Nachtrag zu Ali konkret

Migrationshintergrund hin oder her

Die Solidarität unter Migrant/innen verdeckte lange, wo trotz gemeinsamer Interessen (wie Kampf gegen Ausgrenzung, für gesellschaftliche Pluralität) Unterschiede liegen. Nun zwingt der Wahlkampf zu Zuspitzungen – mögliche politische Konfliktlinien werden sichtbarer. Und das ist gut so!

Die öffentlichen Debatten über Themen wie Islam, Migration und Integration der vergangenen Jahre wurden sehr polarisiert geführt. Es schien klar zu sein, wo vermeintliche politische Gegner/innen zu verorten waren. Diese Solidarisierung unter vielen Menschen mit Migrationshintergrund (MH) – unter anderem, um gemeinsam die in Teilen als rassistisch wahrgenommenen öffentlichen Debatten zu „ertragen“ – verdeckte aber, wo trotz der Gemeinsamkeiten die Unterschiede der eigenen Interessen liegen. Nun zwingt der Bundestagswahlkampf zu Zuspitzungen – mögliche politische Konfliktlinien werden dadurch sichtbarer. Und das ist auch gut so!

Unabhängig davon, wie man zu Alis inhaltlichen Aussagen steht, liegt an einer Stelle ein gewisser Widerspruch: Er fordert eine linke-gesellschaftskritische Politik von Mitgliedern und Vertreter/innen einer wertkonservativen Partei. Mit anderen Worten: Seine Erwartungen an die (Integrations-)Politik der sogenannten CDU-MHs und die Maßstäbe, mit denen diese gemessen wird, sind insofern ambivalent, als dass sie im Falle Alis aus einem linken Politik- und Gesellschaftsverständnis heraus motiviert sind und nun an konservative Politiker/innen herangetragen werden.

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Klar wird die Politik anderer Parteien immer durch die „Brille“ der eigenen politischen Position bewertet. In diesem Fall ist die Frage aber, ob der MH von Parteivertreter/innen dafür ausreicht, sie politisch zu verorten und von ihnen eine bestimmte politische Agenda zu erwarten, oder ob nicht vielmehr zu erwarten ist, dass MHs sich immer auch an den Gesellschaftsanalysen und Gesamtzielen ihrer Parteien orientieren (müssen) – warum sonst das Engagement in gerade dieser Partei?

Forderungen nach stärker durch staatliche und politische Eingriffe gesteuerten strukturellen Veränderungen, um mehr gesellschaftliche und soziale Durchlässigkeit, Anerkennung und Teilhabe für MHs (und auch nicht-MHs) zu erreichen – dazugehören Maßnahmen mit Blick auf Arbeitsmarkt, Sozialpolitik, Bildungs- und Kulturbereich, aber auch die Frage, wer zur „deutschen Gesellschaft“ gehört und entsprechend die Staatsbürgerschaft und das Wahlrecht bekommt – sind im Kern Forderungen, die sich auf eine links-kritische Gesellschaftsanalyse stützen und damit in einem gewissen Gegensatz zur konservativen Interpretation von Politik und Gesellschaft stehen: Während beispielsweise erstere soziale Ungleichheiten und Diskriminierungen in erster Linie als durch gesellschaftliche und politische Umstände hervorgerufen sehen (die es zu ändern gilt), wird im konservativen Spektrum vor zu viel staatlicher Bevormundung und Reglementierung gewarnt und stärker individuelle Verantwortung, Anstrengung und mehr Engagement der Zivilgesellschaft eingefordert. Auch wenn diese Linien nicht deckungsgleich sind mit den parteipolitischen Linien, gibt es eine gewisse Schwerpunktsetzung in den jeweiligen Programmen.

Vielleicht sollte in der politischen Bewertung stärker unterschieden werden: zwischen der repräsentativen Bedeutung und der Möglichkeit zur Identifikation, die Parteivertreter/innen mit MH haben und bieten, und der Frage, welche Erwartungen man von ihrer konkreten Politik hat? Beispielsweise zeigen die Erfahrungen, dass eine Frau nicht zwangsläufig eine „bessere“ Gleichstellungspolitik macht (was auch immer darunter zu verstehen ist), dennoch steht weitgehend außer Frage, dass Frauenquoten wichtig sind.

Der Wahlkampf bietet die Chance zu einer Politisierung der Integrationsdebatten innerhalb der sogenannten MHs. Einer fairen und sachlichen Auseinandersetzung und Diskussion der eigenen Konzepte sollte – und kann – man nicht aus dem Weg gehen. Was folgt daraus? Parteien aufgrund einzelner Vertreter/innen zu bewerten, kann zu Missverständnissen und schiefen Erwartungen führen – abgesehen davon, dass dadurch auch eine politische Debatte zu sehr auf Einzelpersonen bezogen wird, statt die Parteien insgesamt im Blick zu behalten. Stattdessen sollte das Handeln der Einzelnen stärker im Zusammenhang mit den politischen Konzepten ihrer Parteien bewertet werden: Welche gesellschaftlichen Realitäten werden in den jeweiligen Programmen als problematisch angesehen? Wie werden diese Probleme erklärt, welche Ursachen werden gesehen? Welche politischen Gegenmaßnahmen werden propagiert? Welche politischen Maßnahmen sollten der eigenen Meinung nach verfolgt werden?