Paranoia oder nachvollziehbar?

Die Reaktionen der Türken im Lichte der NSU und der Brandopfer

Seit Bekanntwerden der NSU gehen Schreckensmeldungen durch die Republik: Ermittlungsskandale, Wohnungsbrände mit türkeistämmigen Opfern, Ausschluss türkischer Medien vom NSU-Prozess. Das Vertrauen der Türkeistämmigen bröckelt, die Vorwürfe werden schärfer.

Das türkische Außenministerium hat sich wieder gemeldet und Worte gen Berlin gerichtet. Die Zunahme von Bränden, von denen türkischstämmige Bürger betroffen sind, sei besorgniserregend, heißt es aus Ankara. Hintergrund erneuter Kritik aus der türkischen Hauptstadt ist ein Wohnungsbrand vom vergangenen Samstagabend. Bei dem Feuer im Kölner Stadtteil Höhenberg kamen zwei Menschen ums Leben. Wenn auch nicht die Opfer, so stammen doch viele Hausbewohner aus der Türkei.

Türkische Politiker instrumentalisieren für ihre Zwecke gerne mal Vorfälle in Deutschland, bei dem Menschen türkischer Herkunft zum Opfer werden – so auch den Brand vor drei Wochen in Backnang. Bei dem Feuer, das in einem Haus ausbrach, war eine 40-jährige Mutter türkischer Herkunft und sieben ihrer Kinder im Alter von sechs Monaten bis 16 Jahren ums Leben gekommen.

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Nach Backnang
„Die deutschen Behörden müssen so ermitteln, dass kein Fragezeichen mehr übrig bleibt“, forderte der Vizepremier Bekir Bozdağ, der zur Trauerfeier angereist war. „Wir hoffen, dass es kein rassistischer Anschlag war. Wir werden das genau verfolgen“, erklärte der für Auslandstürken zuständige Politiker. Er gab zu verstehen, dass sich seine Regierung auch für die „Landleute“ in Deutschland verantwortlich fühle. Auf Anordnung aus Ankara wurden daher die in die Türkei überführten acht Todesopfer aus Backnang dort noch einmal obduziert.

Nach dem tragischen Vorfall in Backnang machten viele Deutsch-Türken ihren Ärger Luft in sozialen Netzwerken. Facebook-Aktivistin Ayşe beispielsweise in der Form eines persönlichen Shitstorms: „Dass diese Idioten nichts aus den NSU-Morden lernen konnten, liegt daran, dass NSU schon fast erfolgreich verdrängt wurde aus dem öffentlichen Gedächtnis.“ Ihr fielen „nur noch Flüche ein“, postete die türkischstämmige Enddreißigerin.

Der Brand in Ludwigshafen
Mit „diese Idioten“ meint Ayşe deutsche Beamte. Wütend wurde sie wie viele Deutsch-Türken, weil der Polizeisprecher, kaum dass die Flammen in dem Haus gelöscht waren, öffentlich erklärt hatte, er könne einen fremdenfeindlichen Anschlag so gut wie ausschließen. Kritik über diese Äußerung kam auch von Organisationen türkeistämmiger Migranten. Bekir Alboğa von Ditib, dem größten islamischen Dachverband in Deutschland, formulierte seinen Missmut diplomatisch: „Die türkischen Mitbürger und die Angehörigen der Opfer würden sich wünschen, dass die Polizei sagt: ‚Wir ermitteln in alle Richtungen‘“.

Für Aufsehen hatte auch der Brand in Ludwigshafen gesorgt, bei dem im Februar 2008 vier Frauen und fünf Kindern türkischer Herkunft umkamen. Die türkischen Zeitungen hatten auf ihre Weise das Feuer geschürt: Sie stellten die Tragödie von Ludwigshafen als heimtückischen Mordanschlag dar. Damals rief der türkische Ministerpräsident die türkischen Medien zur Mäßigung auf und schickte Brandermittler zum Unglücksort, die die deutschen Behörden bei der Aufklärung unterstützen sollten. Als die Staatsanwaltschaft im Juli 2008 die Einstellung der Ermittlungen bekannt gab und Brandstiftung ausschloss, wurde dieses Ergebnis in der Stadt weitgehend akzeptiert.

Nach Mölln und Solingen jetzt der NSU
Wenn Deutsch-Türken hinter einem Brand, bei dem Türkischstämmige umkamen, sogleich Rechtsradikale als Täter ausgemachten, wurde es in der Vergangenheit durchaus als Überreaktion eingestuft. Nachvollziehbar wird das gesteigerte Misstrauen der türkeistämmigen Bürger heute jedoch, wenn vor Augen geführt wird, was da alles schief gegangen ist bei den Ermittlungen zu den Morden der rechtsradikalen Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU). Die zwischen den Jahren 2000 und 2006 verübten Morde waren von den Ermittlern im kriminellen Milieu verortet worden. Erst im November 2011 kam zufällig heraus, wer tatsächlich für den Tod der zehn Menschen, von denen acht aus der Türkei stammten, verantwortlich ist: Neo-Nationalsozialisten aus Zwickau. Dass Hinweisen auf rassistische Motive gar nicht nachgegangen wurde, erfuhr die Öffentlichkeit nach und nach – ebenso, dass Akten vernichtet wurden.

Im kollektiven Gedächtnis der türkischen Community sind jetzt also nicht nur „Mölln“ und „Solingen“, sondern nunmehr auch die NSU-Morde. Zur Erinnerung: „Mölln“ steht für das Feuer, das Rechtsradikale im November 1992 in ein Haus legten, in dem zwei türkische Familien lebten; rechtsextremen Hintergrund hatte auch der Brandanschlag auf ein Wohnhaus in Solingen, bei dem im Mai 1993 fünf türkischstämmige Menschen starben.

Ermittlungsskandale
Und vor gerade mal 16 Monaten mussten Ermittlungsbehörden bekannt geben, dass hinter der jahrelang von Behörden und deutschsprachigen Medien als „Döner-Morde“ bezeichneten Taten neo-nationalsozialistische Täter steckten. Wie unsensibel ermittelnde Beamte mit den Angehörigen der Toten umgegangen waren, erfuhr die Öffentlichkeit von Semiya Şimşek, der Tochter des Blumenhändlers, der im Jahr 2000 das erste Opfer der Neonazi-Trios wurde. Sie sprach im Februar 2012 in Berlin auf der Gedenkveranstaltung für die NSU-Opfer, die auch im Fernsehen übertragen wurde.

Inzwischen hat die 26-Jährige ein Buch geschrieben. In „Schmerzliche Heimat“ erzählt Şimşek nicht nur vom Leben ihres Vaters, sondern beschreibt auch die Vorgehensweise der Polizei und erhebt Vorwürfe gegen den deutschen Staat und die Politik. Bei dem Prozess gegen Beate Zschäpe, der einzigen Überlebenden des Trios, tritt Şimşek als Nebenklägerin auf und will ihre Fragen an die Angeklagte selber stellen – auch weil sie der Staatsanwaltschaft nicht traue, wie sie vergangene Woche bei der Vorstellung ihres Buches erklärte. Şimsek sprach davon, wie sehr sie von den deutschen Behörden enttäuscht sei. Nicht nur mehr „Zuwendung für die Opfer“ und mehr Mühen bei der Aufklärung der Morde habe sie erwartet, sondern auch, dass sie direkt über den Stand der Ermittlungen informiert werde.

Breite Skepsis
Die Deutsch-Türken reagieren bei Vorfällen mit Türkeistämmigen als Opfer noch empfindlicher als früher. Steckt da nicht doch ein rassistisches Motiv dahinter? Und auch in Ludwigshafen wurde Ende Dezember 2011 noch einmal hitzig darüber diskutiert, ob der Brand drei Jahre zuvor nicht doch auf das Konto von Neonazis gehen konnte. Die Mischung aus Misstrauen und Verschwörungstheorien und die Erfahrung tatsächlicher Pannen und falsche Verdächtigungen haben zu einer Verschlechterung des Klimas im Zusammenleben der deutschstämmigen Bürger und der aus der Türkei stammenden Migranten geführt.

Es sorgt nicht für das Vertrauen türkischer Bürger in den deutschen Staat, wenn vor dem Abschluss von Ermittlungen zur Ursache von Bränden, bei denen türkischstämmige zu Tode kommen, fremdenfeindliche Motive ausgeschlossen werden. Dass solche Fehler passieren, hat – anders als Facebook-Aktivistin Ayşe meint, nicht damit zu tun, dass die NSU-Morde aus dem öffentlichen Gedächtnis verschwunden sind. Ursache scheint zu sein, dass es an Sensibilität für eine Bevölkerungsgruppe mangelt.

Regel oder Taktgefühl?
Anders lassen sich die Nachrichten aus München nicht erklären: Erst teilte der Vorsitzende des Staatsschutzsenats des Oberlandesgerichts München mit, dass dem türkischen Botschafter und dem Menschenrechtsbeobachter des türkischen Parlaments während des Prozesses um die NSU-Morde keine festen Plätze im Gerichtssaal zur Verfügung stünden. Der Platz im Gerichtssaal sei beengt, Ausnahmen würden nicht gemacht, es stehe den beiden politischen Würdenträgern frei, sich als Teil der allgemeinen Öffentlichkeit zum Gericht zu begeben. Um Platzreservierungen für den Prozess, der am 17. April beginnt, hatte der NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags gebeten.

Kurze Zeit später wurde die Öffentlichkeit mit einer weiteren Mitteilung aus der Pressestelle des Gerichts konfrontiert, nämlich, dass die Plätze für Journalisten vergeben wurden – und zwar nach dem Prinzip „Wert zu erst kommt, mahlt zuerst“. Mit dem Ergebnis, dass unter den akkreditierten Reportern keine Vertreter türkischsprachiger Medien dabei sind. Seit Wochen dauert die Diskussion um die Frage an, was mehr Gewicht haben sollte: Das alleinige Prinzip festgelegter Regeln bei der Vergabe von Plätzen an Prozessbeobachter oder Taktgefühl gegenüber den Angehörigen der Opfer und der Community, der die Opfer stammten.

Keine Zahlen, vertrauensbildende Maßnahmen!
So viel steht fest: Das starre Festhalten an Prinzipien und das Nicht-Hinterfragen der Sinnhaftigkeit wird von vielen Deutsch-Türken als eine „sehr deutsche Eigenschaft“ wahrgenommen. Eine Eigenschaft, die mit Ereignissen in der deutschen Geschichte in Verbindung gebracht werden, für die rechtsradikale Täter – um es lapidar auszudrücken – ein Faible haben.

Solange es in deutschen Behörden und Gerichten an Sensibilität mangelt, wird die zuweilen als „Paranoia“ der türkischstämmigen Bevölkerung abgewehrte Reaktion nach Vorfällen mit Türkischstämmigen als Opfer andauern. Angst und Unbehagen lassen sich leider nicht mit statistisch ermittelten Zahlen über Opfern bei Bränden und Gewalttaten beheben, sondern mit vertrauensbildenden Maßnahmen!