"Raus mit den Zigeunern!"

Antiziganistische Realitäten: Das Beispiel Duisburg

Seit der EU-Osterweiterung kamen 6.500 Zuwanderer aus Südosteuropa nach Duisburg. Die meisten werden als Roma bezeichnet. Ausgrenzung ist keine Seltenheit. Stellt sich Frage nach den Ursachen. Und: Welche Rolle spielen Medien, Politik und der Rassismus in der Bevölkerung?

Von Lausberg, Graevskaia Dienstag, 23.07.2013, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 28.07.2013, 23:06 Uhr Lesedauer: 22 Minuten  |  

Seit der EU-Osterweiterung 2007 kamen mehr als 6.500 Zuwanderer aus Südosteuropa nach Duisburg. Da diese im Diskurs der Mehrheitsgesellschaft meist als (Sinti und) Roma identifiziert werden, was allerdings auf viele nicht zutrifft, wurden und werden sie aufgrund von antiziganistischen Stereotypen Opfer von gesellschaftlicher Ausgrenzung.

Dies wollen wir im Folgenden näher erläutern. Nach einer kurzen Einführung gehen wir auf die Rolle der Medien beim Transport antiziganistischer Stereotype ein. Anschließend geht es um den Rassismus der autochthonen Bevölkerung gegen die Zuwanderer, vor allem in den beiden Stadtteilen Hochfeld und Rheinhausen-Bergheim. Danach wird die Anschlussfähigkeit der extremen Rechten an die antiziganistische Stimmung in der „Mitte der Gesellschaft“ analysiert. Im nächsten Abschnitt werden die Reaktionen der Stadt Duisburg sowie des Bundes auf die Zuwanderung skizziert. Weiterhin werden die lokale Sozialarbeit und zivilgesellschaftliche Initiativen vorgestellt.

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Unter Antiziganismus verstehen wir in Anlehnung an Markus End ein „historisch gewachsenes und sich selbst stabilisierendes soziales Phänomen, das eine homogenisierende und essenzialisierende Wahrnehmung und Darstellung bestimmter sozialer Gruppen und Individuen unter dem Stigma ‚Zigeuner‘ oder anderer verwandter Bezeichnungen, eine damit verbundene Zuschreibung spezifischer devianter Eigenschaften an die so Stigmatisierten sowie vor diesem Hintergrund entstehende diskriminierende soziale Strukturen und gewaltförmige Praxen umfasst.“ 1

Die heutigen antiziganistischen Einstellungsmuster können nicht ohne den Rückgriff auf ihre historische Entwicklung verstanden werden. Vorurteile wie Nomadentum, Kriminalität, Primitivität, Arbeitsscheu usw. entstanden in den vergangenen Jahrhunderten und werden seitdem wie ein „kultureller Code“ in der Gesellschaft von Generation zu Generation weiter tradiert. Romantisierende und exotistische Vorurteile wie die „musizierenden Zigeuner“, die „wild“ und „unproduktiv“ in den Tag hineinleben, sind immer noch vorhanden.

Aus dem Völkermord im Nationalsozialismus, dem nach Schätzungen europaweit mehr als 500.000 Sinti und Roma zum Opfer gefallen sind, hat das postfaschistische Deutschland wenig gelernt. Verschiedene wissenschaftliche Studien belegen, dass antiziganistische Einstellungsmuster nicht nur von Anhängern der extremen Rechten vertreten werden, sondern fest verankert in der deutschen Gesellschaft sind. Aus einer 2011 durchgeführten Studie zur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit geht hervor, dass über 40 Prozent der Bevölkerung antiziganistisch eingestellt sind. 2 Eine Umfrage aus dem Jahre 1994 belegte zwischen 64 und 68 Prozent 3 antiziganistisch eingestellte Personen in der BRD. 4 „Wissenschaftler“ wie Volkmar Weiß, der Sinti und Roma als eine „erbliche Unterschicht minderer Bevölkerungsqualität“ bezeichnete, bei der er eine „unterdurchschnittliche Intelligenz“ und eine „überdurchschnittliche Kriminalitätsrate“ feststellte, tragen zu dieser ethnischen Stereotypisierung bei. 5

Unter ethnischer Stereotypisierung leiden auch die seit 2007 aus Bulgarien und Rumänien zugewanderten Menschen, zudem ist ihre sozio-ökonomische Lage äußerst prekär. Im Gegensatz zu den Rechten anderer EU-Bürgern ist die Freizügigkeit dieser Menschen einschränkt: Sie dürfen sich hier aufhalten, aber bis Anfang 2014 oder solange sie hier noch keine drei Jahre verbracht haben, keine reguläre Arbeitsstelle annehmen. Auch sind sie für diese Zeit fast ausnahmslos von Leistungen nach SGB II (Sozialgesetzbuch) ausgeschlossen. Auf Transferleistungen, mit Ausnahme des Kindergeldes, welches allerdings an eine gültige Schulbescheinigung gebunden ist, und ggf. des Wohngeldes, haben sie ebenso keinen Anspruch. Durch diese Einschränkungen bleiben nicht viele Möglichkeiten den Lebensunterhalt zu sichern: Die Menschen werden in (Schein-) Selbstständigkeit, Prostitution und Kriminalität gedrängt. Hinzu kommt das Problem, dass die meisten über keine Krankenversicherung verfügen. Ihre äußerst prekäre Lage wird durch Vermieter und Arbeitgeber ausgenutzt: Viele leben gezwungenermaßen in heruntergekommenen Immobilien, manche bekommen noch nicht einmal den ihnen versprochenen Hungerlohn.

Die Rolle der Medien
Zahlreiche regionale und überregionale Medien beteiligen sich zu weiten Teilen an der Stigmatisierung der Einwander und dienen als Motoren und Multiplikatoren der Ethnisierung des Sozialen. So spricht u.a die Neue Ruhr Zeitung (NRZ) in ihrer Berichterstattung immer wieder von einem „Roma-Problem“, womit soziale Probleme hochgradig ethnisiert werden. 6

Eine Untersuchung von Artikeln des Medienportals „derWesten.de“ 7 über die Zuwanderung aus Südosteuropa von Ende April 2008 bis Dezember 2012 kam zu dem Ergebnis, 8 dass der überwiegende Teil der Berichterstattung die Zuwanderer als eine ethnisch homogene Gruppe von kriminellen Armutsflüchtlingen darstellt, deren Bräuche und Verhaltensweisen von denen der Mehrheitsgesellschaft abweichen. Positive und differenzierende Diskursfragmente kommen zwar vor, aber nicht in der Qualität und Quantität wie negative Zuschreibungen. Somit wird Antiziganismus in der Medienberichterstattung – zum großen Teil ohne direkte Absicht, sondern durch feste Verankerung antiziganistischer Ressentiments in der Gesellschaft – reproduziert.

Dies soll anhand zweier Beispiele (Kriminalitäts- und Verdreckungsvorwurf) im Folgenden illustriert werden.

  1. End, M.: Antiziganismus. Zur Verteidigung eines wissenschaftlichen Begriffs in kritischer Absicht, in: Bartels, A./Ders./von Borcke, T./Friedrich, A. (Hg.): Antiziganistische Zustände 2. Kritische Positionen gegen gewaltvolle Verhältnisse, Münster 2013, S. 39-72, hier S. 47.
  2. Heitmeyer, W.: Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (GMF) in einem entsicherten Jahrzehnt, in: Ders. (Hg.): Deutsche Zustände. Folge 10, Frankfurt/Main 2012, S. 15-41, hier S. 38f.
  3. Winckel, A.: Antiziganismus. Rassismus gegen Roma und Sinti im vereinigten Deutschland, Münster 2002, S. 17.
  4. Aufgrund der unterschiedlichen methodischen Vorgehensweise sind diese Studien nicht direkt vergleichbar, man kann damit also keinen Rückgang von Antiziganismus belegen.
  5. Weiß, V.: Die IQ-Falle: Intelligenz, Sozialstruktur und Politik, Graz 2000, S. 195-202.
  6. Siehe NRZ vom 11.1.2012 oder NRZ vom 12.10.2012
  7. Dieses Portal wird von der WAZ-Mediengruppe betrieben und enthält dieselben Artikel wie die WAZ oder die NRZ-Printausgabe. Gelegentlich weichen Print- und Onlineausgabe in wenigen Details voneinander ab. Jedoch sind keine gravierenden Abweichungen, die die Analyse verzerren könnten, zu erwarten. Auf einen Zugriff auf das Archiv von Printausgaben wurde daher verzichtet.
  8. Vgl. Graevskaia, Alexandra: „Die machen unser schönes Viertel kaputt“ – Rassismus und Antiziganismus am Beispiel Duisburg, in: Kellershohn, Helmut / Paul, Jobst (Hg.): Der Kampf um Räume: Neoliberale und extrem rechte Konzepte von Hegemonie und Expansion. Münster 2013 (im Erscheinen). Eine gekürzte Fassung kann im DISS-Journal Nr. 25 nachgelesen werden.
Gesellschaft Leitartikel Meinung

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  1. Songül sagt:

    @lionel

    Wo haben Sie Ihre Zahlen her? Sie behaupten DU-Hochfeld stelle einen „Ausländeranteil“ von 68%, im Artikel jedoch wird ein “ Ausländeranteil“ von 47% angegeben. Ihre weitere Schlussfolgerung, dass kaum mehr ein Deutscher in Hochfeld Leben würde, stellt, selbst bei den von Ihnen fälschlicherweise angegebenen 68%, lediglich Ihr persönliches Empfinden und nicht die Realität dar, oder wer sind die Übrigen 53% (32%) ?

    @Duisburger

    Aber genau das wird doch in dem Artikel kritisiert: Die Einwanderer sind Opfer und nicht Verursacher der Überbelegung von Wohnungen!

    500.000 ermordet, vor noch nicht allzulanger Zeit auf genau diesem Boden. Schämen sollte sich Deutschland angesichts der antiziganistischen Realitäten. Diese erstrecken sich vom einfachen Bürger („Wir haben Angst vor einem zweiten Rostock-Lichtenhagen!“) über Politiker, die Medien (Der Spiegel ist nur noch eine einzige Lachnummer) bis hin zu „Wissenschaftlern“ !

    Ich verstehe nicht, warum Deutschland nicht mit derselben Sensibilität, mit der
    Jzden begegnet wird, Roma ( und Sinti) begegnet

  2. Lionel sagt:

    @Songül

    Googeln Sie doch einfach mal „Duisburg-Hochfeld“ und „Duisburg-Marxloh“
    Ausländeranteil bezieht sich n u r auf die Bewohner mit ausschließlich ausländischer Staatsangehörigkeit.
    Migrationshintergrund umfasst nicht nur die Bewohner mit ausschließlich ausländischer Staatsangehörigkeit, sondern auch die mit deutscher Staatsangehörigkeit und ausländischen Wurzeln.
    Somit liegt der Ausländeranteil in Marxloh bei 38% und der Anteil der Bewohner mit Migrationshintergrund liegt naturgemäß höher, nämlich bei etwa 60%.

    Auch in Marxloh gibt es keine gleichmäßige Verteilung von Bewohnern mit und ohne Migrationshintergrund über den Stadtteil.
    In dem Bereich zwischen Willy-Brandt-Ring und Weseler Str. beträgt der Anteil der Bewohner mit Migrationshintergrund mehr als 80%.
    Inmitten dieses Bereiches (Wolfstr./Dahlstr.) fanden die genannten Auseinandersetzungen statt.
    Den Stadtteil und die Straßen kenne ich aus eigener Anschauung und nicht nur aus Wikipedia.

  3. Songül sagt:

    „Zigeunerbesen“, „Taktik der kleinen Nadelstiche“, “ Assoziationen mit Raubtieren“, „erbliche Unterschicht minderer Bevölkerungsqualität“ usw. – die Beispiele lesen sich wie aus einem Geschichtsbuch. Einfach unfassbar!
    Unfassbar, wie mit Menschen umgegangen wird.
    KInder müssen zusehen, wie ihre geliebten und verehrten Eltern als Menschen zweiter Klasse behandelt werden. Bitter, äußerst bitter.
    Sehr schade auch, dass Menschen, die bis vor kurzem selbst gegen ähnliche Vorurteile zu kämpfen hatten, auf diesen Zug aufspringen.

    @Lionel
    Im Artikel wird sehr wohl auf die äußerst prekäre sozio-ökonomische
    Situatuon der Einwanderer aus Bulgarien und Rumänien (EU-Bürger!)
    hingewiesen. Diese dürfen weder eine reguläre Arbeitsstelle annehmen, noch erhalten sie Hilfen zum Lebensunterhalt und werden somit in die Kriminalität gedrängt

  4. Songül sagt:

    @Lionel

    Naja, dann sprechen wir doch von Deutschen mit Migrationshintergrund.
    Außerdem verstehe ich folgende Aussage von Ihnen nicht: “ Schon allein deshalb, weil in diesen Bereichen der genannten Stadtviertel kaum mehr ein Deutscher wohnt.“ soll es Spannungen zwischen den zugewanderten Bulgaren und Rumänen und den eingesessenen Türken geben?!

  5. Marie sagt:

    „Einbrecher fanden die Beamten aber letztlich ebenso wenig wie Diebesgut. „Die vier Personen, die wir zur Ermittlung der Personalien mit auf die Wache genommen hatten, sind inzwischen wieder frei“, sagt der Duisburger Polizeisprecher Ramon van der Maat.“

    Ihre Stimmungmache gegen die Ärmsten der Armen, Herr Lionel, ist einfach nur eins: absolut abstoßend. Und der Begriff „Problemhaus“ ist ebenfalls abstoßend. Die ganze Hetze derer, die, anstatt sich darum zu kümmern, wie diesen Menschen geholfen werden kann, Menschen zu Problemen machen, die es zu bekämpfen gilt (nicht die Probleme, sondern die Menschen!) treibt einem die Schamröte ins Gesicht.

  6. Lionel sagt:

    @posteo

    Es wäre sehr wünschenswert, wenn ein Teil der Gelder aus der Roma-Dekade den betroffenen Kommunen in zugewiesen würde.
    Seit 2 Jahren ist in Duisburg ein Aktionsprogramm projektiert, das 18 Millionen € jährlich kosten würde, aber von der Stadt finanziell einfach nicht selbst gestemmt werden kann, obwohl u.a. deshalb die Gewerbesteuer erhöht wurde.

    Auf der EU-Ebene (diverse Delegationen haben sich vor Ort informiert) scheint man erst die Entwicklung mit dem Beginn der Arbeitnehmerfreizügigkeit für Rumänen und Bulgaren in 5 Monaten abwarten zu wollen.

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