Glosse

Einen Dicken schieben

Kennen Sie den Ausdruck „einen Dicken schieben“? Meines Wissens handelt es sich hierbei um keine standardsprachliche Redewendung. Ganz sicher bin ich da aber nicht. Da ich viel mit Jugendlichen, Migranten und Randexistenzen aller Art zu tun habe, komme ich manchmal etwas durcheinander. Wie auch immer.

Es ist jedenfalls ein sehr nützlicher Ausdruck. Das damit umschriebene Verhalten bzw. gesellschaftliche Phänomen greift, scheint mir, gerade massiv um sich. Es gibt noch andere Begriffe, Sprichwörter und Redewendungen, die Ähnliches zum Ausdruck bringen: Wer einen „Dicken schiebt“, inszeniert sich gerne als „großer Zampano“ mit „dicker Hose“. In der Regel beherrscht er die Kunst der „Schaumschlägerei“ und des Produzierens von viel „heißer Luft“, anstatt zuzugeben, dass auch er „nur mit Wasser kocht“. Ein „Schmock“ – das ist ein jiddisches Synonym für „Platzhirsch“ – schiebt meist einen Dicken: Außen hui, innen pfui. Das Gegenteil von englisch.

Ich habe jahrzehntelang sehr viel mit so genannten „fremden Kulturen“ zu tun gehabt. So viel, dass mir der Ausdruck „fremde Kulturen“ ganz flott über die Lippen geht. Es kommt sicher etwas so rüber, als sei ich eine CDU-Stammwählerin, eine norddeutsche Landfrau in den Sechzigern. Daneben. Meinen Rassismus habe ich mir, im Gegensatz zu denen, hart erarbeitet. Wer in der Phase der Identitätsbildung allzu viele Anregungen bekommen hat, hat leider eine größere Tendenz zum Schubladendenken als manch eine norddeutsche Landfrau. Shit happens. Ich kann’s nicht ändern.

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Tatsache ist: Manche Kulturen und Denkweisen sind mir fremd. Und das sollen sie auch bleiben. Es gibt Bräuche, Denkweisen und Werte, die ich nur schwer tolerieren kann. Was ich ziemlich unangenehm finde, ist die Neigung, mehr zu scheinen als zu sein. „Einen Dicken zu schieben“ also. Fehler zu vertuschen, Schwachpunkte nicht eingestehen zu können und sich als kompetenter, fleißiger, reicher, fortschrittlicher, schöner und intelligenter darzustellen, als man ist. So ungefähr mit 13 fängt das an. Mit gepolsterten BHs. Ich habe gehört, für Männer gibt’s entsprechende Kleidungsstücke, aber ob das stimmt, möchte ich eigentlich gar nicht näher wissen (meine islamische Religion verbietet mir das!). Bloß nicht, der Aufrichtigkeit und Gerechtigkeit halber, die Ehre der Nation, der Familie oder der eigenen Person beschmutzen. Bloß immer eine weiße Reserveweste im Schrank haben! Ganz schauderhaft!

Imageproblem, das Buch von Anja Hilscher, erscheint am 23. April 2012.

Typisch deutsch ist diese Eigenschaft nicht, zumindest norddeutsch nicht. Bisher. Da tut sich aber was. Oder denken Sie, Volkswagen produziert noch Qualität? Willkommen in der Gegenwart! Gestern habe ich einen Stehkaffee getrunken. Einen italienischen. Nichts gegen den Kaffee. Eine echte Dröhnung, die ihrem Namen alle Ehre machte. Aber der Milchschaum! Dieser Milchschaum, zu 98% nur „heißer Luft“, hat mich wieder zum Philosophieren gebracht. Einen auf Sahne machen und in Wirklichkeit nicht mal den normalen Milchfettgehalt haben! Da taucht bei mir sofort die innere Klischeekeule auf. Die Italiener sind ja bekannt dafür, dass sie…. naja…formulieren wir es ressourcenorientiert…im Gegensatz zu uns (verdammt, wer ist jetzt UNS??) die Fähigkeit haben, sich in ein gutes Licht zu setzen. Optisch und so. Im Gegensatz zu norddeutschen Landfrauen ü60 jedenfalls. Sie verstehen, was ich meine! Ist ja auch im Prinzip nicht schlecht, und weder Jesus noch Mohammed lehrten, dass man „sein Licht unter den Scheffel“ stellen soll. Aber trotzdem…

Dasselbe gilt übrigens für Südamerikaner. Natürlich erstens eh nie für alle, und zweitens gibt’s natürlich immer die Möglichkeit, noch weiter zu differenzieren (aber irgendwann ist auch mal gut!). Ein Norditaliener ist zwar ziemlich anders als ein Sizilianer, ein Argentinier total anders als ein Bolivianer und peruanische Großstädter sind im Gegensatz zu den schweigsamen, ernsten und fleißigen Bergbauern ziemliche Party-People. Ich weiß, ich weiß. Aber gerade deshalb: Ich hänge an meinen Vorurteilen. Ich bin aber jederzeit bereit, daran zu arbeiten! Vielleicht befindet sich in der geneigten Leserschaft ja ein Italiener, oder auch ein Peruaner, der mich eines Besseren belehren kann.

Giovanni Di Lorenzo zum Beispiel behauptet, italienische Männer seien absolut unromantisch. Ob das mit der schicken Kleidung auch nicht stimmt, hat er nicht verraten. Ich kenne jedenfalls viele Italiener und Südamerikaner, die das Klischee bestätigen. Das heißt…. Es stimmt nicht, dass ich nicht auch Ausnahmen kennen würde. Aber die Klischeebestätiger, die mir bekannt sind, bestätigen es dermaßen, dass ich sie mindestens mal Hundert nehmen muss. Es würde ihnen nie einfallen, ungestylt das Haus zu verlassen. Die blütenweißen Boss-Hemden sind stets gestärkt und faltenfrei gebügelt, die Ray-Ban-Sonnenbrille mit gut sichtbarer Beschriftung lässig in die Brusttasche gesteckt. Das Haar ist gegelt und frisch geschnitten und das Handy ist längst ein iPhone. In Zeiten finanzieller Engpässe legt die ganze Großfamilie zusammen, und das iPhone wird untereinander verliehen. So lange, bis jedes Familienmitglied mindestens einmal damit in der Öffentlichkeit gesehen wurde.

In den ärmeren Schichten ist das Prinzip dasselbe, die Statussymbole lediglich etwas weniger hochpreisig – zur Not gehen auch Plastiktüten mit Markenlogos. Wer aber nicht zumindest auf das persönliche Styling, etwa in Form gebügelter, weißer Hemden, achtet, der muss wirklich am Hungertuch nagen. Jedes Mal, wenn ich an diesen Altkleidercontainern vorbei komme, muss ich lachen. „Ihre alten Schuhe für die Dritte Welt“ steht darauf. Na, die Dritte Welt dankt aber ganz herzlich! Auf Statussymbole verzichten zu wollen ist in Wirklichkeit total elitär, und auch Understatement ist ja eigentlich eine Form des Angebens.

Wie gesagt, ich gebe zu: Ganz aufgeben kann ich meine Klischees nicht. Es gibt wahrhaftig genug unsympathische deutsche Eigenschaften, das steht fest. Aber ich glaube, dass es nicht gerade typisch deutsch ist, einen „Dicken zu schieben“. Eher im Gegenteil. Das norddeutsche Bürgertum neigte bekanntlich immer eher zur feinen englischen Art. Und ich kenne auch einen Vertreter meiner Nationalität, der weder norddeutsch ist noch dem Bildungsbürgertum entstammt, und seine Schränke immer erst ganz unten und ganz hinten sauber macht. Wo es keiner sieht. Weil er Schränke aber ziemlich ungern sauber macht, bleibt es meist dabei. Außen und auf Augenhöhe bleiben sie dreckig. Der südamerikanische Vertreter dagegen, über dessen Schrankputzgewohnheiten ich Näheres sagen kann, fängt immer mit dem an, was sichtbar ist. In meinem näheren Umfeld finden sich meine Vorurteile also bestätigt.

Bedingt durch meine interkulturelle Kompetenz bin ich selbst immer etwas gehemmt, wenn es ans Schrankputzen geht. Wo soll ich anfangen? Die protestantisch geprägte deutsche Seele in meiner Brust neigt zur hintersten Ecke. Der interkulturell und psychologisch geschulte Teil meiner Persönlichkeit jedoch überzeugt mich aber meistens: „Außen hui, innen pfui“ hat ja durchaus seine Vorteile. Man sieht ja selbst auch drauf, aufs Äußere! Und das offensichtliche Erfolgserlebnis animiert dann zum Weiterputzen. Soweit die Theorie. In der Realität… nun, wie die Realität aussieht, verrate ich Ihnen nicht. Soweit kommt’s noch, dass ich der Allgemeinheit hier erzähle, ob und wo meine Küchenschränke kleben. Fest steht, dass es zwischen den Kulturen so zerrissene Menschen wie ich nicht leicht haben. Und deshalb lieber gar nicht erst anfangen, mit Schrankputzen. Klebrige Schränke, glänzende Schränke – who cares? Außer den Meister-Propper-Leuten, die mit lauter Hausfrauen wie mir längst pleite gemacht hätten. Drüber reden ist viel lustiger!