NSU-Morde

Nichtaufklärung ist systemimmanent

Die bisherige Aufklärung der NSU-Morde hat zahlreiche Fragen aufgeworfen, die nicht einmal mehr gestellt werden. Ünal Zeran hakt nach. Er ist überzeugt, dass Nichtaufklärung systemimmanent ist.

Ein V-Mann des baden-württembergischen Verfassungsschutzes (VS) soll Gründer und Anführer einer deutschen Gruppierung des Ku-Klux-Klans (KKK) sein. Ein Mitarbeiter des baden-württembergischen Verfassungsschutzes soll ihn 2002 gewarnt haben, dass seine Telefonate abgehört werden. Was er sonst noch weitergab? Nachforschungen: Fehlanzeige. Ermittlungen wegen Geheimnisverrates (§ 353b StGB) oder Strafvereitelung (§ 258 StGB)? Fehlanzeige.

Problem erkannt, Gefahr gebannt. Er wird in eine andere Behörde versetzt. Das macht man so bei der wehrhaften Demokratie. Besoldung, na klar! Pensionsansprüche? Selbstverständlich! Über die Altersarmutsdebatte braucht sich dieser Mann keine Sorgen zu machen. Er hat ja nicht für die Stasi gearbeitet.

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Der Verfassungsschutz gibt diese wesentlichen Vorgänge in August 2012 zu. Gab es in den letzten 9 Monaten ein öffentliches Bedürfnis zu erfahren, welche rechtsextremen Netzwerke im Ländle existieren? Der damals zuständige baden-württembergische Verfassungsschutz-Präsident Helmut Rannacher wurde beauftragt, in der Nazihochburg Sachsen den Verfassungsschutz zu reformieren. Neue Besen kehren gut, sagt der Deutsche. Ich habe verstanden. Gemeint ist wohl, unter den Teppich. Herr Innenminister Ulbig, danke für diese Art von Vergangenheitsbewältigung. Weiter so in Sachsen!

Der deutsche KKK soll angeblich nur bis 2003 existiert haben. Es soll ungefähr 20 Mitglieder in Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Sachsen-Anhalt, Sachsen, Thüringen, Nordrhein-Westfalen und Mecklenburg-Vorpommern gehabt haben. Die bekannten Morde wurden alle in den aufgezählten Westbundesländern begangen. Hamburg fehlt bei der obigen KKK-Aufzählung. Naheliegend sich zu fragen, wer ist das Hamburger KKK-Mitglied?

In Bayern erstellt ein rechtsextremistischer V-Mann die Todeslisten mit und verbreitete sie anschließend mit staatlicher Billigung. Warum nicht gleich Waffe und Munition mitliefern? Wer mag noch ausschließen, dass auch das passiert sein könnte. Schocken würde dies wohl niemanden mehr.

Doch blicken wir auf ein weiteres Kapitel von Zufällen, Pannen und Erinnerungslücken. Die Polizistin Kiesewetter will ihre Heimat Thüringen nicht länger schützen. Sie wandert nach Böblingen aus. Wenige Tage nach dem Auffliegen des Mördertrios wird vom BKA-Chef Ziercke lanciert, dass sie möglicherweise in der rechten Szene bekannt oder mit ihr verbandelt gewesen sein könnte. Eine Beziehungstat wird nicht ausgeschlossen. Eine von Rechtsextremen genutzte Gaststätte liegt unmittelbar in der Nähe der Wohnung von Kiesewetter. Es wird spekuliert, dass sogar Ralf Wohlleben als Pächter dieser Gaststätte fungiert haben könnte. Das BKA zieht diese Behauptung schnell wieder zurück. Die Generalbundesanwaltschaft sieht keine Anhaltspunkte und interveniert. Weitere Ermittlungen und Recherchen: Null.

Kiesewetter zieht es zur Polizei nach Baden-Württemberg. Warum ausgerechnet Böblingen? Sie wird in Heilbronn erschossen. Ihr Kollege überlebt schwerverletzt. Welche Aussagen hat dieser Kollege zum Tathergang gemacht? Ermittlungen und Recherchen: Null.

In Hardthausen am Kocher kauft im Jahre 2004 der hochrangige Neo-Nazi und V-Mann des Thüringer Verfassungsschutzes, Tino Brandt, ein Haus. Es liegt wenige Autominuten entfernt von Heilbronn, wo im April 2007 die Polizeibeamtin Kiesewetter erschossen und ihr Kollege schwer verletzt wurde. Im März 2008 verkaufte er es wieder, ein knappes Jahr nach dem Mord an Kiesewetter.

Der Militärische Abschirmdienst (MAD) notiert, dass Neo-Nazis aus Baden-Württemberg häufig die Kameraden in Jena besuchen. Laut MAD-Akten soll Ralf Wohlleben für die Organisation dieser Treffen mitverantwortlich gewesen sein. Der sitzt seit Dezember 2011 als mutmaßlicher Terror-Helfer in Untersuchungshaft. Ein Netzwerk an Kameraden? Ermittlungen und Recherchen: Null.

Dummerweise musste eingestanden werden, dass beim Bundesamt für VS weitere 300 Ordner geschreddert wurden. Bislang war nur von 26 die Rede. Man kann sich ja leicht irren. Zufällig sollen die Ordner auch Zeiten und Berichte über KKK betreffen. Nur dumm, dass die Staatsarchive der Länder beklagen, dass sie vor der Vernichtung nicht gefragt wurden und dies möglicherweise den Straftatbestand des Verwahrungsbruchs (§ 133) verwirklicht. Die Datenschützer wundern sich, dass beim Verfassungsschutz zufällig ausgerechnet seit dem Auffliegen des Mördertrios jemand sein Herz für den Datenschutz entdeckt hat.

Der Bericht über die Schredderaktion bringt Folgendes zutage: „dass es eine gezielte ‚Löschaktion‘ zur Vernichtung möglicher Belege für Querverbindungen zum NSU-Komplex nicht gegeben hat“. Die zuständigen Beamten hätten die Aktenvernichtungen vielmehr in dem Glauben angeordnet, den vorgeschriebenen Löschfristen nachzukommen.

Glaubt der Sonderermittler Engelke wirklich, dass er damit durchkommt. Vermutlich ja, oder bereitet sich hier jemand einen versüßten Beamtenabgang vor, nachdem er nicht zum VS-Präsidenten befördert wurde? Was macht er eigentlich beruflich? Er ist im Bundesinnenministerium Unterabteilungsleiter Verfassungsschutz in der Abteilung öffentliche Sicherheit.

Zurück zur KKK. Kiesewetters Vorgesetzter soll dem KKK angehört haben. Ein weiterer Polizist sei vor Jahren ebenfalls identifiziert worden sein. Komisch, dass seinerseits nirgends drüber zu lesen war. Geheimhaltung. Geht doch.

Und als sie befragt wurden, haben sie natürlich alles bestritten. Nach drei Jahren kommt die Einstellung der Ermittlungen. Sie versehen wieder ihren Dienst. Nichts Ungewöhnliches im Ländle, wo kommunistische Lehrer bis zur letzten Instanz aus dem Dienst geklagt werden sollten.

Jetzt wird bekannt, dass noch mehr Polizisten beim KKK aktiv waren. Bei der Drogenfahndung in Böblingen eine weitere Polizistin. Böblingen, da war doch was? Ruhiges Hinterland für KKK?

Und dann gibt es, wie der Zufall so spielt, den Patenonkel von Kiesewetter, der beim LKA in Thüringen für Drogenfahndung und Rechtsextremismus zuständig sein soll. Dieser Patenonkel gibt kurz nach der Ermordung Kiesewetters an, dass der Mord etwas mit den Türkenmorden zu tun haben könnte. Ein echt guter Fahnder mit hellseherischen Fähigkeiten. Angebliche Hellseher hatten einige Landeskriminalämter aber tatsächlich bei den Ermittlungen herangezogen. Nur, warum wird ausgerechnet dieser Mann mit den bewundernswerten Fähigkeiten nicht durchleuchtet? Es wird noch verschwörerischer.

Dieser Patenonkel hatte eine Lebensgefährtin, eine Polizistin, die mutmaßlich Kontakte in die rechtsextreme Szene hatte. Diese Lebensgefährtin soll später auch noch einen Rechtsextremisten geheiratet haben. Da kann man gewagt behaupten, dass es Verbindungen in die Szene gab.

Die Lebensgefährtin wird bei der Polizei 2009 vorübergehend vom Dienst suspendiert, weil sie Polizeidaten abgefragt und weitergegeben hatte. Bislang hieß es stets, es gebe keinen Anhaltspunkt für Kontakte Kiesewetters zur rechten Szene. Ihr persönliches Umfeld. Reine Privatsache.

Die Akte Kiesewetter scheint nach bisheriger offizieller Darstellung der Schlusspunkt der mörderischen Umtriebe zu sein. Sie ist aber ein Schlüssel, um zu erklären, wie ein Nazinetzwerk aufgebaut und funktionieren konnte. Wer weiterhin verschleiern will, dass die Nazis ein Netzwerk auch im Polizeiapparat bilden, dem passt es natürlich, keine Verbindungen herzustellen. Stets ist es der Zufall oder ein Einzelfall.

Vielleicht ist das alles aber auch ganz banal. Mundlos und Bönhardt fühlten sich von ihr erkannt und meinten, töten zu müssen. Das sie bewaffnet waren deutet daraufhin, dass sie vermutlich in Heilbronn etwas planten. Warum gehen sie sonst das Risiko ein, mit Waffen durch die Gegend zu ziehen und zu riskieren, deshalb entdeckt zu werden?

Ich könnte mit dieser Erklärung gut leben und mich beruhigt dem tiefen Staat der Türkei widmen. Doch mit der dummdreisten Erklärung, dass sie das Risiko eines Mordes eingehen, um an ihre Waffe zu kommen, hadere ich noch.

Der VS hat das Umfeld so gut gesponsert, dass der Kauf einer Waffe kaum ein Problem dargestellt haben durfte. Die Wehrsportgruppen und Kameradschaften, bei denen wie neulich in NRW, Waffenarsenale entdeckt wurden, hätten bestimmt gerne Zulieferer gespielt.

Ziemlich still ist es aber auch um die Bundesanwaltschaft geworden, die sich sehr bedeckt hält. Ihren großen Auftritt wird sie wohl im Frühjahr in München bei der Anklageverlesung haben. Mal sehen, was aus diesem Hause für Konstruktionen zur Tataufklärung kommen werden, um die Sicherheitsarchitektur der Republik weiter zu stützen oder aufrechtzuerhalten.

Vor fast einem Jahr wurde an dieser Stelle gemahnt, dass wir es mit Vertuschungen und Halbwahrheiten zu tun haben werden. Es ist weder ein Vertuschen oder Versagen noch sind es Pannen. Es ist systemimmanent, dass nichts vollständig aufgeklärt werden wird.

Eine schonungslose Aufklärung wurde angekündigt. Es wurde nur nicht sichergestellt, wer dies tun sollte. Ohne die eingesetzten Untersuchungsausschüsse würde vermutlich noch viel weniger bekannt.

Langweilig wird es nicht. Nur, wen interessiert es eigentlich noch? Menschen, die überzeugt sind, dass es nie zu spät ist, sich stets zu fragen, warum temporärer Erscheinungen wie Sarrazin und Buschkowsky so einen großen Erfolg feiern können. Warum die Medien diese hofieren und Buschkowsky den Co-Kommentator beim nationalen Gedenktag an die NSU-Opfer geben durfte. Warum zwei Monate nach dem das Bundesverfassungsgericht das Asylbewerberleistungsgesetz für nicht mit dem Existenzminimum und somit der Menschenwürde vereinbar erklärte, erneut gegen Flüchtlinge gezündelt wird. Rostock reloaded.

Die 20-jährige Gedenkfeier haben wir ja schon bewältigt. Warum gaukelt der Bundespräsident nicht einmal ein paar mahnende Worte vor? Frau John ist nicht die Person, um den Hinterbliebenen zu erklären, warum Rassismus nicht an der Tagesordnung einer gesellschaftlichen Debatte steht. Nach dem warum zu fragen, den Opfern würdig zu gedenken und beizustehen. Das sind wir den Hinterbliebenen und uns schuldig.