Buchtipp zum Wochenende

Mein Herz blieb in Russland

„Mein Herz blieb in Russland“ ist ein Buch, das aufrütteln und zugleich an das schwere Schicksal der Millionen von Russlanddeutschen erinnern will. Mehr als 30 russlanddeutsche Männer und Frauen verschiedener Generationen schildern ihre ganz persönlichen Erinnerungen. MiGAZIN veröffentlicht die Erinnerungen von Andreas Weigandt aus dem Kapitel „Enteignet und verbannt“ in Auszügen.

Um die weiten, wenig bewohnten Landstriche Russlands im 18. Jahrhundert zu erschließen, warb das russische Zarenreich Fachleute aus Deutschland an. Wie alle Auswanderer erhofften sich auch meine Vorfahren in der neuen Heimat ein besseres Leben und reisten von 1764 bis 1767 aus der hessischen Grafschaft Isenburg-Büdingen an die Wolga aus, genauer gesagt: in die Kolonie Kutter, ein Dorf an der Bergseite der Wolga. Ursprünglich nannte sich der Ort Brenning nach dem ersten Vorsitzenden der Kolonie, Christoph Brenning.

Das sogenannten Vormundschaftskontor in der Kreisstadt Saratow stellte den Einwandererfamilien eine Art bäuerliche Grundausrüstung zur Verfügung: jeweils 25 Rubel, zwei Pferde, eine Kuh, einen Zaum, einen Leiterwagen, drei Klafter Seil und fünf Klafter Pferdeleine. Als der Ort Brenning-Kutter 1767 gegründet wurde, zählte er bereits 262 Einwohner.

___STEADY_PAYWALL___

Unser Bauernhof
Durch viel Fleiß und handwerkliches Geschick kamen meine Vorfahren in Kutter zu etwas Wohlstand. Der Bauernhof unserer Familie umfasste etwa 60 bis 70 Hektar Land. Hinter Bobrowka, sechs Kilometer von unserem Hof entfernt, lagen Ackerland und Heuwiesen.

Entlang des Flusses Karamysch zogen sich unsere zwei Hektar großen Obst- und Gemüsegärten. Zur Bewässerung trieben zwei Pferde am Fluss ein acht Meter großes Wasserrad an. Damit die Früchte kurz vor der Ernte nicht noch gestohlen wurden, musste jedes Jahr jemand aus unserer Familie zur Überwachung im Gartenhaus übernachten.

Auch unser Haus war umgeben von einem großen Garten, zu dessen Bewässerung ein zehn Meter tiefer Brunnen und vier Regenfässer dienten. Nicht weit vom Brunnen stand ein langer Trog als Viehtränke, und in der Nähe des Eingangstores war die Hütte für unseren Hund »Sowas«.

Unser Hof lag an der Hauptstraße und war zur Straße hin 34 Meter breit und 68 Meter tief. Wir wohnten in einem Holzhaus mit einem Blechdach und einem steinernen Gewölbekeller. Die Wirtschaftsgebäude waren aus Holzstämmen und Brettern gezimmert. Auf dem Hof standen außerdem die Ställe, zwei Speicher, ein Backhaus aus Stein und der Brunnen, den wir gemeinsam mit unserem Nachbarn nutzten. Unter einem Wetterdach waren vier Pferdewagen, der Strohschneider, die Kornschwinge, eine Getreidemaschine, Eggen und Pflüge untergebracht. In den Ställen übernachteten vier bis sechs Pferde, vier Arbeitsochsen, zehn bis zwölf Schafe, sechs Ziegen und einige Schweine.

In den zwanziger Jahren wohnten auf diesem Hof drei Familien: meine Großeltern, meine Eltern mit uns vier Kindern und die Familie unseres Onkels. Im Sommer nahmen wir unsere Mahlzeiten in einem der beiden Räume des Backhauses ein. Meine Großeltern schliefen im kleinen Zimmer, die beiden anderen Familien im großen.

In der Regel arbeiteten die Männer auf dem Feld, die Frauen im Haus. Wenn es an die Aussaat oder Ernte ging, halfen aber auch die Frauen und Kinder mit auf dem Feld. Konnten wir viel ernten, holten wir Verwandte hinzu oder stellten Erntearbeiter ein, die mit Geld, öfter aber auch mit Naturalien bezahlt wurden. Manchmal gingen auch mein Cousin Friedrich und ich mit aufs Feld, vor allem, um in der Mittagszeit auf die Ochsen und Pferde aufzupassen.

Jeden Sonntag besuchten wir die Kirche. Im Sommer fuhren die Erwachsenen bereits am Sonntagabend mit zwei oder drei Wagen, die mit Ochsen oder Pferden bespannt waren, aufs Feld hinaus und verbrachten die ganze Woche dort. Dann übernachteten sie in den überdachten Wagen oder auch gleich darunter. Am Freitagabend kehrten alle wieder nach Hause zurück. – Im Winter erledigte mein Vater die Schusterarbeiten, Opa und Onkel Adam reparierten das Pferdegeschirr und die Pferdewagen. Onkel Adam betrieb eine Schmiede, in der er die Pferde beschlug und Leiterwagen baute.

Bettelpfennige
»Kollektivierung« und »Entkulakisierung« waren die Schlagworte in der Landwirtschaft Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre. Die Bauernhöfe wurden zu Kollektiven zusammengelegt, die Bauern enteignet, die stolzen Großbauern, die »Kulaken«, entrechtet und verfolgt.

In Kutter hatte der Staat schon 1929 viele Bauern beraubt, die ersten Hungerfälle wurden bekannt. Die »Entkulakisierten« mussten bei Verwandten unterkommen, ihre Kinder gingen aber noch zur Schule.

In den Unterrichtspausen teilten die Lehrer oft Brote an die hungernden Kinder aus. Eine Schulbank vor mir saß ein Junge, dessen Eltern bis zur Enteignung durch die Kommunisten ein eigenes Geschäft hatten. Sein Vater war verhaftet worden, die Mutter lebte mit drei Kindern bei Bekannten. Als dem Jungen in der Klasse ein Stück Brot angeboten wurde, lehnte er ab:

»Ich bin kein Bettler. Gebt uns unser Eigentum zurück, ich brauche eure Hilfe nicht.«

Daraufhin bestellte der Schulleiter seine Mutter in die Schule und warf ihr vor, dass sie ihren Sohn gegen die Sowjetmacht stelle. Zu Hause sagte sie zu ihren Kindern:

»Wahrscheinlich werde ich verhaftet.«

Am folgenden Tag fand man den Jungen erhängt. Auf seinen Abschiedszettel hatte er geschrieben:

»Ich will nicht hungrig sein.«

Der Junge war erst neun Jahre alt.

Bald wurde in Kutter mit dem Aufbau der Kolchose begonnen. Zuerst traten die Bauern ein, die kaum eigenen Besitz hatten, die wohlhabenden Bauern wollten in der Regel nicht Mitglied der Kolchose werden. Da begannen die Bolschewiki mit ihrer gewaltsamen Agitation, der Reihe nach wurden die Grundeigentümer zum Eintritt gezwungen. Wer sich widersetzte, dem wurde zunächst das Wahlrecht entzogen; verweigerte er den Eintritt weiter, wurde er verhaftet, enteignet und zuletzt aus dem eigenen Haus gewiesen. Die Ausgewiesenen mussten in Erdhütten hinter dem Dorf wohnen, die sie selbst ausgruben.

Die Bolschewiki riefen die Bauern immer in der Nacht in ihr Kontor. Für die Kollektivierung in Kutter sorgte eine Kommission mit deutschen Landsleuten; aus Saratow und Engels waren zwei Juden dazugekommen.

Als Kolchosearbeiter erhielten wir zeitlebens nur Bettelpfennige. Jedes Mal mussten wir zu den Kolchosevorsitzenden gehen und sie um unseren Lohn bitten. Darin erkannte ich die Ideologie der Kommunisten: die Menschen zu abhängigen Sklaven zu machen und rücksichtslos über ihr Schicksal zu bestimmen. Um der vollständigen Enteignung zu entgehen, beschloss Opa, die Wirtschaft auf seine Söhne zu verteilen, auf Friedrich und auf Adam, meinen Vater. Wir teilten Haus und Wohnung, später auch den Viehbestand und das Inventar. Um alles behalten zu können und nicht verhaftet zu werden, traten Onkel Friedrich und mein Vater in die Kolchose ein. Nun wachte mein Vater über die Kolchosepferde, die ursprünglich ihm gehörten.

Eines Tages, unsere Oma lag im Sterben, begannen die Kommunisten, unsere Scheune im Garten abzubauen. Von ihrem Bett aus fragte Oma, was draußen passiere, weil es so krache. Opa antwortete, dass Holz weggefahren werde; er wandte sich ab und weinte. Dann sah Oma am Fenster, wie die grüne Scheunentür weggefahren wurde, und verstand. Im Oktober 1930 verstarb sie. Bald nach ihrem Tod wurden wir aus unserem Haus ausgewiesen.

Wir werden enteignet
1929 wurden Großvater und Onkel Friedrich aus unserem Haus in Kutter vertrieben und in die Erdhütten gebracht. Erdhütten waren kuppelförmige und etwas in den Boden eingetiefte provisorische Häuser, deren Gewölbegerüst mit Weidezweigen, Gras und Erde abgedeckt war.

Wenige Monate später wurden sie nach Kirgisien und Südkasachstan deportiert. Als mein Großvater schwer erkrankte, durfte er noch einmal zurück nach Kutter, wo er verstarb. Onkel Friedrich erkältete sich auf dem Marsch in die Deportation so schwer, dass er 1933 starb. Seine Frau und die zwei kleinen Söhne blieben allein zurück und wurden an der chinesischen Grenze angesiedelt. Nach einigen Jahren kamen sie in das Dorf Kischmischi in Südkasachstan. Einer ihrer Söhne wurde als Halbwüchsiger in die »Trudarmee« eingezogen und starb dort.

Im Winter 1930/1931 startete die zweite Welle der »Entkulakisierung«. Die Kommission ging nachts mit einer Namensliste durchs Dorf und brachte die Bauern mit Leiterwagen oder Schlitten zu den Erdhütten.

In den frühen Morgenstunden wurden auch wir unsanft geweckt. Die Männer von der Kommission sagten, dass wir alles anziehen sollten, was wir nur könnten, der Rest würde konfisziert. Wir vier Kinder froren und weinten, unsere Eltern auch. Der Kommissions- und Dorfratsvorsitzende, Andrei Hoffmann, zeigte auf Opas Standuhr in der Sommerküche und sagte:

»Diese Uhr stellen wir im Dorfrat auf!«

Bekannte sahen die Uhr später in Hoffmanns Wohnung.

Mit 60 Kilo Gepäck in die Deportation
Am 22. Juni 1941, ich war gerade auf dem Weg zur technischen Bibliothek in Sabuntschi, erfuhr ich vom Kriegsbeginn. Gegenüber dem Bahnhof stand ein Telegraphenmast, an dem ein großer Lautsprecher hing. Dort versammelte sich eine große Menschenmenge und hörte einer Radiosendung zu. Ich fragte die Leute, was passiert sei, und erfuhr, dass der Krieg begonnen habe. Später entstand darüber ein Lied:

»Am 22. Juni, genau um 4 Uhr morgens, wurde Kiew bombardiert. Man sagte uns, dass der Krieg ausgebrochen sei.«

Anfang Oktober kamen zwei Männer und eröffneten uns, dass wir Deutsche nach Osten umgesiedelt würden. Jeder dürfe Gepäck mit einem Gewicht von höchstens 60 Kilogramm mitnehmen; den Rest könnten wir verkaufen oder in der Wohnung lassen, da wir in drei bis vier Wochen wieder zurückkommen würden. Erst begriffen wir nicht, was das zu bedeuten hatte, doch bald merkten wir, dass der Vorgang der gleiche war wie bei der »Entkulakisierung« von 1931. Damals gelang es uns noch, nach Baku zu fliehen, doch diesmal konnte niemand entkommen – alle Deutschen wurden deportiert.

Unsere Wohnung verkauften, besser gesagt, verschenkten wir für 300 Rubel. Meine Schulbücher gab ich Mitschülern, die keine Bücher hatten. Am Vorabend zum 15. Oktober organisierten die Mitschüler meinen Abschied von der Schule. Wir standen vor der Landkarte, und mein Klassenlehrer zeigte mir, wohin wir verschickt werden sollten: nach Zentral-Kasachstan.

Spät am Abend des 15. Oktober 1941 holte uns ein Lastwagen ab. Wir luden unsere Sachen darauf ab, dann bog der Laster in den Hof unseres Wohnhauses ein, auf den auch die Familien des Kunstmalers Eckermann, des Ölarbeiters Kletter und des Pferdewirts Schwabauer stiegen. Ich konnte mich noch von meinem besten Freund verabschieden, dann fuhren wir zum Bakuer Hafen. In der riesigen Menge erkannte ich viele bekannte Gesichter. Ich hatte nicht geahnt, dass sie Deutsche waren, da sie alle ohne Akzent Russisch sprachen. Auch den Inspektor der Schulbehörde traf ich hier und fragte ihn, was er denn hier suchte.

»Das Gleiche wie du«, antwortete er. Am Morgen begann die Einschiffung auf die Fähre Turkmenistan.

In Stadtschuhen durch den tiefen Schnee
Nachdem wir in Krasnowodsk angekommen waren, fuhren wir in einem Zug mit den berüchtigten »Stolypin«-Waggons. Auf beiden Seiten der Waggons waren breite Türen. Auf den Längsseiten befanden sich Liegen, doch der Platz für die eingepferchten Leute reichte bei Weitem nicht aus. Die gesamte Wagenfläche war belegt, niemand konnte durchlaufen. Wir fuhren mit 50 Personen im 28. von etwa 50 Waggons; so konnten wir uns ausrechnen, wie viele »Helfer« für Kasachstan in diesem Zug transportiert wurden.

Der Zug fuhr durch ganz Zentralasien in Richtung Karaganda. Es war schwül und heiß. Auf den Bahnsteigen liefen die Leute am Zug entlang, um abgekochtes Wasser zu holen. Meist hielt der Zug zwischen Güterzügen, weit weg von den Personenzügen, damit wir keine Kontakte zur Bevölkerung aufnehmen konnten.

Als wir Orenburg an der Grenze zu Kasachstan erreichten, wurde es kalt, und man stellte Öfen in die Waggons. Für Kleinkinder gab es Töpfchen, doch die Erwachsenen mussten ihre Notdurft draußen verrichten, wenn der Zug hielt, Mann und Frau oft nebeneinander. Oft fuhren die Züge ohne Ankündigung wieder los, wobei es auch zu Unfällen kam. An der Zugstrecke entstanden nicht wenige Gräber deportierter Deutscher, doch niemand ihrer Verwandten konnte sie später je wieder aufsuchen.

Bei Osakarowka, in der kahlen Steppe, mussten wir aussteigen. Nach einiger Zeit kamen Pferdewagen, die uns in verschiedene Ortschaften brachten. Meine Familie wurde in das Dorf Skobelewka gefahren und vorübergehend in Erdhäusern der einheimischen Russen untergebracht. Die Neuangekommenen wurden der Reihe nach zum Kolchosekontor gerufen, wo NKWD-Leute in unsere Pässe einen Stempel druckten mit dem Vermerk: Wohnen nur im Rayon Nurinskij des Gebietes Karaganda erlaubt.

Wir waren Leibeigene der Sowjets geworden! Am nächsten Tag holten einige Kasachen unser Gepäck mit Schlittenwagen ab, hinter denen wir hergehen mussten. Wir trugen die dünnen Mäntel aus Baku, wo es noch 20 Grad warm gewesen war – hier herrschten Temperaturen von 20 Grad minus, und wir gingen in leichten Stadtschuhen durch den Schnee. Ab und zu gab uns Vater einen Schluck Schnaps zu trinken, damit wir nicht so froren. Aber das half wenig. Wir übernachteten im kasachischen Aul, wo uns die Bewohner freundlich mit Tee empfingen. Sie wohnten in niedrigen Lehmhäusern und mahlten den Weizen noch mit der Handmühle.

Hinweis: Das Buch Mein Herz blieb in Russland erscheint am 10. September 2013 im Zeitgut Verlag