Interview mit Orkan Kösemen

„Den typischen migrantischen Wähler gibt es nicht.“

Im September 2013 sind Bundestagswahlen und die Parteien werben auch um die Stimmen der Migranten. Doch welches Stimmenpotenzial haben sie, könnten sie gar den Wahlsieger bestimmen? Vor welchen Herausforderungen stehen die Parteien? MiGAZIN sprach mit Orkan Kösemen.

MiGAZIN: Sie haben in Ihrer Analyse „Wenn aus Ausländern Wähler werden“ untersucht, welche Rolle Migranten bei den bevorstehenden Bundestagswahlen spielen. Was ist Ihr Fazit? Lohnt es sich für die etablierten Parteien, Migranten als Wähler im Auge zu behalten?

Orkan Kösemen: Um es vorwegzunehmen: Migrantische Wähler entscheiden noch nicht über Wahlen. Frau Merkel oder Herr Steinbrück werden die kommende Bundestagswahl nicht gewinnen, weil sie sich erfolgreich um die Stimmen von Zuwanderern bemüht haben. Daher werben die Parteien um diese Wählergruppe auch eher nebenher, zumal die migrantischen Wähler noch gleichmäßig auf die beiden großen politischen Lager verteilt sind. Dieses Wählerpotenzial wird aber schon mittelfristig anwachsen und somit an Bedeutung gewinnen. Die Gründe liegen auf der Hand: Es ist nicht nur der demografische Wandel, sondern auch Faktoren wie die Erlangung der deutschen Staatsbürgerschaft bei Geburt und die hohe Zahl an ausländischen Personen in Deutschland, die die Anforderungen für eine Einbürgerung bereits erfüllen, diesen Schritt aber noch nicht gegangen sind.

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Dr. Orkan Kösemen ist Projektmanager bei der Bertelsmann Stiftung im Bereich Integration und Demokratie. Hier betreut er das Leadership-Programm für junge Führungskräfte aus Migrantenorganisationen und beschäftigt sich mit den Themen Zuwanderung und Migrationspolitik sowie Rechtsextremismus und Rechtspopulismus. Publikationen, für die er in der Bertelsmann Stiftung verantwortlich war, sind u.a. „Deutschland, öffne dich! Willkommenskultur und Vielfalt in der Mitte der Gesellschaft verankern (2012)“, „Wer gehört dazu? Zugehörigkeit als Voraussetzung für Integration (2011)“ und „Strategies for Combating Right-Wing Extremism in Europe“ (2009).

Die Frage nach dem Umgang mit den migrantischen Wählern ist für die Parteien keine isolierte Herausforderung. Sie muss vielmehr im Rahmen des Wettbewerbs um Wahlstimmen in Städten gesehen werden. Der seit einigen Jahren zu beobachtende Parteienwettbewerb um städtische Wähler – also eher jung, weiblich und modern – wird um ein weiteres Attribut erweitert, nämlich migrantisch. Letztendlich verstärkt das Wachsen des migrantischen Wählerpotenzials die (Wahl-)Gegensätze zwischen Stadt und Land.

Zusammengefasst ergeben sich folgende Trends: Die Zahl der migrantischen Wähler wird steigen und die Parteienbindung zu den beiden Volksparteien nimmt ab.

Gibt es heute unter den einzelnen Migrantengruppen – seien es die Türkei-, Polen-, oder Russlandstämmigen – bestimmte Parteien, die überwiegend gewählt werden oder stehen wir hier vor einer heterogenen Wählerschaft?

Kösemen: Den typischen migrantischen Wähler gibt es nicht. Die Gesamtgruppe der Zuwanderer ist genauso heterogen wie der Rest der Gesellschaft und sie wählen auch in großen Teilen nach ähnlich verschiedenen Präferenzen wie sie. Es gibt aber einen messbaren Unterschied bei Zuwanderern, die sich als gesellschaftlich nicht-privilegierte Gruppe wahrnehmen – also Zuwanderer aus den ehemaligen Anwerbestaaten, aus Afrika und dem Nahen Osten. Diese Personen tendieren eher zu Parteien, die sich gegen Ausgrenzung aufgrund ethnisch-religiöser Merkmale einsetzen.

Wenn sie einzelne Migrantengruppen gesondert betrachten, gibt es zwar Trends hin zu bestimmten Parteien, aber auch hier gilt: Das Wahlverhalten hängt ebenso von der sozio-ökonomischen Stellung und dem eigenen Herkunftsmilieu ab, eine Verallgemeinerung nur aufgrund der Ethnie wäre fahrlässig. Die ganz grobe Einteilung – Aussiedler wählen konservativ, Zuwanderer aus den Anwerbestaaten sozialdemokratisch – galt vielleicht noch bis in die 90er Jahre. Diese Blockbildung zerbröselt jedoch seit Jahren immer stärker.

Parteien stehen bei Wählkämpfen vor dem Problem, dass Sie zum einen auf die Wählerstimmen der Migranten angewiesen sind, mit einer migrantenfreundlichen Politik aber auch Gefahr laufen, die Stammwähler zu vergraulen. Wie gehen Parteien damit um?

Kösemen: Das ist mehr das Problem der beiden großen Volksparteien, die ja generell vor der Herausforderung stehen, verschiedenste Wählergruppen zu bedienen und sie ihn Einklang zu bringen. Die kleinen Parteien haben dieses Problem nicht. Sie können sich die migrantischen Wählergruppen aussuchen, die am besten zu ihrem Programm und ihrer Stammklientel passen und sie dementsprechend umgarnen. Die Linke und die Grünen sind in dieser komfortablen Situation, die FDP hingegen hat diese Möglichkeit lange Jahre ignoriert und versucht im Zuge des aktuellen Bundestagswahlkampfs rhetorisch aufzuholen.

Die SPD und die CDU versuchen die Gratwanderung erst mal durch das Hervorheben von migrantischen Persönlichkeiten. Jenseits davon unterscheiden sich die beiden Parteien dahin gehend, dass die SPD auch inhaltliche Versprechen macht, die CDU eher auf Symbolik und einen migrantenfreundlicheren Ton setzt. Letztendlich sind beide Parteien vorsichtig. Das eigentliche Ziel müsste ja sein, einen politischen Rahmen für die eigene Partei zu schaffen, in dem die Stammwähler wie auch zukünftige migrantische Wähler einen Platz haben. Nur dazu gehört auch eine Portion Mut, sich mit der eigenen Basis anzulegen, in der gerade mit Blick auf migrantische Themen Vorbehalte existieren.

Um es vorsichtig zu formulieren: Ausländerfeindliche Themen und Rhetorik waren bei früheren Wahlkämpfen keine Seltenheit. Sind diese Zeiten im Hinblick auf das Stimmenpotenzial der Migranten vorbei?

Kösemen: Die Zeit von Kampagnen, die Unterschiede zwischen bestimmten Bevölkerungsgruppen herausstellen und diese zu instrumentalisieren versuchen, ist vorbei. Das trifft auf Migranten genauso zu wie z.B. auf Polemiken gegen die ostdeutsche Bevölkerung. Einzelne anti-migrantische Töne oder Färbungen werden wir leider weiterhin erleben, weil sich dadurch kurzfristige Stimmengewinne in regionalen Kontexten verwirklichen lassen. Unabhängig davon: Es ist legitim für Parteien, alle relevanten Themen in Wahlkämpfen anzusprechen. Es ist ja letztendlich ein Wettbewerb der politischen Positionen. Das Problem ist, dass sogenannte „migrantische Themen“ schnell aus dem Ruder laufen und im dumpfen Populismus enden. Und hierbei haben die Parteien eine gesellschaftliche Verantwortung. Bei der Unterschriftenkampagne von Roland Koch gegen die doppelte Staatsangehörigkeit meldeten sich Bürger beim CDU-Wahlkampfstand mit den Worten „Wo kann ich hier gegen Ausländer unterschreiben?“. Bei der nächsten Wahlkampagne von Roland Koch, in der er gegen migrantische Jugendgewalt polarisierte, haben die Wähler sein Manöver durchschaut. Das Traurige bei dieser Episode ist allerdings, dass natürlich auch Zuwanderer keine Jugendgewalt tolerieren. So gesehen war es nicht mal ein Wahlkampfthema, bei dem sich die Interessen von Einheimischen und Migranten unterschieden und trotzdem wurde ein Unterschied konstruiert.

In einigen Monaten stehen die Bundestagswahlen an. Worauf müssen wir uns also einstellen?

Kösemen: Ich sehe bei SPD und CDU gegenwärtig eine verstärkte Anstrengung in diesem Bereich. Wir befinden uns aber noch in der feel-good-Phase des Wahlkampfes, in der beide Parteien eine moderne und vielfältige Gesellschaft bewerben. Beide Parteien haben jedoch bereits angekündigt, auch die doppelte Staatsbürgerschaft zu thematisieren. Ich hoffe, sie gehen damit verantwortungsbewusst um. In den letzten Jahren ist dazu schon alles gesagt worden, es geht nur noch darum, ob sich in den kommenden Jahren eine Mehrheit im Bundestag und Bundesrat findet. Der worst case wäre ein polarisierender Wahlkampf zu diesem Thema, der einen Keil in die gesamte Bevölkerung treibt. Die CSU scheint sich langsam eine Rampe zum Wahlkampfthema Salafismus zu bauen, sozusagen als neue Variante des klassischen law-and-order-Themas. Das Thema „Qualifizierte Zuwanderung“ wird wahrscheinlich aus dem Wahlkampf heraus gehalten werden, weil sich in dieser Frage die meisten Parteien einig sind.

Viele Parteien besetzen hohe Parteiposten gezielt mit Migranten. In Ihrer Abhandlung schreiben Sie aber, dass die bloße Anzahl von migrantischen Volksvertretern für sich alleine genommen noch kein guter Indikator ist für eine „Öffnung der Parteien“. Was wäre denn ein guter Indikator?

Kösemen: Meine Meinung nach sind Themen-Ownership und ein unverkrampfter Parteiumgang mit Vielfalt aussagekräftige Indikatoren. Mit Themen-Ownership meine ich, ob eine Partei authentisch für eine Gruppe, Thema oder Position steht. Da ist auch nicht so wichtig, was eine Partei im Detail verspricht, die Öffentlichkeit kann trotzdem einschätzen, was von ihr zu erwarten ist. So hat z.B. die CDU ein Ownership bei Aussiedlern und keines bei Türken (bzw. türkeistämmigen). Beides ist das Resultat von langjähriger Politik, Positionierung und Rhetorik. Mit unverkrampftem Umgang meine ich, wie normal es für diese Partei ist, Migranten in Ämtern und Positionen zu haben, ohne dass dies als etwas Außergewöhnliches empfunden wird. Um jetzt beim Beispiel zu bleiben: Wenn in der CDU ein Migrant etwas erreicht, ist das ein Hingucker, weil es eben nicht normal ist. Bei den Grünen würde es innerhalb und außerhalb der Partei nicht thematisiert – es ist Normalität. Und dieser Unterschied liegt nicht hauptsächlich in der Zahl von migrantischen Mandatsträgern begründet, sondern im Selbstverständnis der Partei.

Welche der etablierten Parteien ist Ihrer Meinung nach personell wie inhaltlich am besten aufgestellt im Hinblick auf Wählerstimmen in der migrantischen Community?

Kösemen: Alle Parteien haben „Champions“ – also prominente oder medienwirksame Gesichter, die für das Thema stehen, und schicken diese ins Rennen. Hier hat die CDU einiges an Boden aufgeholt, obwohl sie inhaltlich keine großen Sprünge unternommen hat. Aber noch einmal: Es gibt den typischen migrantischen Wähler nicht, also kann man auch nicht pauschal sagen, wer am besten aufgestellt ist. Die Bandbreite reicht hier vom Facharbeiter mit Aussiedlerhintergrund, über den persischstämmigen Arzt, den türkischstämmigen Unternehmer, bis hin zu Angestellten, die aus Afrika oder Asien stammen. So gesehen kann jede Partei bei bestimmten Migranten punkten, wenn auch vielleicht nur partiell. Letztendlich muss jeder Wähler mit Migrationshintergrund selbst entscheiden, wie wichtig ihm die migrantenspezifische Positionierung der Parteien bei seiner Wahlentscheidung ist. Nur: Reine Symbolpolitik oder Wohlfühlrhetorik kann Authentizität nicht ersetzen. Das merken die Wähler. Wenn eine Partei nicht glaubhaft für ein Thema steht, wird sie dafür auch nicht gewählt.