Bades Meinung

Die neue Roma-Zuwanderung: Hysterie statt Engagement

Aufgrund der deutschen Geschichte wurden Juden in Deutschland freundlich aufgenommen. Das Gegenteil galt für „Zigeuner“ aus Osteuropa, schreibt Prof. Klaus J. Bade in seiner neuesten MiGAZIN Kolumne und warnt – Weichenstellungen der Migrations und Integrationspolitik, Folge 4

Vor dem Hintergrund des düstersten Kapitels der deutschen Geschichte fanden Juden aus Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion und der GUS von 1989/90 bis zum Zuwanderungsgesetz von 2005 freundliche Aufnahme im Land des Holocaust im Rahmen von vertraglich vereinbarten Größenordnungen. Schuldgefühle wegen nationalsozialistischer Massenverbrechen wirkten aber nicht bei der Behandlung aller davon betroffenen Minderheiten:

Die Erinnerung, dass Sinti und Roma nach den Juden mit rund 500.000 Opfern die von der nationalsozialistischen Mordmaschinerie am zweitstärksten betroffene Gruppe waren, bot für die zeitgleich aus Mittelost- und Südosteuropa zuwandernden Roma keine Brücke nach Deutschland. Von Anfang 1990 bis zum Inkrafttreten des neuen Asylrechts 1993 gab es rund eine Viertelmillion Roma-Flüchtlinge in Deutschland. Sie kamen vor allem aus Rumänien, aber auch aus Jugoslawien und Bulgarien. Ihre Behandlung zeigte ein strenges Gegenbild zu derjenigen von jüdischen Flüchtlingen aus der GUS.

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Bei Juden ging es um staatlich begleitete dauerhafte Einwanderung unter den integrativen Leitperspektiven von Anerkennung, Akzeptanz und wohlfahrtsstaatlicher Inklusion. Das Gegenteil galt für die unerwünschte Zuwanderung von ‚Zigeunern‘ aus Osteuropa: Exklusion, Zwangsrepatriierung bzw. als ‚Rückführung‘ getarnte Deportation zurück in Länder, in denen sie, wie z.B. in Rumänien, zumindest ebenso ausgekreist waren und sind wie Juden in der GUS.

In anderen mittelost- und südosteuropäischen Ländern sind Roma bis heute betroffen von sozialer Ausgrenzung, Erniedrigung, Entrechtung und Verfolgung. Sie sind sogar Opfer von regelrechten Pogromen, bei denen in den letzten Jahren allein in Tschechien und Ungarn insgesamt mehr als 30 Menschen den Tod fanden, zahllose andere verletzt und unzählige traumatisiert wurden.

Aber heute kommen die Roma wieder – und diesmal als EU-Bürger aus Rumänien und Bulgarien. Von dort kommen, was wenig Beachtung findet, auch viele gut bis sehr gut qualifizierte Zuwanderer. Sie verursachen einen erheblichen Brain Drain in ihren Herkunftsländern und könnten ein großer Gewinn am Arbeitsmarkt in Deutschland sein. Sie werden aber hierzulande häufig noch weit unter Ihrem Qualifikationsniveau ausgebeutet, weil sie wegen der Zugangssperren am Arbeitsmarkt bis 31.12.2013 als abhängig Beschäftigte noch EU-Bürger zweiter Klasse sind: mit Zugang zum Land, aber in der Regel ohne regulären Zugang zum ersten Arbeitsmarkt. Ob und inwieweit diese Unterschichtung durch Ausbeutung unter Qualifikation nach der Aufhebung der Zugangssperren ab 1.1.2014 und durch die Wirkungen des Anerkennungsgesetzes ein Ende finden wird, muß abgewartet und kritisch beobachtet werden.

An diese unauffällige Elitenzuwanderung wird kaum gedacht, wenn von der Zuwanderung aus den neuen EU-Ländern im Osten die Rede ist. Alarmistisch geredet und geschrieben wird stattdessen vorwiegend über die meist noch vergleichsweise kleine, oft wenig oder doch wenig passfähig qualifizierte Minderheit der Roma-Familien, die wegen Ihrer Soziallagen und wegen der auf sie zielenden Vorurteile und Fremdheitszuschreibungen (‚Zigeuner’) umso auffälliger wirken.

Dies ist in der Tat die Kehrseite des Evangeliums der Freizügigkeit, bei dem offensichtlich Viele nur von der Zuwanderung von möglichst hochqualifizierten und in ihren Berufs- bzw. Sozialprofilen hübsch passgerechten Zuwanderern träumten. Sie dachten nicht an eine Armenwanderung, die Rechtsansprüche an die Sozialsysteme hat und die nun nicht mehr zwangsweise umkehrbar ist. Und sie wird wachsen, darüber sollte man sich endlich klar werden.

Die Zuwanderung von Roma mit prekären Soziallagen konfrontiert die Zielländer mit neuen Herausforderungen, mit denen viele nicht gerechnet hatten: einerseits neue Formen der nationalen Integrationsförderung und andererseits supranationale Gestaltungsaufgaben, die alternativlos auf eine Art ‚Entwicklungspolitik‘ mitten in Europa hinauslaufen.

Integration durch Qualifikation in den Zielländern und Bekämpfung der wanderungstreibenden Faktoren in den Ausgangsräumen sind hier zwei Seiten der gleichen Medaille. Das erste ist die nationale, das zweite die supranationale Aufgabe. Das eine geht nicht ohne das andere; denn nur so kann verhindert werden, daß die Freizügigkeit zu einem menschenverachtenden transnationalen Verschiebebahnhof mit dem Export und Import von Sozialproblemen wird.

Aber die 2011 von Brüssel vergeblich um eine nationale Roma-Konzeption gebetene Bundesregierung übte sich – wie auch andere europäische Adressaten – zunächst in defensiver Erkenntnisverweigerung. Sie liess die Kommunen, wieder einmal, mit den Problemen allein. Die von der Bundesregierung Ende vergangenen Jahres, unmittelbar vor Ablauf der Frist, nach Brüssel übermittelte Antwort lautete sinngemäss: Es bestehe kein Handlungsbedarf für eine nationale Roma-Konzeption; denn es gebe in Deutschland schließlich ein komplexes System von Integrationshilfen, insbesondere Integrationskurse mit Sprach- und Orientierungskursen, die die Roma-Zuwanderer doch nur beantragen müssten. Weit gefehlt.

Es hatte sich offenkundig noch nicht bis ins hohe Berlin herumgesprochen, daß eine Bevölkerungsgruppe, die auf Grund jahrhundertelanger Auskreisung, Ächtung und Verfolgung gelernt hat, sich misstrauisch nach außen abzugrenzen und Vertrauen nur gegenüber den familialen Großverbänden zu haben, nicht ohne weiteres in die Regularien der wohlfahrtstechnischen individuellen Integrationsförderung einzuklinken ist.

Hier gibt es, ausnahmsweise, tatsächlich historisch gewachsene, nach außen abgeschottete großfamiliale ‚Parallelgesellschaften‘, die geschlossen zuwandern oder in Kettenwanderung nachrücken. Sie können nur als solche in die staatliche Integrationsförderung einbezogen werden. Unsere Integrationshilfe-Pakete sind dafür nicht geschnürt. Das muß endlich begriffen werden, damit aus ‚spät‘ nicht wieder ‚zu spät’ wird.

Herumgesprochen hat sich offenkundig auch nicht, daß manche Roma-Familien nicht zum ersten Mal in Deutschland sind. Viele haben vor zwei Jahrzehnten schon eine reguläre, als ‚Rückführung‘ geschönte Deportationserfahrung hinter sich gebracht, zum Teil unter Vorspiegelung verlockender und am Ende trügerischer Erwartungen wie in dem großen NRW-Rückführungsprojekt der 1990er Jahre. Aus diesen Erfahrungen und den darüber in Roma-Familien umlaufenden Berichten resultiert bis heute eine Kombination von Enttäuschung und Misstrauen, die nicht gerade eine optimale Integrationsvoraussetzung ist. Vor Illusionen sei also gewarnt.

Wer mit kommunalen Integrationsbeauftragten über diese Probleme spricht, erfährt sogleich, wie vordergründig die Berliner Antwort war. Das zeigt, daß das hier zuständige Bundesministerium des Innern in Sachen Integrationspolitik als Gesellschaftspolitik seine Lektionen noch immer nicht gelernt hat. Statt mit Konzeptionen hat Politik jenseits der kommunalen Ebene vorzugsweise, wieder einmal, mit populistischen Drohgebärden reagiert. Bundesinnenminister Friedrich redete alarmistisch, ohne zureichende Differenzierung und damit zur Verwechslung der Gruppen einladend, von einem „zunehmenden Asylmißbrauch aus den Balkanländern“, der „unverzüglich gestoppt“ werden müsse. Das hätte man, soweit es nötig war, auch still besorgen können. Aber populistischer Radau muß scheinbar sein.

Wissenschaftler hatten lange vergeblich empfohlen, konzeptionell die hier notwendigen Weichenstellungen in der Migrations- und Integrationspolitik zu überdenken, die Kommunen und ihre Bürger darauf vorzubereiten, bevor sich rechtsradikale Gruppen mit ihrer kulturrassistischen Agitation des Themas bemächtigen würden. Das wurde, wieder einmal, überhört. Lautstarke Ersatzhandlungen für fehlendes konzeptionelles Engagement aber treiben nur Wasser auf die Mühlen der Rechtsradikalen.

Die haben, wie warnend vorausgesagt, ihre Chance längst erkannt und sind mit dem Thema ‚Zigeuner‘ bereits bundesweit am Ball. Die Folgen sind absehbar. Und bei der fast allwöchentlichen, geradezu rituellen Roma-Hatz im tschechischen ‚Schluckenauer Zipfel‘ üben deutsche Rechtsradikale schon lange, wie man später mal mit Roma in Deutschland umgehen könnte. Bleibt zu hoffen, daß es nicht zu einem episodischen Nachvollzug der Exzesse der frühen 1990er Jahre kommt. Und wenn es dazu käme, dann würde es sicher wieder einmal heissen, dass das doch wirklich niemand absehen konnte.