Replik auf Cicero

Wächst Deutschland auf 100 Millionen Einwohner?

Die neueste Ausgabe des „Magazins für politische Kultur“, Cicero, macht mit einer erstaunlichen Prognose von sich reden: „Hurra, wir wachsen!“, lautet die Titelgeschichte, „Das Demografie-Wunder: Deutschland auf dem Weg zum 100-Millionen-Volk.“ Doch nach sämtlichen heute verfügbaren Befunden ist diese Variante in etwa so wahrscheinlich, wie ein Champions-League-Titel für Hoffenheim im kommenden Jahr.

Zumal der Cicero-Beitrag seine Argumentation ausgerechnet auf dem Bevölkerungswachstum in der sachsen-anhaltinischen Stadt Halle aufbaut. In der Tat hat sich dort die Bevölkerungszahl zwischen 2009 und 2011 geringfügig erhöht. Aber das ist kein Beleg für Wachstum, sondern eher für das Gegenteil: Überall in den neuen Bundesländern gehen die Einwohnerzahlen massiv zurück, und dieser Effekt treibt die Menschen in die Städte. Denn in den ländlichen Gebieten dünnt sich allerorts die öffentliche Infrastruktur aus – von Schulen, über Arztpraxen bis zu Einkaufsmöglichkeiten. Die Städte wachsen also lediglich, weil ihr eigenes Umland immer unattraktiver wird. Halle ist neben Magdeburg die einzige kleine Wachstumsinsel in einem Ozean des Schrumpfens. In den zwei Jahren, in denen Halle 1.382 Einwohner hinzugewonnen hat, musste Sachsen-Anhalt einen Verlust von 42.939 Bewohnern vermelden. Wachstum sieht anders aus.

Menschen zieht es in die Städte – vor allem in die Metropolen
Die Menschen zieht es vor allem dorthin, wo sie Arbeit finden können. Neue Jobs in wissensintensiven Gesellschaften entstehen jedoch tendenziell in Zentren, die eine kritische Masse aus Unternehmen, Forschungseinrichtungen und talentierten Einwohnern vorweisen können. Ob kleinere Städte im Osten Deutschlands, wie Halle, Magdeburg, Jena, Rostock oder Schwerin von diesem Trend profitieren können, wenn sie erst einmal ihr eigenes Umland leergeräumt haben, ist jedoch ungewiss. Von den rund 650.000 Zuwanderern, die Deutschland unter dem Strich in den vergangenen zwei Jahren hinzugewonnen hat, ziehen bis dato die wenigsten in diese Städte, sondern in die großen Zentren, die ohnehin stabil sind oder wachsen.

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Bevölkerungsentwicklung von unterschiedlichen Faktoren abhängig

Bevölkerungsprognosen für Deutschland bei variierenden Geburtenraten, Wanderungssaldi und unterschiedlicher Lebenserwartung © Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung

Der Wanderungssaldo ist nur einer von drei Einflussfaktoren auf die Bevölkerungszahl. Die weiteren sind die Geburtenhäufigkeit je Frau und die Lebenserwartung. Nur wenn Deutschland in den kommenden Jahren in allen drei Bereichen ungewöhnlich gute Ergebnisse erzielt, fällt der Bevölkerungsrückgang mit prognostizierten sechs Millionen zwischen 2008 und 2060 einigermaßen gering aus. Durchschnittliche Entwicklung bei nur einem Faktor bedeutet hingegen deutliche Verluste. Wenn Frauen weiterhin so wenige Kinder bekommen wie seit rund 40 Jahren und sich Zuwanderung und der Anstieg der Lebenserwartung auf durchschnittlichem Niveau bewegen, schrumpft Deutschland zwischen 2008 und 2060 um rund 17 Millionen Einwohner.

Die Bemerkung der Cicero-Autoren, die Kinderzahl je Frau in Deutschland läge in Wirklichkeit gar nicht bei den immer zitierten 1,4, sondern zeige eine Erholung auf 1,55, führt ebenfalls nicht zu einer wachsenden Bevölkerung. Denn erstens wären dafür im Mittel mehr als 2,1 Kinder je Frau nötig, ein Wert den keine Industrienation der Welt (mit Ausnahme von Israel) erreicht und der für Deutschland außerhalb jeder Vorstellung liegt. Und zweitens handelt es sich bei den zitierten 1,55 Kindern um die Ziffer der so genannten „endgültigen Fertilitätsrate“. Diese beschreibt, wie viele Kinder die Frauen tatsächlich im Laufe ihres Lebens bekommen werden. Die endgültige Fertilitätsrate kann höher ausfallen, als die jährlich vermeldete „totale Fertilitätsrate“, nämlich dann, wenn Frauen die Geburt ihrer Kinder in ein höheres Alter aufschieben.

Tatsächliche, nicht potenziell Geborene sind relevant
Doch in Wirklichkeit weiß niemand, ob sich die Frauen, die sich vorerst zurückhalten, im höheren Alter tatsächlich noch für Kinder entscheiden werden. Die endgültige Fertilitätsrate der heutigen Frauen basiert also auf Vermutungen. Vor allem aber fehlen die aufgeschobenen Kinder de facto in der Bevölkerungsstatistik. Nur Kinder, die in einem bestimmten Jahr tatsächlich geboren wurden, können später auch zur Schule gehen und sich irgendwann einmal für die Gesellschaft nützlich machen. Spätere Geburten haben deshalb auf die demografische Entwicklung den gleichen Effekt wie weniger Geburten. Für die Frage, wie viele Kinder heute in Deutschland leben, taugt deshalb eher die totale Fertilitätsrate TFR. Sie liegt seit nahezu vier Jahrzehnten bei etwa 1,4 und zeigt keine Anzeichen der Veränderung.

Zuwanderung kann Rückgang abschwächen
Bleibt die Frage der Zuwanderung als große Unbekannte bei der künftigen Bevölkerungsentwicklung. Die Cicero-Autoren schreiben dabei munter die ungewöhnlich hohen Saldo-Zuwanderungszahlen der letzten beiden Jahre in die Zukunft fort. Diese beruhen bekanntermaßen auf der Krise in den südeuropäischen Ländern und auf den neuen Regelungen der Reisefreizügigkeit für osteuropäische EU-Staaten wie Bulgarien und Rumänien. Doch selbst diese hohen Zahlen heben den Mittelwert der Zuwanderung über die letzten zehn Jahre nicht einmal auf eine Ziffer von 200.000. So viele Zuwanderer aber wären nach der Bevölkerungsvorausschätzung des Statistischen Bundesamtes nötig, plus eine steigende Lebenserwartung, plus eine ab dem Jahr 2025 steigende Fertilitätsrate auf 1,6 Kinder je Frau, um den erwarteten Bevölkerungsverlust bis 2060 auf sechs Millionen zu begrenzen. Das heißt, selbst unter diesen optimistischsten Annahmen, die das Bundesamt zu bieten hat, wäre mit allem zu rechnen, aber nicht mit einem Anstieg der Einwohnerzahlen.

Selbstverständlich gibt es politische Stellschrauben, mit denen sich die Bevölkerungsentwicklung Deutschlands beeinflussen lässt. Die einzig wirkungsvolle wäre allerdings die Zuwanderungspolitik. Das Land bräuchte langfristig erheblich höhere Einwandererzahlen, als selbst in der beschriebenen Variante des Statistischen Bundesamtes aufgezeigt. Mindestens 400.000 Zuwanderer pro Jahr müssten es im Saldo langfristig schon sein. Das wären etwa doppelt so viele wie im langjährigen Mittel, wobei hier die großen und ungewöhnlichen Zuwanderwellen von Spätaussiedlern und Jugoslawienflüchtlingen zu Ende der 1980er Jahre mit berücksichtigt sind. Möglich wären solche Zuwanderungszahlen, denn das Angebot, etwa aus dem nordafrikanischen Raum, ist mehr als groß genug. Ob diese Zahlen politisch tragbar und sozioökonomisch zu verkraften sind, steht auf einem anderen Blatt.

Wanderungssaldo stark schwankend

Saldo aus Zu- und Abwanderungen in Deutschland © Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung

Wie viele Menschen nach Deutschland einwandern, hängt von vielen, vor allem ökonomischen Faktoren ab. In den vergangenen beiden Jahren war der Wanderungssaldo nach Deutschland ungewöhnlich hoch und lag weit über dem Durchschnitt von rund 108.000 zwischen 2003 und 2012. Zu Beginn und Mitte der 1990er Jahre sorgten nach der Wende Einwanderungswellen aus Ost- und Südosteuropa für besonders hohe Zugewinne. Der Durchschnitt der Nachwende-Zuwanderung liegt deshalb mit etwa 223.000 wesentlich höher. Das zeigt: Zuwanderung ist stark abhängig von Einzelereignissen. In den vergangenen Dekaden waren Wanderungsüberschüsse von 200.000 und mehr eher selten.

Die Autoren haben Recht, wenn sie schreiben, man solle die Zukunft nicht nur aus der Perspektive des demografischen Niedergangs betrachten. Aber mit Wachstumsperspektiven vor Augen, für die es derzeit nicht den geringsten Anzeichen gibt, laufen Politik und Gesellschaft Gefahr, die sehr viel wahrscheinlicheren Folgen der Alterung und des Schrumpfens aus den Augen zu verlieren. Und das wäre fatal.

Ohnehin hat das Statistische Bundesamt am 31. Mai einen Strich durch die Rechnung der beiden Cicero-Autoren gemacht. Es war abzusehen, dass die Einwohnerzahlen Deutschlands nach unten korrigiert wird. Denn viele Menschen in unserer Statistik existierten nur als Karteileichen.