Unsensibel

BMI verteilt „Vermisst“ Postkarten am NSU-Tatort

Trotz vorläufiger Absage wirbt das BMI weiter mit den umstrittenen „Vermisst“ Motiven – ausgerechnet auf der Keupstraße in Köln. Dort, wo im Jahr 2004 bei einem NSU-Nagelbombenanschlag 22 Menschen verletzt wurden.

Die Keupstraße in Köln. Im Volksmund liebevoll auch „klein Istanbul“ genannt. Hier reiht sich ein Restaurant nach dem anderen. Eine belebte und beliebte Anlaufstelle für Gaumenfreunde und ein Treffpunkt für Jung und Alt und Familien, um Freunde zu treffen und sich in geselliger Runde auszutauschen.

Seit dem Nagelbombenanschlag im Jahr 2004 auf einen türkischen Friseursalon, bei dem 22 Menschen verletzt wurden, sind auch die möglichen Täter und das Tatmotiv ein heiß diskutiertes Thema. Die Polizei ging von einem Racheakt der Schutzgeldmafia aus und ermittelte jahrelang vergeblich.

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Kopfschütteln und Fassungslosigkeit
Mit diesem Motiv konnten sich die Menschen auf der Keupstraße von Anfang an nicht anfreunden. Sie vermuteten rechtsextreme Motive hinter dem Anschlag. Daran wiederum wollte die Polizei nicht glauben, obwohl es Indizien genug gab, wie man seit dem zufälligen Auffliegen der NSU im November 2011 weiß.

Heute dominieren Aktenvernichtungen, Pannen und Fehler bei den Sicherheitsbehörden die Tischgespräche. Laut einer Umfrage aus Januar 2012 glauben die meisten Türkeistämmigen daran, dass die NSU-Täter von staatlicher Seite aus gedeckt wurden. Kopfschütteln und Fassungslosigkeit über die Unfähigkeit der Sicherheitsbehörden haben zugenommen.

Die Unsensibilität des BMI
Seit einigen Tagen erhitzt auch noch die Unsensibilität des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BMI) die Gemüter. In Form von Postkarten wurden die „Vermisst“ Palaktmotive ungefragt und zunächst unbemerkt in den Gaststätten ausgelegt. Darauf werden in türkischer, arabischer und deutscher Sprache Muslime gesucht, die in den Radikalismus und Terrorismus abrutschen könnten. Familien, Freunde und Bekannte sollen bei Auffälligkeiten eine Beratungsnummer anrufen.

„Der Staat sollte sich lieber mal auf die Aufklärung der NSU-Sache konzentrieren“, sagte ein Restaurantbetreiber dem MiGAZIN. „Es ist unglaublich, dass diese Postkarten ausgerechnet auf der Keupstraße ausgelegt werden“, so ein Betreiber eines Döner-Imbisses.

Doch nicht verschoben
Die Plakate sind den Menschen auf der Keupstraße bereits aus den Medien bekannt. Seit Wochen berichten Zeitungen über das Hin und Her zwischen dem BMI und den islamischen Religionsgemeinschaften sowie über die bereite Kritik an der „Vermisst“-Aktion. Den vorläufigen Höhepunkt erreichte die Aktion, nachdem die Religionsgemeinschaften sogar ihren Austritt aus der „Initiative Sicherheitspartnerschaft“ erklärt hatten.

Wenige Tage später (Donnerstag, 20.9.12) verschob das BMI die Plakataktion. Offizielle Begründung: eine Gefährdungsbewertung des Bundeskriminalamtes. Dabei spiele der Kontext der Proteste gegen das islamfeindliche Schmähvideo in islamischen Ländern eine Rolle. Es sei nicht auszuschließen, dass dies bei fanatisierten Einzeltätern „einen Tatimpuls“ auslösen könnte, teilte ein Ministeriumssprecher mit.

Opposition fordert Stopp
Wieso die „Vermisst“-Plakataktion verschoben wurde, dafür aber die Postkarten mit denselben Motiven verteilt wurden, ist bislang unklar. Ebenso die Frage, ob Postkarten keinen „Tatimpuls“ auslösen können. Die stellvertretende SPD-Vorsitzende Aydan Özoğuz jedenfalls fordert den endgültigen Stopp der gesamten Aktion. „Durch die Kampagne werden pauschale Vorurteile bestätigt, frei nach dem Motto: Muslimische Jugendliche könnten eben doch alle latent radikal sein“, so die SPD-Politikerin. In alter CSU-Parteitradition stelle Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) alle Muslime unter Generalverdacht.

So sieht es auch die migrationspolitische Sprecherin der Linkspartei, Sevim Dağdelen: „Die Bundesregierung stellt seit Jahren Migranten an den Pranger, speziell muslimische.“ Wolle die Bundesregierung tatsächlich eine Radikalisierung unter Muslimen verhindern, müsse sie endlich die Ausgrenzung und Diskriminierung beenden. Doch diese Bundesregierung und speziell Friedrich lassen nichts unversucht, den längst widerlegten rechtspopulistischen Popanz einer angeblich verbreiteten Integrationsverweigerung aufrechtzuerhalten“, so die Linkspolitikerin.

Aufklärung vermisst
Unterdessen hat die Türkische Gemeinde in Deutschland gemeinsam mit dem Türkischen Bund Berlin Brandenburg und dem MiGAZIN am Freitag (21.9.12) vor dem Reichstag ein 20 Meter langes und 3 Meter hohes „Vermisst“ Plakat aufgeschlagen. Darauf war ein Foto von Enver Şimşek, dem ersten Opfer der NSU, zu sehen und darunter folgender Text:

„Das ist Enver Şimşek. Er war das erste Opfer der NSU. Wir vermissen ihn und haben Angst, dass Behörden weiteres Beweismaterial geheim halten, vernichten und die Aufklärung bewusst verhindern. Wir haben Angst vor weiteren rassistischen Angriffen, weil leider immer noch Vorurteile und Hass gegen Muslime und Menschen, die ‚nicht deutsch genug‘ aussehen, gezielt geschürt werden. Wenn es Ihnen so geht wie uns, wenden Sie sich an die Beratungsstelle Radikalisierung“.

Die Hinterbliebenen von Enver Şimşek, die zuvor um Erlaubnis gefragt wurden, unterstützen die Plakataktion vor dem Reichstag. (bk)