Buchtipp zum Wochenende

Deutschland neu erfinden. Impulse für die Neuausrichtung sozialdemokratischer Integrationspolitik

In diesen Tagen feiert die SPD ihren 150. Geburtstag. Ihre Integrationspolitik ist da vergleichsweise jung und allenfalls wenige Jahrzehnte alt. Da kommt das Buch von Daniela Kaya wie gerufen. Sie gibt Antworten auf oft gestellte Fragen und Impulse für die Zukunft. Das MiGAZIN bringt Auszüge aus dem Buch – exklusiv.

„Der Sozialdemokratie ging es in ihrer Geschichte immer darum, neben den rechtlichen auch die materiellen Voraussetzungen der Freiheit, neben der Gleichheit des Rechts auch die Gleichheit der Teilhabe und der Lebenschancen, also soziale Gerechtigkeit, zu erkämpfen.“ (Hamburger Programm: 16)

Einführung
„Der Ansatz für Multikulti ist gescheitert, absolut gescheitert!“, erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel im Oktober 2010. Fünf Jahre nach dem rot-grünen Zuwanderungsgesetz. Es symbolisiert einen Paradigmenwechsel in der deutschen Politik und die Abkehr vom deutschen Gastarbeiter-Modell. „Das deutsche Gastarbeiter-Modell ist gescheitert, absolut gescheitert“, kann Angela Merkel also nur gemeint haben. Denn eine Politik des Multikulturalismus hat es bis dato in Deutschland nicht gegeben. Dennoch ist das Narrativ des gescheiterten Multikulturalismus ein wiederkehrendes Motiv in der politischen Auseinandersetzung. Heute finden wir eine Mischform von multikultureller und integrationsgeleiteter Politik in Deutschland vor – so wie in vielen anderen Einwanderungsgesellschaften.

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Das Merkel-Zitat macht deutlich: Es geht um die Deutungshoheit im integrationspolitischen Diskurs. Um sie zu erlangen und (neue) Wählermilieus (wieder) zu erreichen, ist es für die Sozialdemokratie unumgänglich, ihre Grundwerte durchzubuchstabieren. In diesem Buch wird daher der Vorschlag unterbreitet, Anerkennung und Teilhabe als Prinzipien sozialdemokratischer Integrationspolitik auszuwählen. Mit Politiken der Anerkennung und Teilhabe kann die Sozialdemokratie das Versprechen der sozialen Gerechtigkeit in der Einwanderungsgesellschaft erneuern. Im ersten Teil des Buches wird der Vorschlag erarbeitet, wie es der Sozialdemokratie gelingen kann, Anerkennung und Teilhabe normativ politisch aufzuladen. Im zweiten Teil werden exemplarisch Politiken unter den Vorzeichen von Anerkennung und Teilhabe vorgestellt.

Leitgedanken sozialdemokratischer Politik: Anerkennung und Teilhabe
Sozialdemokratische Integrationspolitik, die sich an den eigenen Grundwerten der Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität orientiert, muss ein kohärentes Konzept der sozialen Gerechtigkeit im Sinne von Lebenschancengleichheit entwickeln. Ein Blick in die soziologische und politikwissenschaftliche Ideengeschichte legt nahe, Anerkennung und Teilhabe als politisch zu definierende Größen zu wählen und sie gleichzeitig zum Gradmesser integrationspolitischen Handelns auszuwählen.

Dem Konzept dieses Buches liegt die Annahme zugrunde, dass die politische, rechtliche und gesellschaftliche Anerkennung heterogener Identitäten aller Gesellschaftsmitglieder als Gleiche in der deutschen Einwanderungsgesellschaft Voraussetzung für die Schaffung von Teilhabegerechtigkeit ist. In diesem Sinne hat Anerkennung weitgehende politische und rechtliche Implikationen. Sie werden anhand der Schwerpunktthemen in diesem Buch erörtert. Ausgehend von dem Postulat gleicher Chancen der Teilhabe an allen materiellen wie immateriellen Ressourcen müssen sich integrationspolitische Maßnahmen daran messen lassen, inwiefern sie zu einer tatsächlichen Chancengerechtigkeit für Menschen mit und ohne Migrationsbiografie beitragen. Teilhabe sollte als Zielvorstellung also ungeachtet von Gruppenzugehörigkeiten, Geschlecht, Alter oder anderen Merkmalen auf die Herstellung von Lebenschancengleichheit ausgerichtet sein.

In diesem Buch werden ausgewählte wissenschaftliche Diskurse und Erkenntnisse komprimiert vorgestellt. Beiträge aus den Perspektiven der Zivilgesellschaft und der Politik folgen ihnen. Daraus ergibt sich eine Zusammenschau von Expertisen sowie Impulsen für politische Instrumente und Strategien.

Die doppelte Staatsbürgerschaft – kein alter Hut
Im Zuge von Globalisierung, Transnationalisierung und Europäisierung sowie der Heterogenisierung moderner Gesellschaften gerät das klassische Modell der nationalen Staatsbürgerschaft zunehmend unter Druck.

Die Hauptautorin Daniela Kaya, geb. 1983, ist als Referentin für Innenpolitik im Deutschen Bundestag tätig. Sie hat Rechts- und Sozialwissenschaften in Berlin, Istanbul und Erfurt studiert. Daniela Kaya ist gesellschaftspolitisch engagiert, u.a. im Forum der Brückenbauer– ein bundesweites, multiethnisches und -konfessionelles Netzwerk von Nachwuchsführungskräften aus Migrantenverbänden, die sich in Kommunen, auf Länder- oder Bundesebene für Integration engagieren. 2011 erschien ihr Buch „Die neuen Bildungsaufsteigerinnen: Aufstiegsorientierte Postmigrantinnen in der Einwanderungsgesellschaft“.

Staaten sind in der Ausgestaltung ihres Staatsbürgerschaftsrechts souverän. Da sie den Erwerb jeweils unterschiedlich am Abstammungs- (ius sanguini) und/oder am Geburtsprinzip (ius soli) ausrichten, hat es immer schon Fälle von Mehrstaatigkeit gegeben (vgl. auch SVR 2011: 72). Der Umgang mit Mehrstaatigkeit ist ein wichtiger rechtspolitischer Baustein. Er hat einen hohen symbolpolitischen Charakter für das Selbstverständnis einer Einwanderungsgesellschaft. Mit der Weigerung, die doppelte Staatsbürgerschaft zu akzeptieren, bleibt Deutschland normativ an der Tradition der ethnischen Nation hängen. Inoffiziell wird die abgelehnte doppelte Staatsbürgerschaft jedoch schon lange akzeptiert. In der Praxis zeigt sich eine ansteigende Hinnahme von doppelten und mehrfachen Staatsangehörigkeiten durch den deutschen Staat. Mehr als die Hälfte aller Einbürgerungen erfolgt unter Hinnahme der Mehrstaatigkeit (vgl. Niesten-Dietrich 2012; SVR 2011: 72; StatBA 2009). Zugleich hat sich eine Asymmetrie zwischen der Regel-Hinnahme und den Ausnahmefällen etabliert.

Demzufolge ist die politische Behauptung, die doppelte Staatsbürgerschaft gäbe es nur in Einzelfällen, falsch. Tatsächlich lässt sich international wie national die Tendenz zur Hinnahme von Mehrstaatigkeit beobachten (vgl. Niesten-Dietrich 2012; Kluth 2009). Anders als in früheren völkerrechtlichen Vereinbarungen ist die Verhinderung von Mehrstaatigkeit im geltenden Abkommen über die Staatsangehörigkeit nicht mehr als Ziel festgeschrieben. Dieses Abkommen hat auch Deutschland ratifiziert. Im Vorgängerabkommen von 1963 war noch die Vermeidung und Verringerung von Mehrstaatigkeit erklärtes Ziel. Demgegenüber gibt das aktuell geltende Abkommen von 1997 den Vertragsstaaten bei im Inland geborenen Kindern von Ausländern und binationalen Ehepaaren sogar vor, Mehrstaatigkeit hinzunehmen. Dagegen hat Deutschland einen entsprechenden Vorbehalt eingelegt. „Dies ändert aber nichts an der Tatsache, dass auf europäischer Ebene Mehrstaatigkeit den ,Übel-Status’ mehr und mehr verliert. (…) Bemerkenswert ist, dass der Gesetzgeber bei der Einbürgerung von Unionsbürgern davon ausgeht, dass die Hinnahme der Mehrstaatigkeit die Integration fördere.“ (ebd. 91). Diese Auslegung steht der sonst propagierten Haltung, dass die doppelte Staatsbürgerschaft Integration behindere, diametral entgegen.

Für die Öffnung des Staatsbürgerschaftsrechts, also für die Hinnahme von Mehrstaatigkeit und für die Abschaffung der Optionspflicht, sprechen viele gute Gründe. Normativ lassen sich von den Prinzipien der Teilhabe und Anerkennung naheliegend die gleichberechtigte Teilhabe an der Gestaltung des Gesellschaftssystems und die Anerkennung der faktischen Einwanderungsgesellschaft anführen. Erst mit der rechtlichen Gleichstellung von Minderheiten und Mehrheit einer Gesellschaft kann von realen Möglichkeiten zur Einwirkung auf das Rechtssystem gesprochen werden. Allein Staatsangehörige sind zu hundert Prozent in die deutsche Rechtsordnung integriert und besitzen über das Wahlrecht Einfluss auf die Gesetzgebung. Politisch-rechtliche Teilhabe ist zwingend mit der Staatsangehörigkeit verbunden.

Das allgemeine Wahlrecht ist aus politischer und demokratischer Perspektive der wichtigste Rechtszuwachs für eine Person in einer Einwanderungsgesellschaft. Schließlich ist das politische System, so Thränhardt, „erst dann voll funktionsfähig, wenn die Identität zwischen ständiger Bevölkerung und Staatsbürgerschaft wiederhergestellt ist“ (ders. 2008: 14). Hinzu kommen ein unverwirkbares Aufenthalts- und Freizügigkeitsrecht, der vollständige Zugang zum Beamtenstand, der Schutzbereich der sogenannten Deutschengrundrechte, die Unionsbürgerschaft sowie der Anspruch auf diplomatischen Schutz im Ausland. Für die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaften im Regelfall sprechen zudem der Abbau des enormen Verwaltungsaufwandes der Optionspflicht und die vermutlich enorm steigende Einbürgerungsbereitschaft. Das natürlich wachsende Zugehörigkeitsgefühl der heranwachsenden Jugendlichen mit der „Staatsangehörigkeit auf Zeit“ ist gesellschaftspolitisch nicht zu unterschätzen. Die Optionsregelung stellt die in Deutschland geborenen Jugendlichen vor eine enorme emotionale Aufgabe. Sie fühlen sich ungleich behandelt, nicht als natürlicher Teil der Gesellschaft anerkannt. Sie müssen sich zwischen der Staatsbürgerschaft ihrer Eltern und der ihres Geburtslandes entscheiden und sind mit dem identitären Moment von Staatsbürgerschaft unmittelbar in ihrer Jugend konfrontiert. Insofern würde die doppelte Staatsbürgerschaft einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zu einem rechtlichen und symbolpolitischen Anerkennungsverhältnis zwischen dem Einwanderungsland Deutschland und seinen heranwachsenden Staatsbürgern leisten.

Allerdings lehren die Erfahrungen aus den Debatten der Jahre 1998/1999, dass diese exemplarisch vorgestellten, rationalen und faktenbasierten Gründe im politischen Diskurs nicht ausreichen. Vielmehr bedarf es einer narrativen Begleitung für die doppelte Staatsbürgerschaft. Schließlich geht es um die Neudefinition des Gemeinwesens. So dreht sich der gesellschaftspolitische Diskurs bei der doppelten Staatsbürgerschaft um grundlegende Vorstellungen und Ideen ethnischer und politischer Grenzziehungen durch Staatsbürgerschaft und Einbürgerung (vgl. Naujoks: 387). Insofern scheinen die Optionspflicht und die Verhinderung der doppelten Staatsbürgerschaft die letzte Bastion auf dem Weg zu einem modernen Staatsbürgerschaftsrecht im Einwanderungsland Deutschland zu sein. Als Rechtsinstitut geht es bei der doppelten Staatsbürgerschaft um die elementare Definition des Staates und der Gesellschaft selbst. Man könnte auch sagen, die Definition der nationalen Identität steht auf dem Spiel (vgl. auch Hagedorn 2001: 203 ff.). Demgemäß geht es folglich um Fragen der gesellschaftlichen Teilhabe und Ausgrenzung, die eng mit Macht- und Identitätsverhältnissen der Mehrheitsgesellschaft verwoben sind (vgl. Naujoks: 387). Mit einer Reform zugunsten der doppelten Staatsbürgerschaft wäre das Konzept der homogenen Abstammungsnation rechtspolitisch endgültig gebrochen.
(…)
Die SPD fordert schon seit Langem die Hinnahme der doppelten Staatsbürgerschaft und die Abschaffung der Optionspflicht. 100 Sie ist altbekannter und fester Bestandteil des sozialdemokratischen Repertoires im Ausländerrecht. Nichtsdestotrotz ist es der SPD bisher nicht hinreichend gelungen, diese Position narrativ zu begleiten. Um die Deutungshoheit im Diskurs um die doppelte Staatsbürgerschaft zu erlangen, lässt sich für die SPD schlussfolgern:

1. Zunächst muss der Diskursraum geöffnet werden. Dies kann über die Offenlegung und Dekonstruktion der impliziten Fremdheitsbilder der Gegner der doppelten Staatsbürgerschaft erreicht werden.

2. Nur so kann eine konsequente Diskursstrategie der Gleichheit, die die politische Gemeinschaft anstelle der Abstammungsgemeinschaft propagiert, Platz im Diskursrahmen einnehmen.

3. Zur diskursiven Legitimation der doppelten Staatsbürgerschaft muss die SPD auf eine Narration zurückgreifen bzw. eine solche entwickeln, die auch auf die dominanten und irrationalen Aspekte in der Debatte reagiert. Eine solche positive Ausdeutung der deutschen Einwanderungsgesellschaft sollte den Rahmen abstecken, in dem Menschen mit und ohne doppelte Staatsbürgerschaft identitäre Orientierung finden können. Kurzum, eine Narration, die in die „Köpfe und Herzen“ geht.