Verfassungsschutzbericht 2011

Wie lernen eigentlich Behörden?

Der vom NSU-Skandal erschütterte Verfassungsschutz stellt seinen jährlichen Bericht vor – ähnlich wie im Vorjahr und die Jahre davor auch. Neu ist nur die NSU, sonst scheint sich nicht viel getan zu haben.

Es ist bitter: Da sitzt Heinz Fromm, der scheidende Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, auf der Pressekonferenz zum Verfassungsschutzbericht 2011 in Berlin und sagt als Bilanz seiner Karriere: „Ich habe mich auf meine Mitarbeiter immer verlassen – und verlassen können.“ Und alle im Saal wissen, dass zumindest Letzteres nicht stimmt. Lernprozesse daraus finden aber offenbar eher langsam statt: So gibt es offiziell wieder einmal keine Todesopfer rechtsextremer Gewalt – wo doch auch 2011 zwei zu beklagen waren.

„Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat viele Erfolge errungen – aber nun wird alles überlagert durch diese unglückselige Angelegenheit“, sagt Heinz Fromm, scheidender Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Es ist ein schwerer Termin, denn Fromm muss hier – als letzte offizielle Amtshandlung – über das Jahr berichten, in dem klar wurde, dass seine Behörde zumindest im Bereich Rechtsextremismus in den letzten zehn Jahren massiv versagt hat. Trotzdem ist es ein zynischer Satz, immerhin mussten zehn Menschen sterben wegen der „Angelegenheit“. Haben die Behörden denn wenigstens etwas gelernt aus ihren massiven Fehleinschätzungen der Gefahr rechtsextremer Gewalt? Es macht leider nicht den Eindruck.

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„Misserfolge“ und „unglückselige Angelegenheiten“
Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CDU) möchte sich ebenfalls vor den Verfassungsschutz stellen, um ihn nicht in Frage gestellt zu sehen. Er sei ein unverzichtbarer Pfeiler für das Sicherheitssystem der Bundesrepublik Deutschland. Ein Pfeiler, der mit Bekanntwerden des Rechtsterrorismus der NSU einen „Misserfolg“ erlitten habe, so nennt es Friedrich. Aber seitdem sei ja viel passiert, meint der Innenminister: Es gibt nun ein gemeinsames Abwehrzentrum aller Behörden, die letzte Woche beschlossene Verbunddatei über rechtsextreme Straftäter*innen. Da könne und müsse man sich mit der Reform des Verfassungsschutzes Zeit lassen. Ideen sammeln bis zum Herbst, und dann langsam mal angehen. Gestärkt soll der Verfassungsschutz werden, nicht verkleinert, nicht zentralisiert.

Wie geht es denn dem „Extremismus“ in Deutschland?
Dann gehen Fromm und Friedrich zum Bericht über, dessen Erkenntnissen und Zahlen sie als absolut „belastbar“ präsentieren – obwohl spätestens nach der Entdeckung der rechtsextremen Terrorzelle „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) im vergangenen Jahr für alle Welt sichtbar wurde, dass der Verfassungsschutz im Bereich Rechtsextremismus zumindest teilweise nicht viel Ahnung hat.

Was schon in der Präsentation klar wird: Dem Islamismus trauen die deutschen Sicherheitsbehörden einiges zu. Da gäbe es strategische Vielfalt, Kontakte ins Ausland, autonom agierende Kleingruppen, eine sich dynamisch entwickelnde Szene, aber auch Einzeltäter*innen, die sich etwa von Propaganda im Internet zu Gewalttaten inspirieren lassen.

Was machen die Nazis?
Wer aber meint, dass diese Entwicklungen auch im rechtsextremen Bereich festzuhalten wären, hat eine andere Wahrnehmung als Fromm und Friedrich. Die freuen sich hier nämlich schon darüber, dass jetzt endlich einmal Daten ausgetauscht werden zwischen dem BKA, das personenbezogen ermittelt, und dem Verfassungsschutz, der sich mehr um Strukturen bemüht. Ansonsten sehen sie ein „abnehmendes rechtsextremes Personenpersonal“ (von 25.000 in 2010 auf 22.400 in 2011). Diese Erkenntnis resultiert aus der Tatsache, dass die rechtsextremen Parteien NPD und DVU auch 2011 weiter Mitglieder verloren haben. Das heißt aber lediglich, dass diese Menschen nun für den Verfassungsschutz weniger gut zu zählen sind – nicht aber, dass sie ihre Gesinnung geändert haben. Dafür, so schätzen die Verfassungsschutzämter, gibt es mehr gewaltbereite Rechtsextreme (9.800 statt 9.500 in 2010) und Neonazis (Mitglieder rechtsextremer Gruppierungen, 6.000 statt 5.600 in 2010). Es wächst also der Teil der Szene, der unberechenbar und gefährlich ist.

Als neue „Straßenaktionsform“ werden die konspirativ organisieren, unangemeldeten „Unsterblichen“ Aufmärsche angeführt. Außerdem versuche die NPD nun, mit Islamfeindlichkeit zu punkten, und trete so in Konkurrenz mit den RechtspopulistInnen von „Pro Deutschland“, die als „Verdachtsfall“ in den Verfassungsschutzbericht aufgenommen wurden.

Todesopfer rechtsextremer Gewalt gibt es offiziell wieder einmal keine. Weniger offiziell gab es allerdings zwei: Am 27. März 2011 wurde des vietnamesische Wohnungslose Duy-Doan Pham in Neuss (NRW) von zwei Rechtsextremen zu Tode geprügelt, am 27. Mai 2011 der wohnungslose André K. in Oschatz (Sachsen). Aber der Verfassungsschutz verlässt sich bei Straftaten und Todesfällen auf die Meldung der aufnehmenden PolizistInnen zum Tatmotiv. Dass die wahre Motivation oft erst im Gerichtsverfahren zutage tritt, spielt für die Statistik keine Rolle mehr. Hier wird allerdings bisher nichts reformiert.

Haben der Bundesinnenminister und sein Verfassungsschutz-Chef Angst vor NSU-Nachahmungstätern? „Die Gewaltbereitschaft von Rechtsextremen war schon immer klar und zweifellos erkennbar“, sagt Friedrich, „aber man weiß nie, wann das in Terrorismus umschlägt. Deshalb müssen wir wachsam sein.“ Mehr Sorgen machen Friedrich die Gewalt zwischen politischen Gegner*innen von Links und Rechts, die gewachsen sei, und die Gewalt gegenüber PolizistInnen. Zurück bleibt beim Betrachtenden der Wunsch, dass der Verfassungsschutz effektiv reformiert werden möge unter seinem neuen Leiter Hans-Georg Maaßen, der heute vom Bundeskabinett benannt wurde. Und die Angst, dass dies nicht oder nur schleppend passieren wird.