Taksim in Istanbul

Wieso die Proteste gut für die Türkei sind und Vergleiche hinken

Die Proteste in der Türkei sind gut für die weitere Entwicklung des Landes, sie leisten einen wichtigen Beitrag zur Pluralität und Freiheitlichkeit. Wieso deutsche Medien trotzdem ein schwarzes Bild zeichnen, liegt an Vergleichen, die hinken.

Ich werde auf Vergleiche zwischen der Polizeigewalt in Istanbul und Stuttgart 21 oder neulich in Frankfurt verzichten. Auch werde ich die Einschränkung von Alkoholverkauf in der Türkei und in Teilen Deutschlands nicht vergleichen oder auf etwaige Linien der Medien hier wie drüben eingehen. Ein Vergleich ist schon deshalb sinnlos, weil auf der einen Seite die Türkei mit Recep Tayyip Erdoğan an der Spitze steht und auf der anderen Seite ein/e demokratisch gewählte/r Kanzler/in – Name irrelevant.

Vor etwa 4,5 Jahren hatte ich in einem meiner Artikel – nicht nur – den türkischen Premier einem Test unterzogen. Auf einem Festakt des türkischen Beauftragten für Türken in der Diaspora hatte Erdoğan eine Gruppe von Auslandstürken auf ihre kulturelle Identität eingeschworen. Es sei „ein ureigenes und auch ein ganz natürliches Bedürfnis, […] die eigene Sprache zu sprechen und die eigenen Traditionen, Sitten und Bräuche zu leben und zu beleben. Genau das soll auch in der Zukunft weitergeführt werden“, hatte er gesagt, selbst dann, wenn diese Politik einigen Ländern nicht schmecke. „Wir haben immer versucht, dieses Misstrauen abzubauen, allerdings mit einem klaren Kompass, nämlich dass es unser Recht und unsere Pflicht ist, diese Minderheiten auch außerhalb der Türkei zu unterstützen“, so Erdoğan weiter.

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Kurz, nachdem ich diesen Artikel veröffentlicht hatte, klingelte mein Telefon Sturm. Journalisten, Politiker und Nachrichtenagenturen wollten von mir wissen, ob Erdoğan diese Worte tatsächlich so gesagt hatte. „Ein Skandal“, sei das. Ob man die Rede irgendwo hören oder lesen könne, wurde ich gefragt. Das sei ja eine klare Kampfansage an die deutsche Integrationspolitik in typischer Erdoğan-Manier. Damit der Artikel noch vor Mittag veröffentlicht werden könne, sollte ich doch bitte schnell die Quelle mailen. Das tat ich. Ich schickte den Anrufern den Link zur Internetseite des „Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa“.

Verwirrung!?

Ich hatte in meinem Artikel nicht erwähnt, dass ich Merkel durch Erdoğan und Deutsche durch Türken ersetzt hatte. Die Rede hielt nämlich nicht der türkische Premier, sondern Bundeskanzlerin Angela Merkel während einer Tagung im September 2008 – knapp sieben Monate nach der skandalösen Assimilation-ist-ein-Verbrechen-gegen-die-Menschlichkeit-Rede von Erdoğan in der ausverkauften Köln-Arena. Veranstalter war der Beauftragte der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten.

Enttäuschung!?

Bis heute jedenfalls hat kein einziger Journalist die Rede von Merkel aufgegriffen oder je thematisiert.

Was diese Anekdote mit den Demonstrationen in der Türkei zu tun hat? Nichts. Sie soll nur zeigen, dass Vergleiche hinken. Nur der arabische Frühling scheint auf Länder mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung immer zu passen. Lassen wir das lieber und kommen zum Thema:

In den vergangenen Wochen war ich im Herzen mit den Menschen im Gezi Park – nicht jedoch mit Provokateuren, die sich unter die Demonstranten gemischt und die Proteste für ihre wie auch immer gearteten Zwecke medienwirksam instrumentalisiert haben. Ich war bei all jenen friedlichen Demonstranten, denen es um Bäume, Freiheit oder den Regierungsstil von Erdoğan ging. Ich war bei ihnen, weil ich mir erhoffte, die Türkei würde daraus lernen. Und das hat sie allem Anschein nach.

Der türkische Journalist Ertuğrul Özkök, der auch Bild-Lesern kein Unbekannter ist, sei hier stellvertretend genannt für die eine Seite. Er entschuldigt sich in seiner gestrigen Hürriyet-Kolumne unter anderem dafür, dass er und seinesgleichen in der Vergangenheit nicht lauter geschrien haben, als junge Frauen von der Polizei unter Gewaltanwendung daran gehindert wurden, die Universität zu betreten, weil sie ein Kopftuch trugen. Özkök schreibt, dass er dazugelernt hat – wenn auch spät.

Özkök formuliert aber auch Einwände: Er wolle in keinem Land leben, wo Frauen schief angeguckt und belästigt werden, nur weil sie freizügig gekleidet seien. Er wolle in öffentlichen Parks sitzen können, ohne von „Sittenwächtern“ beäugt zu werden. Auch wolle er zu Gebetszeiten nicht täglich fünf Mal belehrt werden. Soweit Özkök.

Auf der anderen Seite hat auch die türkische Regierung gelernt – auch wenn das in den hiesigen Medien nicht an die große Glocke gehängt wurde. Sie räumte Fehler ein und gestand: „Eure Botschaft ist angekommen. Wir haben verstanden.“ Im Gespräch mit den Demonstranten haben sie sogar überraschend großzügig eingelenkt, ein laufendes Gerichtsverfahren zum Bauvorhaben am Gezi Park sollte abgewartet werden mit anschließender Volksabstimmung. Dass die Polizei dennoch hart durchgegriffen hat, hinkt natürlich – natürlich.

Kurz: Die Türkei begreift in diesen Tagen, dass sie plural ist deshalb freiheitlich sein muss. Das ist das Wesentliche und eine wichtige Errungenschaft. Daher an dieser Stelle eine klare Absage an alle, die ausgerechnet jetzt den Stopp der EU-Beitrittsverhandlungen fordern. Ganz im Gegenteil, Beschleunigung wäre angebracht, um diesen Erkenntnisgewinn zu sichern.

Zu wünschen wäre noch, dass sich aus dieser Protestbewegung heraus eine starke und kompetente Opposition zur AKP bildet. Das würde der Türkei guttun. Um das zu verstehen, muss man die politische Landschaft in der Türkei zumindest ansatzweise kennen: Stellen Sie sich vor, wir hätten in Deutschland eine 50-Prozent-Partei und alle anderen Parteien bewegten sich auf CSU Niveau. 1

  1. Ja, der hinkt auch.