Plädoyer

Rassismus verhindert Willkommenskultur in Deutschland

Deutschland braucht Einwanderer aus dem Ausland. Die werden kommen, wenn eine Willkommenskultur etabliert wird. Das wiederum wird verhindert von rassistischen Strukturen – in der Politik, in den Behörden und in der Gesellschaft. Dabei ist es höchste Zeit, umzudenken.

Sechs Millionen Arbeitskräfte werden dem deutschen Arbeitsmarkt nach Berechnungen von Arbeitsmarktexperten und der Bundesregierung im Jahr 2025 fehlen. Nach Ansicht von Eric Schweitzer, Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK), benötigt Deutschland jährlich 120.000 Fachkräfte. Bedingt durch den demografischen Wandel, suboptimaler Vereinbarkeit von Familie und Beruf und nicht zuletzt eines obsoleten deutschen Einwanderungsrechts, darf sich Deutschland auf einen Fachkräftemangel wie in den 1950er und -60er Jahren einstellen, wenn es jetzt nicht nachhaltig gegensteuert. Qualifizierte, ausländische Fachleute machen einen großen Bogen um die Bundesrepublik. Allein der Euro-Krise ist es zu verdanken, dass in letzter Zeit aus Spanien, Italien, Griechenland sowie Bulgarien und Rumänien als Armenhäuser der Europäischen Union (EU), potenzielle Arbeitskräfte nach Deutschland kommen.

Späte Einsicht der Bundesregierung
Wenige Tage vor dem zweiten Demografiegipfel der Bundesregierung am 14. Mai wurden einige, besorgniserregende Zahlen vorab veröffentlicht, die der Deutschland-Chef der Unternehmensberatung „McKinsey“, Frank Mattern, bereits Ende 2007 verkündete. Die Politik hatte also mindestens sechs Jahre Zeit gehabt, Fehlstellungen im Arbeits-, Demografie-, Einwanderungs- und Teilhabepolitik zu korrigieren. Erst vor wenigen Tagen wurde in einem Regierungspapier zugegeben, dass Deutschland sich „noch stärker als attraktiver Arbeits- und Lebensstandort profilieren und seine Bemühungen um eine Willkommenskultur verstärken“ müsse. Der stellvertretende CDU-Vorsitzende Armin Laschet sprach davon, dass Deutschland seine „kollektive Körpersprache“ gegenüber Migranten ändern müsse.

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Die Zeiten, in der ideologisch voreingenommene Politiker und Entscheidungsträger die Ratschläge von Arbeitsmarkt-, Migrations- und Wirtschaftsexperten ignorierten, ändern sich scheinbar, wenn auch nur langsam. Zumal sogar die Bundesregierung von „Bemühungen um eine Willkommenskultur“ spricht, dann ist es nicht fern, dass die Union Deutschland nicht nur als „Integrationsland“ sieht, wie sie es derzeit tut, sondern auch als „Einwanderungsland“ anerkennt.

Äußerungen von einzelnen Mandatsträgern, den Fachkräftemangel aus dem Inland oder nur aus der EU zu kompensieren, kann man getrost als unseriös und unrealistisch abtun. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass nur wenige der Arbeitslosen im Inland für die fehlenden Jobs qualifiziert werden können. Experten raten jedoch auf Einwanderung. Und zwar auch außerhalb der EU. Denn sobald die Euro-Krise beendet ist, werde die Arbeitsmigration wieder schnell zurückgehen und Deutschland wird wieder vor neuen Schwierigkeiten in der Arbeitsmarkt- und Demografiepolitik stehen.

Deutsch-Türkischer Braindrain
Bedauerlicherweise kommen die Rufe nach einer Willkommenskultur für einige Hochschulabsolventen zu spät. Denn qualifizierte Bildungsinländer mit ausländischen Wurzeln wandern schon seit einigen Jahren aus. 2011 sind etwa 33.00 Menschen (2010 waren es 36.000) mit türkischem Pass, in der Regel türkischstämmige Menschen mit Hochschulabschluss von Deutschland in die Türkei ausgewandert. Im gleichen Zeitraum wanderten dagegen etwa 31.000 (2010 waren es 30.000) Türken nach Deutschland ein. Dieser Trend setzt sich schon seit 2006 ungebrochen fort. Ob sich eine Exportnation so einen Talentschwund im „Wettbewerb der Köpfe“ langfristig leisten kann?

Ausgrenzung vs. Gleichberechtigte Teilhabe
Die Zahlen zeigen jedenfalls, dass Deutschland zumindest für türkischstämmige Akademiker ein Auswanderungsland – Wissenschaftler gebrauchen daher schon seit einiger Zeit den Terminus „Postmigrationsland“ – geworden ist.

Immer mehr Unternehmen in Deutschland ändern aufgrund von öffentlich gewordenen Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen in der Einstellungspraxis ihre Bewerbungsformalitäten. Es gibt Studien, die belegen, dass Menschen in Deutschland aufgrund ihres Namens, Herkunft, Aussehens oder Religion benachteiligt oder nicht eingestellt werden. Aus diesem Grund haben einige Unternehmen die anonymisierte Bewerbung eingeführt.

Wenn gleichberechtigte Teilhabe ernsthaft gewollt wird, dürfen sich staatlich/kommunale Einrichtungen, Wirtschaft und Gesellschaft der Heterogenität nicht verschließen. Nicht nur die Menschen persönlich, auch die Kommunen, Parteien, Behörden und Unternehmen müssen sich den Migranten öffnen und „Vielfalt als Chance“ im internationalen Wettbewerb begreifen. Das Bemühen und Umwerben deutscher Sicherheitsbehörden und -dienste um Menschen mit Migrationsbiografie ist seit Langem nicht zu übersehen und sollte ebenso beispielhaft für andere Bereiche sein. Daran könnten sich auch andere private wie öffentliche Einrichtungen orientieren. Beispielsweise gibt es seit dem Jahr 2006 die so genannte „Charta der Vielfalt“, die von den größten Arbeitgebern in Deutschland wie Daimler, BP, Deutsche Bank und der Deutschen Telekom mit dem Ziel der Förderung der Vielfalt in den Betrieben ins Leben gerufen wurde.

An den Zielen der „Charta der Vielfalt“, die gleichfalls von der Bundesintegrationsbeauftragten Böhmer (CDU) unterstützt wird, könnten sich auch weitere Arbeitgeber in Deutschland orientieren, sodass das Projekt auch auf Landes- und kommunaler Ebene übertragen wird, wo beispielsweise regionale und lokale Arbeitgeber und Behörden sich freiwillig – aber dennoch eigennützig – auf eine Quotenregelung einigen, in der sie z.B. einen bestimmten Teil ihrer Belegschaft aus Personen mit Einwanderungsgeschichte rekrutieren. Dieses Beispiel an positiver Diskriminierung findet in letzter Zeit vor allem bei den Frauen in Deutschland Anwendung und steigert die Teilnahme sowie Teilhabe von ihnen im Beruf. Klassische Einwanderungsländer profitieren seit Jahren von dieser Praxis.

Ausgrenzende Einstellungsmethoden auch im BMI?
Die Bewerber auf dem Jobmarkt dürfen nicht nach Herkunft, Religion oder Parteibuch, sondern müssen nach fachlicher und persönlicher Eignung beurteilt werden. Die jetzt bekannt gewordene Einstellungspraxis im Bundesministerium des Innern (BMI) zeigt ganz deutlich, wie es nicht geht. Nach Medienberichten („Die Welt“ und „Die Zeit“) würden im Ministerium „christliche“ Bewerber „entgegen der nach Fachqualifikation erstellten Bewerberrangliste“ bevorzugt behandelt. Die Tageszeitung „Die Welt“ spricht von „Bevorzugung von CDU-Mitgliedern, Stipendiaten der Konrad-Adenauer-Stiftung sowie von Bewerbern mit organisatorischer Ausrichtung an katholisch-konservative Organisationen“. Bewerberlisten seien auf „weltanschaulich genehme Kandidaten hin durchforstet und umsortiert“ worden. Behinderte Bewerber seien „erheblich benachteiligt“ und „bei Bewerbungsgesprächen manipulativen Fragestellungen ausgesetzt worden sein“. Das BMI und sein Zentralabteilungsleiter Paul Fietz (CDU), so zitiert „Die Zeit“ einen Mitarbeiter des Ministeriums, baue ein „konservativ-katholisches Juristennetzwerk“ auf und „dränge Andersdenkende an den Rand“. Es gebe Menschen in der BMI-Leitungsebene, die christlich-fundamentalistischen Kreisen anhingen und „nicht im islamischen Fundamentalismus, sondern im Islam allgemein eine Gefahr“ sähen. Stellt sich die Frage, ob solche Methoden sich nicht gegen die „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ richten.

Das Thema Islamhass, Rassismus, Menschenfeindlichkeit und Ausgrenzung, sei es strukturell, institutionell oder sozial, gehört nicht nur bei dem kommenden Integrationsgipfel oder auf der nächsten Islamkonferenz, falls es denn noch eine geben wird, auf die Tagesordnung. Eine gesamtgesellschaftliche, öffentliche Debatte ist längst hinfällig.

Aufgrund von Diskriminierung auf dem Arbeits- und Wohnmarkt, schlechter Teilhabechancen, miserabler Jobchancen für Hochqualifizierte, Alltagsrassismus aber auch einem fehlenden Zugehörigkeitsgefühl im Land scheinen viele Türk-Deutsche und Deutsch-Türken dem einstigen Wirtschaftswunderland den Rücken zu kehren, um sich auf ein neues Leben in der Heimat der Eltern und Großeltern aufzubauen. Bei den bekannt gewordenen mutmaßlichen Einstellungsmethoden des BMI dreht sich einem der Magen.

Möglicherweise auch aus diesen Gründen möchte die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Staatsministerin Maria Böhmer (CDU), die Themen Migranten im öffentlichen Dienst und Chancengleichheit von Migranten auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt auf dem kommenden, sechsten Integrationsgipfel, am 28. Mai, im Berliner Kanzleramt diskutieren.

Neben „Köpfe“ auch „Herzen“ gewinnen
Kontraproduktiv für unser Land wird es aber, wenn eine Lebenswirklichkeit in eine verkrampfte Erkenntnis- und Realitätsverweigerung mündet. Mit dieser Einstellung haben wir in unserer gemeinsamen, jüngeren Vergangenheit viel Zeit verloren, was dazu geführt hat, dass Deutschland sich nach Jahrzehnten als Einwanderungs- bzw. Integrationsland akzeptiert und erst im Jahr 2000 das auf Blut und Abstammung (Rasse) basierende deutsche Staatsangehörigkeitsrecht reformiert hat. Angesichts der Tatsache, dass über 16 Millionen Deutsche eine Migrationsbiografie haben, ist die kulturelle, ethnische und religiöse Vielfalt eine Lebenswirklichkeit in unserem Land. Für manche Traditionalisten, Wahlkämpfer, Ideologen und Teile der Elite ist diese Wahrheit vielleicht schwer zu akzeptieren. Sie ist aber Wirklichkeit. An dieser Wirklichkeit müssen die Menschen in diesem Land gemeinsam konstruktiv mitwirken, damit sie Deutschland nachhaltig erfolgreicher, wettbewerbsfähiger und lebens- und liebenswerter gestalten können.

Fränkische Alm oder weltoffener Staat?
Manche Parteien und Politiker täten deshalb gut daran, ihren Horizont zu erweitern und die Bundesrepublik nicht mit einer oberfränkischen Alm zu vertauschen. Dass es bestimmten Parteien, Politikern, Teilen der Elite, Zivilgesellschaft und Medien an der erwähnten „(Willkommens)Kultur“ mangelt, ist bedauerlich. Vor diesem Hintergrund muss die nach Generationen noch immer so starke emotionale Verbundenheit mit den Herkunftsländern (der Eltern) begriffen werden. Teile der Parteien und weiterer staatlicher und gesellschaftlicher Akteure in Deutschland schaffen es einfach nicht, Menschen mit Einwanderungsgeschichte emotional anzusprechen. Im Gegenteil: Mit immer wiederkehrenden, teils initiierten Medienkampagnen und inflationären Integrationsdebatten verdeutlichen diese Zirkel: „Ihr gehört nicht zu uns!“ Langfristig könnte dies für das sich wandelnde Deutschland kontraproduktive Folgen mit sich bringen. Generationen von Menschen könnten verprellt werden. Deutschland verlöre damit an Kraft.

Eines sollten die verantwortlichen Politiker und Teile der Eliten dieses Landes beachten: Loyalität lässt sich nicht durch Ausgrenzung steigern. Einen „gesunden Patriotismus“ bekommt man nicht dadurch, qualifizierte Migranten den Weg in die Politik, Medien, Wirtschaft und vor allem in den öffentlichen Dienst zu versperren. Loyalität und ein gesundes Maß an Patriotismus lassen sich nicht durch die Verwechslung von Teilhabe- mit Sicherheitspolitik erreichen. Ein Umdenken in den Köpfen der Sozialingenieure und Gesellschaftsarchitekten täte Deutschland daher gut.

Studien belegen Rassismus
Bei vielen Migranten herrscht Ungewissheit, ob sie noch in diesem Land wirklich willkommen sind. Zahlreiche Hetzseiten im Internet, die immer dubioser werdende Aufklärung um den so genannten „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) oder jüngst veröffentlichte Studien weisen auf eine fehlende Akzeptanz von Heterogenität hin. Erschreckend sind u.a. die Ergebnisse der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in der Untersuchung „Die Mitte im Umbruch. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2012“. Eine weitere Studie, die Sorgen bereiten sollte, ist die kürzlich veröffentlichte Bertelsmann-Studie, wonach der Islam in Deutschland immer mehr als Bedrohung angesehen wird. Diese Studien müssen auch vor dem Hintergrund der „Sarrazin-Debatte“ in Deutschland betrachtet werden. Der Uno-Antirassismusausschuss „CERD“ hat Deutschland vor einigen Wochen gerügt, weil die rassistischen Äußerungen von Sarrazin – kaum nachzuvollziehen – von der Staatsanwaltschaft als „freie Meinungsäußerung“ gewertet worden waren. Deutschland hat demnach gegen das Uno-Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung verstoßen und bekam Mitte April 90 Tage Zeit für eine Stellungnahme.

NSU wird zum Debakel
Der Prozess zur Aufklärung der mutmaßlichen Verbrechen des sogenannten „Nationalsozialistischen Untergrunds“, kurz „NSU“ hat sehr deutlich vor Augen geführt, wie weitreichend die Auswirkungen von rechter und rassistischer Gewalt sein können.

Einige Behördenvertreter haben im Umgang mit Spuren, die zur NSU hätten führen können, gelinde gesagt, „versagt“. Es hätte viel Blutfließen verhindert werden können, wenn Polizei, Kriminalamt und Verfassungsschutz auch rechte Spuren verfolgt hätten. Auch das „Verschwinden“ von Beweisen und Akten wirft Fragen auf. Das Oberlandesgericht München hat ebenso dazu beigetragen, dass Irritationen aufkamen. Nun wird auch noch bekannt, was ohnehin viele erwartet haben: „Vertuscht, vernichtet, belogen und betrogen“, lautet eine Schlagzeile. Und das Nachrichten- und Debattenportal „Migazin“ lässt nach einem Bericht des ARD-Magazins „Report Mainz“ unter der Überschrift „Behörden und Politik wussten seit 2000 von den NSU-Terroristen“ verlauten, dass das „Neonazi-Trio bereits im Jahre 2000 von Verfassungsschützern als Terrorgruppe eingestuft“ worden sei.

Vertrauensverlust steigt
Das skandalöse Verhalten einiger Behördenvertreter führt zu einem großen Schaden und Vertrauensverlust. Der rechtsstaatliche Grundsatz: „Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit“ müsste auch für die radikalen Herrschaften in den eigenen Reihen gelten.

33 Jahre nach dem Bombenanschlag auf das Oktoberfest in München, 20 Jahre nach den schlimmen Ereignissen von Solingen, Mölln und Hoyerswerda sowie einer unbeschreiblichen Mordserie, die von einem „NSU-Trio“ begangen worden sein soll, können wir nicht gerade davon sprechen, dass wir keine „Fehlstellungen“ in Teilen unserer Institutionen hätten.

Thema Rassismus muss auf die Agenda
Die erwähnten menschenverachtenden Verbrechen sind auch vor dem Hintergrund des nach der Wende entstandenen Nationalismus und der seit Jahren zunehmend rassistisch geführten Migrations- und Integrationsdebatten zu betrachten. Die Zahl rechter Straftaten ist 2012 gegenüber dem Vorjahr nochmals gestiegen. Nach vorläufigen Zahlen des Innenministeriums zeichne sich bei den politisch rechts motivierten Straftaten ein Anstieg um vier Prozent auf rund 17.600 ab. Davon sind mindestens 840 Gewalttaten. Zudem ist seit einiger Zeit zu beobachten, dass immer mehr Menschen aus dem linken politischen Spektrum sich auf die Seite der Rassisten gesellen. Politik, Staat und Zivilgesellschaft sind gefordert, neue Strategien gegen jede Form von Rassismus, Extremismus, Intoleranz und Menschenfeindlichkeit zu initiieren. Das Thema „Rassismus“ in all seinen facettenreichen Formen muss endlich auf die Agenda gesetzt werden.