Mittel und Osteuropa

Folgen der Auswanderung

In den letzten Jahren haben Millionen Menschen temporär oder dauerhaft die Länder Mittel- und Osteuropas verlassen. In den Herkunftsländern kommt es hierdurch zu Engpässen im Gesundheits- und Pflegebereich.

Die Studie „Soziale Auswirkungen von Auswanderung und Landflucht in Mittel- und Osteuropa“ wurde von der Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung e.V. (GVG) im Auftrag der Generaldirektion Beschäftigung, Soziale Angelegenheiten und Integration der Europäischen Kommission durchgeführt und im Juni 2012 fertiggestellt. Die Ergebnisse der Studie wurden jetzt in einem Bericht zusammengefasst. Sie beruhen auf 25 Länderberichten, die von Expertenteams in den betreffenden Ländern erarbeitet wurden.

Die Studie umfasst die 10 Länder Mittel- und Osteuropas, die 2004 und 2007 der EU beigetreten sind, die Erweiterungsländer des westlichen Balkans (Albanien, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien, Kroatien, Montenegro, Kosovo, Serbien) sowie die Länder der Östlichen Partnerschaft (Aserbaidschan, Armenien, Georgien, Moldawien, Ukraine, Weißrussland). Griechenland und die Türkei, die in den 1960er und 70er Jahren stark von Abwanderung betroffen waren, wurden in die Studie als Referenzländer eingeschlossen.

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Betrachtet werden die vergangenen zwei Jahrzehnte. Diskutiert werden die Folgen von Migration für Arbeitsmärkte, die Entwicklung des Humankapitals sowie für den sozialen Zusammenhalt der Herkunftsländer. Ein Fokus liegt auf der Abwanderung von Fachkräften, der Mobilität von Gesundheitspersonal und auf besonders gefährdeten Gruppen wie zurückgelassenen Kindern und Alten, Roma, Binnenvertriebenen und zurückkehrenden Flüchtlingen.

Zunahme der Mobilität: Insbesondere in den EU-Mitgliedstaaten hat die Freizügigkeit von Personen zu einem beträchtlichen Anstieg der innergemeinschaftlichen Mobilität beigetragen. So hat sich der Anteil der Migranten aus den mittel- und osteuropäischen neuen EU-Mitgliedstaaten von 2003 – 2009 von 1,6 auf 4,8 Mio. verdreifacht. Allerdings ist die Migration aus diesen Ländern oftmals auf kurze Zeiträume von einigen Monaten bis wenigen Jahren befristet. Sonderfälle bilden die Länder, in denen es aufgrund von Kriegen zu erzwungener Migration kam, wie in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens und der Kaukasusregion.

Aufgrund der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise ist die Abwanderung seit 2008 leicht zurückgegangen. Bei den Rückkehrern ist jedoch kein wesentlicher Anstieg zu verzeichnen, da viele Herkunftsländer ebenfalls hart von der Krise getroffen wurden. Aufgrund fehlender Arbeitsmigrationsabkommen ist der Anteil irregulärer Migration insbesondere aus den Ländern der Östlichen Partnerschaft sehr hoch.

Profil der Migranten
Unter den Migranten sind Personen im erwerbsfähigen Alter mit höherer Schulbildung am stärksten vertreten. Dabei ist in den letzten Jahren eine wachsende Migration von gut ausgebildeten Frauen zu beobachten. Bei den Ländern der Östlichen Partnerschaft unterscheiden sich die Wanderungsrichtungen stark nach Geschlecht und Bildungsgrad. Während mehrheitlich höher gebildete Frauen in die westeuropäischen Länder auswandern, ist die Auswanderung nach Russland klar durch Männer mit niedriger und mittlerer Bildung dominiert. Diese Entwicklung erklärt sich durch die Nachfrage in den Empfängerländern. In Russland werden Arbeitskräfte vor allem im Baugewerbe und in der Landwirtschaft gebraucht, in der EU sind es die Bereiche Pflege und Hauswirtschaft.

Fachkräfteabwanderung
Die in der Studie untersuchten Herkunftsländer unterscheiden sich beträchtlich hinsichtlich der Anzahl hochqualifizierter Fachkräfte, die in ein anderes Land abwandern. Aufgrund der Arbeitnehmerfreizügigkeit in den EU-Mitgliedsländern und der zunehmenden temporären Migration ist das Problem des Brain-Drain dort weniger ausgeprägt. Hingegen sind die Länder des westlichen Balkans und der Östlichen Partnerschaft weitaus stärker betroffen. So wird geschätzt, dass Albanien seit Anfang der 1990er Jahre 50 % seiner Fachkräfte aus dem Hochschul- und Forschungsbereich an das Ausland verloren hat. Aufgrund der Mobilitätsbeschränkungen tendieren diese Migranten dazu, dauerhaft auszuwandern, oder zumindest weniger häufig zu zirkulieren.

Die negativen Auswirkungen der Abwanderung von Fachkräften zeigen sich besonders deutlich im Gesundheitssektor. Die Abwanderung von Gesundheitspersonal ist vergleichsweise hoch und stellt für viele Länder ein Problem dar. Betroffen sind hier insbesondere einige EU-Mitgliedsländer (Baltikum, Polen, Rumänien) sowie die Länder des westlichen Balkans. Die Länderberichte weisen darauf hin, dass die Mobilität in den Gesundheitsberufen Einfluss auf die Leistungsfähigkeit der nationalen Gesundheitssysteme hat, wobei es hauptsächlich Engpässe bei spezialisierten Gesundheitsberufen und bei der Versorgung in ländlichen Regionen gibt.

Das Phänomen „Care-Drain“ beschreibt Betreuungsengpässe, die entstehen, wenn etwa Mütter aus Ländern wie der Ukraine oder Moldawien auswandern, um die Versorgungslücke in EU-Ländern zu schließen, und die Betreuung ihrer Familienmitglieder anderen überlassen müssen. Schätzungen zufolge gibt es heute allein in der EU etwa 500.000 Kinder, die von einem oder beiden Elternteilen aufgrund einer Erwerbstätigkeit im Ausland zurückgelassen wurden. Gleichzeitig ist in manchen Regionen mit hoher Abwanderung der Anteil der älteren Bevölkerung spürbar angestiegen. Durch solche Abwanderungsbewegungen entstehen Betreuungslücken, die in vielen Fällen weder von Familienangehörigen noch durch das ohnehin unzureichende Angebot an informellen Pflegenetzwerken und formalen Pflegediensten auf kommunaler Ebene aufgefangen werden können.

Download: Weitere Informationen zur Studie „Soziale Auswirkungen von Auswanderung und Landflucht in Mittel- und Osteuropa“ gibt es hier.

Empfehlungen der Studie
Um einen Ausgleich zwischen den Interessen der Entsende- und Empfängerländer zu schaffen, könnten bilaterale Abkommen geschlossen werden. Darin könnten die Rekrutierung bestimmter Fachkräfte sowie Ausgleichsmaßnahmen für die Entsendeländer vereinbart werden. Möglich sind etwa Personalaustauschprogramme, die Übernahme von Kosten für die Ausbildung zusätzlichen Personals oder die Anwerbung für einen festgelegten Zeitraum, kombiniert mit Fortbildungsmaßnahmen vor der Rückkehr in das Herkunftsland.

Zudem sind weitere Anstrengungen bei der bisher unzureichenden internationalen Anerkennung von formalen und informellen Qualifikationen notwendig, insbesondere zwischen der EU und Drittstaaten.

Ferner sollten auch die Informationsangebote hinsichtlich Beschäftigungsmöglichkeiten, Qualifikationsanforderungen und der Lebens- und Arbeitsbedingungen im Aufnahmeland verbessert werden. In diesem Zusammenhang wird empfohlen, die Vernetzung der europäischen Arbeitsagenturen (EURES) auszubauen und effektiver zu gestalten. Birgit Garbe-Emden, Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung e.V. (mub/ms)