Taqiya

Ein Schreckenswort, das für Aufruhr sorgt

„Taqiya“– ein weiteres arabisches Schreckenswort, das Ängste schüren und die Mehrheitsbevölkerung in Unruhe versetzen soll. Was die Scharia bedeutet, wurde mühselig erklärt und einige wenige haben es sogar verstanden. Und nun die „Taqiya“. Danach könne man Muslimen gar nicht mehr trauen, weil sie nur eins wollen: manipulieren und täuschen. Das glaubt zumindest die hessische CDU.

Von Dienstag, 21.08.2012, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 24.08.2012, 1:56 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

Dabei wäre es ratsam, dass zu tun, was man in der Schule gelernt hat: einen Blick in das Fachlexikon zu werfen und sich schlauzumachen. Die Enzyklopädie des Islam, das von Islamwissenschaftlern vorbereitete Standardnachschlagewerk, ist an Universitätsbibliotheken jedem zugänglich. Und siehe da: „Taqiya“ (oder auch Takia, Taqiyya, Taqiyah, Takiyah) ist das bewusste Verstellen des religiösen Glaubens und der Praxis im Falle von Verfolgung. Falls ein Gläubiger durch eine überwältigende Ungerechtigkeit um sein persönliches Wohlbefinden fürchten muss, ist es ihm gestattet, seine wahre Identität zu verstecken.

In der Vergangenheit wurde „Taqiya“ hauptsächlich von schiitischen Muslimen praktiziert, da sie von der sunnitischen Mehrheit aus politischen Gründen verfolgt wurden. Dieses Prinzip erlaubte daher nicht nur passiven oder stillen Widerstand, sondern eine aktive Verstellung der wahren Überzeugungen, um Leben, Eigentum und Religion zu schützen.

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Laut Schiiten fällt die klassische Definition der „Taqiya“ auf Ali zurück, den Vetter und Schwiegersohn des Propheten Muhammad. Die schiitische Gemeinde, die ungefähr 10 bis 20% der weltweiten muslimischen Bevölkerung stellt, ist überzeugt, dass Ali als dem nächsten männlichen Blutsverwandten des Gesandten die rechtmäßige Nachfolge zustand. Er wurde jedoch erst zum vierten Kalifen gewählt und hatte, so die schiitische Auffassung, seinen Vorgängern den Treueid nur geschworen, um sein Leben zu schützen und später dieses Unrecht zu restaurieren.

Den Niederschlag findet die „Taqiya“ im Koran in der Sura 3, Vers 28: „Die Gläubigen sollen die Ungläubigen nicht statt der Gläubigen zu Beschützern nehmen; …es sei denn, als Vorsichtsmaßnahme, um euch vor ihnen zu schützen [oder, aus Angst vor ihnen].“ Demnach hatte dieser Vers keine allgemeingültige Bedeutung, sondern betraf Muslime, die in einem spezifischen Kontext unter Verfolgung litten. Er wird nicht als allgemein bindend betrachtet, da Muhammad selbst enge und gute Beziehungen mit Nichtmuslimen pflegte. Dennoch geschieht es leider oft, dass Koranpassagen in selektiver Weise aus dem Kontext gezerrt und nicht in ihrer Ganzheit betrachtet werden.

Ein weiteres Beispiel aus dem Koran ist Sura16, Vers 106. Dieser bezieht sich auf den Fall eines frühen Muslims namens Ammar, dessen Eltern, anstatt wie ihr Sohn auf ihren Glauben zu verzichten, das Martyrium akzeptierten. Die vorübergehende erzwungene Apostasie des Sohnes wurde dennoch später durch diesen Koranvers verziehen.

Zahlreiche hohe schiitische Geistliche wie Imam Ja’far al-Sadiq (gest.765), Ibn Babawayh (gest.991) oder Shaykh al-Mufid (gest.1022) haben sich Gedanken darüber gemacht, unter welchen Voraussetzungen dieses Prinzip konkret angewendet werden kann. Heute ist Konsens, dass: „Taqiya“ verboten ist, wenn keine Gefahr für das eigene Leben besteht.

Was bedeutet dies nun alles speziell für Deutschland und seine Muslime? Von gesellschaftlichen Diskriminierungen einmal abgesehen, die mittlerweile durch etliche Studien belegt worden sind, genießen alle Muslime weitestgehend Religionsfreiheit. Sie stehen unter keiner direkter Lebensgefahr und haben auch daher keinen Grund und aus religiöser Sicht keine Erlaubnis (!), ihre Standpunkte und Interessen zu verstecken.

Es ist kein Geheimnis, dass Muslime seit geraumer Zeit gesellschaftlich unter Generalverdacht gestellt werden. Daher ist es umso bedauerlicher, dass ausgerechnet Politiker hierbei eine aktive Rolle einnehmen. Die hessische CDU, allen voran der stellvertretende Vorsitzende der CDU-Fraktion Hans-Jürgen Irmer, sind gut beraten, wenn sie sich vorab ausführlicher über die Bedeutungen von islamischen Konzepten informieren, bevor sie dem gesellschaftlichen Miteinander unnötig schaden, indem sie islamophobes Gedankengut verbreiten. Aktuell Meinung

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  1. Konzernpresse und Verfassungsschutz sagt:

    Da kann man uns noch lange mit Weißen-Schnürsenkel-Glatzen-Nazis ablenken, jeder sieht was hier „von oben“ gespielt wird.

  2. Optimist sagt:

    Tut mir leid, aber für mich ist es absolut unvorstellbar, daß ein in der Öffentlichkeit stehendes Parteimitglied eine Äußerung im Bereich einer Religion kundtut, von der er absolut null Hintergrundwissen hat. Da „Taqiya“ ein nicht alltägliches und schon gar kein genuin deutsches Wort ist (ich muss zugeben, bis Irmer hab ich noch nie was davon gehört), bedeutet das, daß sich dieser Hetzer mit der Bedeutung und Herkunft sehr wohl beschäftigt hat. Schon allein deshalb, weil er in der Lage sein muss, bei Rückfragen entsprechende Antworten geben zu können.

    Das bedeutet, daß die allgemeine Darstellung Irmers, daß die bewusste Täuschung Andersgläubiger zum Wesen des Islam gehöre, einem einzigen Zweck dient, nämlich die Untergrabung dieser Religion und die negative Darstellung in der Öffentlichkeit. Denn was einmal ausgesprochen wurde und einem (insb. Islamophoben) besonders in den Kragen passt, um bestehende Ressentiments auszubauen, wird unter Gleichgesinnten kritiklos übernommen, siehe hessische CDU.

    Das wirklich Erschreckende an dieser Sache ist nicht, daß da irgendein Hetzer seinen überflüssigen Bullshit von sich gibt, mit der er die Gesellschaft spalten will, sondern daß die Allgemeinheit von einer repräsentativen Person irregeführt wird und diese ihm zudem noch Rückendeckung gibt. Genausowenig hat mich damals das Buch von Stotterazin tangiert, war ja „nur“ eine Attitüde eines Altnazis im Nadelsstreifen. Das wirklich Schockierende damals war, daß die breite Öffentlichkeit sich hinter ihn stellte. Knapp 80% aller SPD-Mitglieder hatten sich gegen einen Parteiausschluss Sarrazins ausgesprochen. Wenn man überlegt, daß die SPD damals knapp 500.000 Mitglieder hatte (wenn ich mich recht erinnere), dann ist das ein sehr repräsentatives Querschnittsbild. Und das ausgerechnet in der SPD, was ja bekanntlich für Sozialdemokratische Partei Deutschlands steht. Dabei ist die Union noch weiter oder eher rechts als die SPD.

    Was schließlich hängenbleibt, ist das Wort Taqiya. Ein Nichtmuslim, der ohnehin schon Ressentiments gegen den Islam hat, sieht sich in der Aussage Irmers bestätigt, hat somit einen weiteren Grund, die Muslime zu verurteilen.

    „Schließlich hat sich sogar die Partei hinter diese Aussage gestellt, dann muss ja auch was dran sein. Wem glaubt man da eher, den Muslimen, die ihre Religion schön reden, oder einem aussenstehenden Kritiker, der die Sache emotionslos und sachlich analysiert hat“ *Ironie aus*

    Irmer hat sein Ziel erreicht. Genauso wie Sarrazin oder Innemnisnister Friedrich mit seiner nicht repräsentativen Studie, daß über 20% der Muslime Integrationsverweigerer seien. Was einmal ausgesprochen wurde, das steht und ist in den Köpfen der Ahnungslosen verankert. Damit ist klar, was mit „Das wird man doch mal sagen/fragen dürfen“ erreicht wurde. Unter diesem Deckmantel werden wahrscheinlich noch so manche Ungeheuerlichkeiten an den Tag gespült, das ist sicher nicht das Ende vom Lied, da diese Grundhaltung bei vielen Deutschen latent vorhanden ist und diese Haltung von oben herab durch quasi sämtliche Instanzen unterstützt wird.

  3. aloo masala sagt:

    Dieser Migazin-Artikel ist – wenn ich mich recht entsinne – bereits der dritte seit Irmers Äußerung. Alle drei Artikel lassen einen wichtigen Punkt außer acht: Warum ist der Vorwurf der Taqiyya aus dem Dunstkreis der Islamgegner von Politically Incorrect oder eben HJ Irmer so attraktiv? Diese Frage beantwortet Werner Schiffauer in einem Interview in der FR wie folgt treffend:

    Er ist so bereitwillig aufgegriffen worden, weil er alle Integrationsfortschritte von Muslimen diskreditieren kann. Wir sehen bei den religiösen muslimischen Gemeinden ja eine deutliche Öffnungsbewegung in die Mehrheitsgesellschaft hinein. Das können Islamgegner mit dem Globalvorwurf der Taqiyya wunderbar entwerten. Da können die Muslime interreligiösen Dialog anbieten, qualifizierte Curricula für Religionsunterricht entwickeln – und man wird alles wegwischen als angebliche Verstellung.

  4. Danke für das Beispiel, wie man durch einen aus dem Zusammenhang gerissenen Vers ein bestimmtes Bild verbreiten kann. An Ihrer Stelle hätte ich allerdings nicht den Link angegeben, denn so kann man innerhalb von Sekunden feststellen, dass Sie offensichtlich einen äußerst selektiven Lesesstil haben. Ein schlichter Blick auf die beiden Verse vor und hinter dem von Ihnen als „Beleg“ für die Erlaubnis zur Taqiya angeführten Vers zeigen unmissverständlich, dass es sich bei denen, die „Ränke“ schmiedeten nicht um Muslime handelte, die andere mit finsteren Absichten hinters Licht führen wollten, sondern um Anders- bzw. Nichtgläubige, die Pläne machten, wie sie Jesus, Friede sei mit ihm, am effektivsten ans Messer liefern konnten. Auch aus dem Rest des Verses, der besagt, dass Gott solchen Machenschaften überlegen ist, lässt sich beim besten bzw. schlechtesten Willen nicht ableiten, dass Muslime einen Freibrief für Lug und Trug haben.

  5. Songül sagt:

    „….
    Schade, dass wir es hier sagen müssen
    Eigentlich sollte es doch jeder wissen!“

    Sind die letzten zwei Zeilen des Toilettenspruches bei uns auf der Arbeit.
    Sollte Artikeln wie diesen und einigen Kommentaren als Schlussatz angehängt werden.
    Schade, dass Menschen dafür Zeit aufwenden müssen, geistigen Dünnsch… sachlich und argumentativ zu widerlegen.
    Oder muss man bei der hessischen CDU erklären, warum man die Klobürste nutzt?!

  6. Goldene Mitte sagt:

    Bravo Zaynap,

    es tut gut mal besonnene Autoren lesen zu dürfen, die nicht in das Extreme schlittern Weiter so…

  7. Hippokraten sagt:

    Guter Artikel Frau Sayilgan.