Arabischer Frühling

„Revolutionen in Ägypten und Tunesien noch nicht verloren“

Der renommierte Islamwissenschaftler Dr. Jörn Thielmann hält am Arabischen Frühling fest. Allerdings müssten alle Akteuere Kompromisse eingehen, sonst drohe Bürgerkrieg. Der Westen dürfe sich keine falschen Vorstellungen von der Rolle des Islams machen. Demokratie und Islam stünden nicht per se im Widerspruch.

Mittwoch, 31.07.2013, 8:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 02.08.2013, 0:39 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Die Arabischen Revolutionen sind aus islamwissenschaftlicher Sicht trotz Rückschlägen in Ägypten und Tunesien noch nicht verloren. „Wer schon jetzt, gut zwei Jahre nach Beginn der Umwälzungen, von Misserfolgen oder einem ,Arabischen Winter‘ spricht, verkennt die Komplexität der Lage“, sagt der Islamwissenschaftler Dr. Jörn Thielmann, Sektionsleiter beim 32. Deutschen Orientalistentages (DOT), zu dem im September mehr als 1.000 Orientforscher an der Uni Münster erwartet werden.

Solche Prozesse dauerten Jahre, auch in Ostdeutschland sei die Entwicklung mehr als zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung noch nicht abgeschlossen, so der Forscher vom „Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa“. Die aktuellen Gewaltausbrüche in Ägypten und Tunesien seien Rückschritte, aber kein Zeichen für das endgültige Scheitern.

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„Zur Stabilisierung der Lage kommt es jetzt darauf an, die zivilpolitische Kontrolle über das Militär zu erlangen und die gemäßigten Kräfte der Muslimbrüder in den demokratischen Prozess einzubinden“, sagt Thielmann. Wichtig sei dafür eine Überarbeitung der Verfassung, um die derzeitige Autonomie der ägyptischen Armee zu beenden. „Der Verteidigungsminister sollte Zivilist mit klarer Weisungskompetenz sein, statt in Personalunion Generalstabschef.“ Die verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Kräfte Ägyptens sollten nach den jüngsten Zusammenstößen von Militärs und Anhängern des abgesetzten Präsidenten Mohammed Mursi dringend Kompromisse suchen. „Die USA sollten ihre bedeutende Militärhilfe für das ägyptische Militär nutzen, um Druck in diese Richtung auszuüben.“

„Funke der Revolution noch lebendig“
Die EU könne zudem, wie das Gespräch der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton mit dem an einem unbekannten Ort festgehaltenen abgesetzten Präsidenten Mursi zeige, eine neutrale Vermittlung anbieten, sagt der Islamwissenschaftler. „Jede Gruppe wird Abstriche machen müssen.“ Andernfalls drohe Bürgerkrieg, der eine Kettenreaktion in der arabischen Welt auslösen könne. „Ägypten steht mit einem Bein im Bürgerkrieg, und auch Tunesien wandert auf einem schmalen Grat. Dort fühlen sich Schlägertrupps und Milizen durch die Dominanz der islamischen Ennahda Partei ermutigt, bestimmte Moralvorstellungen durchzusetzen.“

„Zugleich zeigen die Ereignisse der vergangenen Wochen, dass der revolutionäre Funke in den Ländern noch lebendig ist“, unterstreicht der DOT- Sektionsleiter. „Die Menschen sollten diesen einenden Schub der Revolution nicht verlieren.“ Am Anfang hätten Junge und Alte, säkulare und religiöse Menschen für ein Ziel gekämpft, den Sturz des Tyrannen. Nachdem das Ziel in Ägypten und Tunesien, auch im Jemen und in Libyen schnell erreicht worden sei, sollten sich die verschiedenen politischen Kräfte nun auf einen Weg einigen. Die internationale Gemeinschaft solle die Übergangsregierung und Militärs davon überzeugen, sich zügig für eine demokratische und rechtsstaatliche Verfassung einzusetzen. „Wichtig ist auch, der Bevölkerung zu verdeutlichen, dass sich die tieferen Ursachen für ihre Revolutionen – Arbeitslosigkeit, Armut und Perspektivlosigkeit – nicht über Nacht abschaffen lassen.“

Die Menschen im Nahen Osten seien reif für ein freiheitliches System und wollten sich politisch beteiligen, so Thielmann. Das gelte auch für Anhänger eines religiös geprägten Staates. Als Vorbild für die Integration des Islams in einen demokratischen Staat könne durchaus das deutsche Grundgesetz dienen, das eine „religionsbejahende Neutralität“ des Staates beschreibe. So hätten Vertreter islamischer Parteien aus Ägypten in den vergangenen beiden Jahren das Gespräch mit den deutschen C-Parteien gesucht.

Auch Religion ist nach den Worten des Wissenschaftlers ein wichtiger Faktor für den Ausgang der Revolutionen. Dabei dürfe der Westen sich keine falschen Vorstellungen von der Rolle des Islams machen und vorschnell urteilen, warnt der Nahost-Experte. „Wir zeigen wenig Verständnis dafür, wenn politische Vorstellungen in religiöser Sprache geäußert werden und sehen gleich den bärtigen Mann in langen Gewändern, der einen Gottesstaat ausrufen will. Doch Demokratie und Islam stehen nicht per se im Widerspruch.“ Grundsätzlich mache der Islam keine politisch-normativen Vorgaben, auch wenn einige Muslime dies behaupten würden. Die Aussage „Der Islam ist Religion und Staat“ sei in dieser Form erst im 19. Jahrhundert erfunden worden.

Die Europäische Union (EU) sollte nach Auffassung des Islamwissenschaftlers trotz ihrer Wirtschafts- und Finanzkrise die arabischen Regionen stärker unterstützen. Es werde sich positiv auf den gesamten Nahen Osten und die Arabische Halbinsel auswirken, wenn die EU Gelder in Bildung und Infrastruktur investiere, den Tourismus fördere und den europäischen Markt für Agrarimporte wie Frühgemüse und Frühobst öffne. „Wenn Ägypten, Tunesien und Libyen auf die politisch-ökonomische Erfolgsstraße kommen, wird es für andere autoritäre Regime schwieriger, an ihrem System festzuhalten“, so der DOT-Sektionsleiter. „Zudem leistet dies einen Beitrag zur regionalen Sicherheit an der europäischen Südgrenze.“

Arabische Revolutionen in der Forschung
Beim 32. Deutschen Orientalistentag werden sich mehrere hundert Wissenschaftler aus aller Welt mit den aktuellen Entwicklungen in Nordafrika und im Nahen Osten befassen, darunter Islam-, Kultur- und Politikwissenschaftler sowie Iranisten, Turkologen und Geographen. Themen sind etwa der Transformationsprozess in der arabischen Welt und die europäische Mittelmeerpolitik nach dem Arabischen Frühling. (ska/vvm/eb) Aktuell Ausland

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