Anja Hilscher, Migazin, Autorin, Muslima, Islam, Religion
Anja Hilscher © privat, Zeichnung: MiG

Fragen

Wer sind wir wo – und wenn ja, warum?

Warum wir Muslime uns Abendländern mittels geistigen Tritts in den Hintern behilflich sind, unserer selbst verschuldeten Unmündigkeit zu entkommen.

Von Montag, 16.07.2012, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Samstag, 30.04.2022, 13:25 Uhr Lesedauer: 9 Minuten  |  

Warum sind Sie, lieber Leser, eigentlich „Muslim“? Oder auch: Warum sind Sie Christ? Oder Atheist? Nicht alle Angehörigen von Religionen oder Ideologien haben jemals darüber nachgedacht, warum sie glauben zu sein, was sie sind. Oder zu sein glauben. Umgekehrt gibt es allerdings auch viele Leute, die ziemlich oft darüber nachdenken -allerdings mit eher dürftigem Erfolg. Sicher haben Sie irgendwo schon mal gehört oder gelesen, dass das menschliche Bewusstsein nicht mehr ist, als die sichtbare Spitze eines Eisberges. Selbst Menschen mit viel psychologischem Fachwissen und sogar solche mit echter Selbsterkenntnis sind selten imstande, mehr von sich zu ergründen als ein kleiner, mies ausgerüsteter Trupp von Eisberg-Forschern, der in einem kleinen Kahn um das Ding herumschippert. Ab und zu steckt einer dieser Forscher seinen Kopf vielleicht unter die Wasseroberfläche und erkennt, dass da unten irgendwie noch ziemlich viel ist – aber mehr nicht.

Wann ist man überhaupt Muslim, Christ, Kommunist oder sonst was? Wenn einem irgendwann mal ein älterer Herr eine Handvoll Wasser über den Kopf geschüttet hat? Wenn man irgendeine Beitrittserklärung unterschrieben hat? Wenn man in Teheran oder Kuba geboren ist? Wenn man bei irgendeiner Gelegenheit mal lauthals ein paar arabische Worte gesagt hat (auch, wenn man sie vielleicht entweder nicht verstanden hat oder den Inhalt nicht glaubt)? Wenn einem die Eltern einen früher regelmäßig in ein bestimmtes Gotteshaus mitgeschleppt haben, wo man sich ebenso regelmäßig langweilte? Wenn alle guten Freunde dieselbe Weltanschauung haben, also sozusagen aus Solidarität? Wenn der Rest der Welt behauptet, man sei dies oder jenes? Muss man sich in den entsprechenden Versammlungsorten eigentlich unbedingt wohlfühlen, um zu der entsprechenden Gemeinde o.ä. zu gehören? Und was passiert eigentlich, wenn all dies zueinander im Widerspruch steht? Was bin ich eigentlich, wenn ich mich in einer protestantischen Kirche sehr wohl fühle, obwohl ich aussehe wie ein „Muslim“ (wie immer nun ein „Muslim aussieht“) und im tiefsten Herzen ein Atheist bin? Was wird eine Person X, gefragt nach ihrer Weltanschauung, dann höchst wahrscheinlich antworten?

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Zäumen wir das Pferd lieber von hinten auf! Ich will ihnen sagen, was sie höchst wahrscheinlich nicht antworten wird:

Antwort 1: „Ich bin ein islamisch erzogener und ‚muslimisch aussehender’ Mensch, der sich in der protestantischen Kirche zu Hause fühlt, obwohl er im Herzen Atheist ist.“

Antwort 2: „Ich bin Atheist.“

Antwort eins würde ein Maß an Selbstreflexion voraussetzen, dass nur ein austherapierter Großstadtneurotiker à la Woody Allen hat, und selbst dann würde ich einer solchen Selbsteinschätzung noch mit großem Misstrauen begegnen. Wie gesagt – so ein Eisberg ist wirklich ziemlich riesig! Genau deshalb gilt der Mann ja als austherapiert. Antwort zwei ist auch sehr unwahrscheinlich, denn die allermeisten Menschen sind viel stärker von Emotionen und Fremdzuschreibungen abhängig, als sie meinen. Ich weiß – es nagt ziemlich am Selbstbewusstsein, aber Tatsache ist, dass der abendländische Durchschnittsbürger keineswegs mündiger in seinem Denken ist als eine persische Haremsdame des sechzehnten Jahrhunderts, nur weil Kant einen deutschen Pass hatte.

Mit der Religionszugehörigkeit ist es wie mit der Aufgeklärtheit. Theoretisch eine klare Kiste. Praktisch eher nicht so. Theoretisch würde der aufgeklärte Normalbürger, vor allem, wenn er protestantisch geprägt ist, antworten: „Ausschlaggebend ist mein Glaube. Nichts anderes!“ Praktisch dagegen gibt es mit Sicherheit Tausende von Mitbürgern, die sich im Brustton der Überzeugung als „Muslim“ oder „Christ“ bezeichnen, obwohl sie, wenn sie einen kurzen Augenblick innehielten, (was unwahrscheinlich ist!) zu der Erkenntnis kämen, dass sie überhaupt nicht an die christliche oder islamische Lehre glauben. Abgesehen von der Tatsache, dass das mit dem Ganz-Fest-Glauben auch so eine Sache ist. Jeder überhaupt irgendwie gläubige Mensch weiß ganz gut, wovon ich hier spreche: Die Umgebung färbt ab. In einer durch und durch materialistischen Welt zu leben, ohne jemals an Gott zu zweifeln, ist wohl praktisch unmöglich.

Eine Bekannte von mir gab auf die Frage nach ihrer Religionszugehörigkeit eine Antwort, die mich damals schier aus den Latschen kippte: „Als ich noch in Chile wohnte, war ich Sieben-Tags-Adventistin!“ Auf die Frage, was die Religionszugehörigkeit denn mit dem Wohnort zu tun habe, erklärte sie, dass sie während ihrer Kindheit in Chile gezwungen war, jeden Samstag die adventistische Kirche zu besuchen. Die Adventisten haben nämlich ihren Gottesdienst am Samstag. Seit sie nicht mehr regelmäßig in die adventistische Kirche gehe, betrachte sie sich eben nicht mehr als Adventistin. Punktum. Im Prinzip völlig normal. Mich hatte an der Antwort nur irgendwie schockiert, dass sie offensichtlich überhaupt nicht in Betracht zog, dass man zumindest theoretisch doch eine eigene, individuelle Glaubensüberzeugung haben kann, obwohl man von Siebten-Tags-Adventisten, Atheisten oder Muslimen umzingelt ist. Und dass es sogar ein Ideal sein sollte, irgendwann mal ein Individuum zu werden…

Inzwischen kann ich die Antwort aber besser nachvollziehen. Tatsache ist nun mal – und dem trägt auch die islamische Lehre Rechnung – dass weder ein echtes „Gewissen“ noch Mündigkeit und persönliche Reife etwas ist, dass mit der Muttermilch aufgesogen wird. Auch nicht, wenn man im „aufgeklärten“, christlichen Abendland lebt. „Was du ererbt von deinen Vätern -“ sagte Goethe, „Erwirb es, um es zu besitzen!“ Es ist also vielmehr etwas, das man sich erarbeiten muss. Es ist ein völlig realitätsfernes Ideal, zu meinen, der Inhalt (also der persönliche Glaube) könne, unbeeinträchtigt von der Umgebung, ohne Form existieren, blühen und gedeihen. Das heißt natürlich nicht (wie gerne unterstellt wird), der Islam würde die Entwicklung einer Individualität bekämpfen. Er lehrt lediglich, dass es eben eine Entwicklung ist, in der es auch nicht alle Menschen gleich weit bringen.

Ich persönlich halte mich, offen gestanden, nicht für eine der völlig unreflektierten Dumpfbacken, die nicht mal merken, dass sie gar nicht wissen, was sie glauben. Trotzdem – viele Christen werden dieses Geständnis ziemlich gruselig finden – gebe ich zu: Im Ramadan oder in der Moschee, wo auch außen viel „Islamisches“ um mich rum ist (zum Beispiel irgendwie so türkisches oder arabisches Gedöns, ich bin da nicht wählerisch …), bin ich regelmäßig gläubiger. Ist das schlimm? Ist es lächerlich? Gefährlich? (Die Moscheen, die von potentiellen Terrorattentätern besucht werden, sehen äußerlich betrachtet, ja genauso aus. Vermute ich zumindest …) Oder ist es nur menschlich? Gibt es überhaupt eine spirituelle Stufe, wo ich als ständig lächelnder (muslimischer) Buddha, unbehelligt von Versuchungen und Anfeindungen, durch atheistische Straßen wandele? Keine Ahnung. Fest steht, dass der Islam davon ausgeht, dass (wenn überhaupt) nur ein mikroskopisch kleiner Prozentsatz von Menschen eine solche Stufe je erreichen wird. Im Islam sind wir bekanntlich nur Menschen, keine Buddhas, und demzufolge wird auch nichts Übermenschliches von uns erwartet.

Ein bisschen Küchenpsychologie reicht, um zu wissen: Je weniger weit ich in der Entwicklung meiner Persönlichkeit, meines individuellen Weltbildes bin, desto mehr verunsichern mich Menschen, die ein anderes haben. Nachvollziehbar ist, dass ich mich da freue, wenn diese Menschen so nett sind, mir dieses fremde Weltbild nicht tagtäglich unter die Nase zu reiben. Übrigens gilt das auch für Muslime, die ja auch mit Kirchengeläut, Weihnachtsfeiern und in Schulen und Krankenhäusern zuweilen an der Wand hängenden Kreuzen klarkommen müssen. Es erscheint seltsam, dass nichtmuslimische Europäer sich von dem bisschen Islam, was hier inzwischen sichtbar ist – also ein paar Kopftüchern und einigen Dutzend Moscheen, die als solche auch erkennbar sind – zunehmend verunsichern lassen. Ein faszinierendes Phänomen. Manchmal ist selbst Menschen, die eher Querdenker und gegen den Strom zu schwimmen gewohnt sind, ihre völlig irrationale, dafür umso deutlichere Aversion gegenüber dem Islam an der Nasenspitze abzulesen. Es ist übrigens dringend an der Zeit, für diese Leute, die nicht in die Kategorie der Neonazis oder Konservativen passen, eine neue politische Partei zu gründen. Selbst eine Bekannte, die sich bis dato als Atheistin bezeichnet hatte, wollte sich plötzlich mit dem „lieben Gott“ wieder anfreunden. Prinzipiell ja eher positiv zu bewerten… Es reicht allerdings nicht, den Islam doof zu finden, um sich als Christ bezeichnen zu können. Finde ich zumindest, und viele wirklich gläubige Christen werden mir da wohl zustimmen. Und der liebe Gott sicher auch.

Der Islam gilt als Synonym für Unaufgeklärtheit, obwohl es der Koran ist, der konstatiert, dass der Mensch einzig mit Hilfe von Verstand und Gewissen (Sure 91) zur Erkenntnis gelangen kann. Ebenso wie Kant lehrt auch der Islam, dass der Wert einer Handlung einzig durch die Absicht (Niyat) bestimmt wird. Die Muslime, nicht der Islam bedarf der Aufklärung!

Der Individuationsprozess ist aber in Wirklichkeit auch bei den meisten nichtmuslimischen Normalbürgern noch nicht so immens weit fortgeschritten. Dem inzwischen leicht eingestaubten kategorischen Imperativ zum Trotz – und das ist eigentlich verdammt peinlich! (Die aus diesen Worten möglicherweise heraus hörbare Häme möge man mir, einer Angehörigen einer wenig beliebten, diskriminierten Minderheit, bitte nachsehen. In Wirklichkeit bin ich gar nicht so …) Die Wahrheit ist: Die christlich-abendländische Mehrheitsgesellschaft sollte auf der Hut sein, dass die wesentlich „trainierteren“ abendländischen Muslime, die sich tagtäglich genötigt sehen, über sich selbst, ihre Motive und ihr Weltbild nachzudenken, ihnen in Sachen „Mündigkeit“ und „Aufgeklärtheit“ nicht bald um Einiges voraus sind. Dieser Fall wird nur dann nicht eintreten, wenn die Mehrheitsgesellschaft die Herausforderung, die die Präsenz des Islams in Europa darstellt, annimmt. Und zwar im positiven Sinne. Die Verunsicherung durch das Fremde kann – das trifft auf Muslime und Nichtmuslime gleichermaßen zu – zur Folge haben, dass man mauert. Sich also, um dem Anderen etwas entgegenzusetzen, plötzlich aus Angst blind auf verstaubte Traditionen besinnt, die man sich als „eigene Werte“ schön redet. Das ist übrigens genau das, was auch die muslimischen Fanatiker tun. Die positive Reaktion wäre dagegen eine, die konstruktiv und kreativ ist und nicht zur Abschottung, sondern zum Bau von Brücken führt.Sich in Maßen vom Fremden verunsichern, neue Ideen an sich ran zu lassen, hilft uns, ein Gewissen zu entwickeln und Selbsterkenntnis zu erlangen. Selbsterkenntnis wiederum ist unverzichtbar, wenn wir herausfinden wollen aus der „selbst verschuldeten Unmündigkeit“. Da dürften Allah, Kant Küchenpsychologen sich ziemlich einig sein… Aktuell Meinung

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  1. Couperinist sagt:

    Ich glaube persönlich nicht, dass man eine Religion, die aus einem anderen Kulturkreis stammt, wirklich begreifen und sich „überstülpen“ kann, weil Religionen nicht aus dem Nichts zufällig irgendwo entstanden sind.

    Der Islam, wie auch das frühe, vor-romanisierte Christentum, ist durch und durch orientalisch von seiner ganzen Weltauffassung. Das Individuum als unabhängige Größe hat in diesem Kulturkreis – und das meine ich nicht wertend – kaum eine Bedeutung. Die Integrität von Familie, Stamm und Umma sind die Prinzipien, die am schwersten wiegen.
    Der Einzelne findet seine Bestimmung, indem er sich ganz und gar Gott hingibt und in der Gemeinschaft der Gläubigen aufgeht, das ist ja praktisch sogar die Definition von Islam. Das Schicksal des Einzelnen ist mit Gott identisch.

    Das Abendland, demgegenüber, hatte und hat einen anderen Begriff von Gott, der Welt und dem Schicksal, wie jede Kultur eine andere hat. Die Reformation Luthers bspw. war eine abendländische (individualistische) Reaktion auf das eigentlich fremde Christentum: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“.

    Und diese metaphysische Notwendigkeit des Individuums im Abendland zieht sich von den frühen Gralsritter- und Drachentöter-Sagen über Hamlet und Faust bis zur Gattung der Porträtmalerei und des biographischen Romans. Das „Ich im Unendlichen“ ist der Dreh- und Angelpunkt aller westlichen Kunst, Kultur, Religiosität und Weltauffassung.

    Du wirst das sicher anders sehen, aber ich glaube nicht dass Du „wirklich“ den Islam in seiner Notwendigkeit nachvollziehen „kannst“. Das „Religions-Hopping“ in westlichen Ländern heutzutage ist eher in einem Verschwinden traditioneller Verankerung begründet und damit mit dem spätrömischen Synkretismus vergleichbar.

    Wie siehst Du das ?

  2. Koray sagt:

    @Couperinist, die Notwendigkeit des Islams begründet sich durch die unterschiedlichen Fähigkeiten des Menschen Ordnung und Einheit G-ttes zu erkennen.
    Man muss ja nicht unbedingt Muslim sein um G-tt zu gefallen, Christen, Juden können genauso ins Paradies kommen.
    Ein Mensch kann sogar die Einheit G-ttes und seine Ordnung erkennen,
    einfach nur aus seiner Begabung heraus, aber nicht jeder kann das, deshalb
    “ wurde der Koran herabgesandt damit sie in der Mosche beten und sich dementsprechend zu Hause verhalten“.

  3. Beobachter sagt:

    Was soll das sein, die „Einheit Gottes“?

    So etwas kann man doch nur postulieren wenn man von der Prämisse ausgeht das Gott gespalten ist? Sehr merkwürdig.