige Erblichkeitskoeffizient nichts aus. Die durchschnittlichen Größenunterschiede zwischen den beiden Gruppen können nämlich zu 100 Prozent umweltbedingt sein – ausschließlich zurückzuführen auf einen anderen Nährstoffgehalt des Bodens und ein anderes Klima. 3
Die wissenschaftlich sauberen Bedingungen des Treibhaus-Szenarios kann die Intelligenzforschung nicht herstellen. Bei Menschen gibt es keine exakt gleichen Umweltbedingungen, und Intelligenz ist eine schwer fassbare Eigenschaft. Fest steht aber: Es ist kapitaler logischer Fehler, von der Erblichkeit eines Merkmals innerhalb einer Gruppe die Behauptung abzuleiten, dass sich Unterschiede zwischen Gruppen gleichermaßen vererben. Die Idee von der Erbdummheit bestimmter Menschengruppen lässt sich durch die Intelligenzforschung nicht untermauern.
Die Verdummungstheorie hält der Empirie nicht stand
Bleibt noch die historische Betrachtungsweise: Sarrazins Behauptung, moderne Gesellschaften würden immer dümmer, weil die Minderintelligenten überdurchschnittlich viele Kinder bekämen, ist schon so alt, dass sie sich überprüfen lässt. „Erfunden“ hat diese Dysgenik-These der von Sarrazin als Gewährsmann herangezogene britische Wissenschaftler Francis Galton: Er schrieb 1869 in seinem Buch „Genie und Vererbung“, die Fruchtbarkeit der befähigteren Klassen sei in zivilisierten Gesellschaften vermindert, während die „Nichtehrgeizigen“ am meisten Nachkommenschaft aufzögen. „So verschlechtert sich die Rasse allmählich, wird in jeder folgenden Generation für eine hohe Zivilisation weniger tauglich.“ 4
Man sollte sich klarmachen, wie klein die von Galton beschriebenen „befähigteren Klassen“ (Richter, Literaten, Naturwissenschaftler, Mathematiker) damals in Ländern wie England und Deutschland waren. In Preußen beispielsweise zählten Mitte des 19. Jahrhunderts gerade mal 0,3 Prozent der Erwerbstätigen zum Bildungsbürgertum. Über zwei Drittel der Bevölkerung gehörten zur Unterschicht. 5
Ein Großteil der heutigen Akademiker dürfte also von jenen kinderreichen, unbedachtsamen und nichtehrgeizigen Bevölkerungsteilen abstammen, denen Galton schlechte Erbanlagen zuschrieb. Kaum jemand – auch Sarrazin nicht – kann sicher sein, dass seine Vorfahren von Theoretikern, die sich im 19. Jahrhundert über die Qualität der Bevölkerung Gedanken machten, für wertvoll und fortpflanzenswert erachtet worden wären.
Wären die von Galton beschriebenen Gegenauslese-Mechanismen wirksam, hätten die westlichen Gesellschaften seither einen kontinuierlichen Niedergang hinnehmen müssen. Das Gegenteil ist eingetreten. Die offene, moderne Gesellschaft, in der alle Schichten und Gruppen so viele Kinder bekommen, wie es ihnen passt, hat sich als leistungsfähiges Erfolgsmodell erwiesen. In allen westlichen Ländern ist das Qualifikations- und Bildungsniveau der Bevölkerung stark angestiegen, seit die Dysgenik-These vor mehr als 140 Jahren erstmals formuliert wurde. Sarrazin hat also eine historische Prognose aufgenommen – ohne sich davon stören zu lassen, dass sie der Empirie nicht standgehalten hat.
Zum Hauptartikel: „Das gutgläubige Leitmedium“
Weiterführende Literatur:
- Billig, Michael: Psychology, Racism and Fascism.
- Cavalli-Sforza, Luigi Luca / Cavalli-Sforza, Francesco: The Great Human Diasporas. The History of Diversity and Evolution. New York 1995.
- Etzemüller, Thomas: Ein ewigwährender Untergang. Der apokalyptische Bevölkerungsdiskurs im 20. Jahrhundert. Bielefeld 2007.
- Flynn, James: Are We Getting Smarter? Cambridge 2012.
- Gould, Steven: Der falsch vermessene Mensch. Basel 1983.
- Heinz, Andreas / Kluge, Ulrike (Hg.): Einwanderung – Bedrohung oder Zukunft? Frankfurt / New York 2012.
- Lewontin, Richard / Rose, Steven / Kamin, Leon: Die Gene sind es nicht. München-Weinheim 1988.
- Saunders, Doug: Mythos Überfremdung – eine Abrechnung. München 2012.
- Deutschland schafft sich ab, S. 175
- siehe auch die Pressemitteilung des Verbandes Biologie, Biowissenschaften & Biomedizin in Deutschland VBiO zur Sarrazin-Debatte.
- Siehe dazu: Lewontin, Richard / Rose, Steven / Kamin, Leon: Die Gene sind es nicht. München-Weinheim 1988. S. 95.
- Francis Galton: Genie und Vererbung. Leipzig 1919 [urspr. 1869], S. 383.
- Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. München 1995. S. 126 und 141.