Rezension zum Wochenende

Postmigrantisches Manifest

Schon der Nachname des Autors liest sich wie ein Programm. Türkmens schmales Büchlein kann daher als erster Teil seines Gesamtprogramms verstanden werden. Es ist eine leichte Kreation, die ich am ehesten postmigrantisches Manifest nennen möchte.

Den Begriff „postmigrantisch“ hat Erol Yıldız in seinem vor zwei Jahren erschienenen Aufsatz Die Öffnung der Orte zur Welt und postmigrantische Lebensentwürfe eingeführt. Er wollte damit die Lebensformen und Lebensgefühle der zweiten und dritten Zuwanderergeneration erfassen und beschreiben. Die postmigrantische Orientierung zielt unter anderem auf die Reinterpretation der Lebenserfahrung der ersten Generation ab. Sie greift auf ihre Erfahrungen mit der Marginalisierung zurück und interpretiert ihre Geschichte neu. Postmigranten treten aus der bipolaren Welt der ersten Generation aus, um an ihrer Stelle aus diversen anderen Elementen bestehende „hybride Lebensentwürfe“ entstehen zu lassen.

Inan Türkmens Buch, dieses selbstbewusst wirkende und in einer sehr einfachen Sprache geschriebene Manifest, ist auf jeden Fall als ein hybrider Lebensentwurf zu lesen. Der 25-jährige Autor ist in Linz geboren worden und ebendort aufgewachsen. Sein kurdischstämmiger Vater flüchtete gemeinsam mit seiner Frau Mitte der 1980er-Jahre aus der Türkei nach Österreich, wo er als Schweißer und seine Frau als Putzfrau arbeiten.

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2010 verlässt der Autor seine Geburtsstadt, um an der Universität Wien Internationale Betriebswirtschaft zu studieren. Im Gegensatz zu Istanbul stellt er Linz als die ideale Kleinstadt, als stressfreien Ort zum Leben dar. Er empfindet, dass in Wien ein überdurchschnittlich ausgeprägtes Vorurteil gegen türkische MigrantInnen existiert.

Der Stil des Buches ist ironisierend, plakativ gehalten, und teilweise erinnert er an die literarisch-politischen Manifeste des Aktivismus zur Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts sowie an rechtspopulistische Diskurse unserer Zeit: nicht zuletzt an Jörg Haiders Texte und Reden. In einem Die Presse gegebenen Interview verortet er seinen eigenen Stil in der Nähe von H.-C. Strache.
Die teilweise widersprüchliche Welt des Buches ist verhältnismäßig geräumig. Sie lässt den Leser und die Leserin in einigen Städten Europas herumspazieren. So erfährt man zum Beispiel, wie es in Berlin, Hamburg, in Wien und Istanbul jungen TürkInnen geht. Die Freizeitangebote, das Niveau des Fußballs und der Wirtschaft bilden die zentralsten Kategorien der Welt dieses Buches. Wichtig ist hier außerdem die Institution Familie, deren Aufgabe es ist, die dem Konsum positiv gegenüberstehenden Mitglieder der türkischen Familien von diversen Entfremdungen zu schützen, ihnen den richtigen Weg zu zeigen.

Die Türkei ist derzeit bestimmt ein sich kulturell und wirtschaftlich rasch entwickelndes Land. Die wirtschaftlichen Bedürfnisse des Landes liegen, Türkmens Darstellungen zufolge, jedoch teilweise woanders als etwa in Deutschland. „Die Türken aber entwickeln Flugzeuge statt neuer Hüft- und Kniegelenke.“ Die türkische Regierung möchte bis 2023 „eigene Regionalflieger und Jets bauen. Es ist noch ein weiter Weg dorthin, aber das ist egal. Es geht um eine bessere Zukunft, die der technische Fortschritt bringt.“ (S. 47) Für Türkmen gibt es „eigentlich nichts Spannenderes als Wirtschaft, außer Fußball natürlich“ (S. 67). In der Türkei hätte der Slogan „Geiz ist geil“ derzeit keine Bedeutung: „Die finden Konsum richtig gut.“ (S. 78) Die Kraft und die Zukunft der „Türken“ bestünden im „Hunger“ der Jugendlichen auf die Welt und im Rückhalt durch die Familie: „Es gibt ein paar Dinge, die uns stärker machen. Eines ist die Familie. Sie gibt uns Halt.“ (S85)

Zahlreiche Fragen zu diesem Buch ergeben sich beinahe von alleine. Wie zum Beispiel: Wem und wie vielen Prozent der österreichischen Gesellschaft könnte die Welt des Buches sympathisch erscheinen? Wer würde sich dieser Welt anschließen?

Sich auf die derzeitigen Erkenntnisse über die bevorzugten Lebensstile in Österreich stützend, ließen sich bereits tragfähige Antworten auf die Fragen ausarbeiten. Doch schon spontan kann man vermuten, dass die Mehrheit zu der beschriebenen Welt auf Distanz gehen würde. Eine Welt, in der die wirtschaftliche Entwicklung, der Spaß am Ausgehen, am Fußball und so manche der geschilderten prämodernen Erscheinungsformen der Familie eine zentrale Stellung einnehmen, würde die überwiegende Mehrheit der jüngeren Generation in Österreich wohl kaum interessieren.

Es ist nicht minder wichtig, zu fragen, ob das Türkmen-Programm Nachahmer haben wird. Ob es zum Beispiel einen jungen postmigrantischen „Serbmen“, „Rummen“ oder „Hungmen“ geben wird, der ein derartiges Buch demnächst verfasst.

Es ist unterm Strich doch zu wünschen, dass alsbald weitere postmigrantische Manifeste entstehen; Nachfolgewerke, die deutlich sachlicher ausfallen und viel mehr Mut zur Kritik an den Zuständen in den eigenen Reihen aufzeigen. Denn ein solcher, die interethnischen Zustände kritisch beleuchtender Diskurs fehlt nicht nur in Österreich, sondern in der EU insgesamt. Und es ist im Moment vollkommen illusorisch, zu glauben, dass irgendjemand von den kompetenten, einflussreichen „einheimischen“ Kritikern Österreichs die Erstellung einer Diagnose der migrantischen Welten zusätzlich auf sich nehmen würde.